In den Jahren 2019 und 2020 erschütterten die Anschläge in Halle und Hanau die deutsche Öffentlichkeit. Sowohl der Angreifer von Halle, Stephan Balliet, als auch der Hanauer Attentäter, Tobias Rathjen – der seine Mutter und sich selbst nach seinem Amoklauf erschoss –, haben bzw. hatten eine von Antisemitismus und Rassismus durchzogene Weltsicht. Kurz nach dem Anschlag in Hanau traf die Corona-Pandemie auch die Bundesrepublik Deutschland mit voller Wucht und steigerte noch einmal die öffentliche Sichtbarkeit von Antisemitismus, u. a. in Form von Verharmlosung des Nationalsozialismus oder sogar der Leugnung des Holocausts. So trugen Demonstrierende gegen die Corona-Politik der Bundesregierung gelbe Sterne mit den Aufschriften »Ich bin ein Impfgegner« oder »Ungeimpft«. Zudem waren bei diversen Kundgebungen Schilder zu sehen, auf denen Parolen wie »Ausgangsbeschränkungen sind sozialer Holocaust« oder »Maske macht frei« standen.[1] Der frühere TV-Koch Attila Hildmann wiederum, inzwischen einer der Wortführer der Corona-Verschwörungstheoretiker, sprach von den Rothschilds, die die Weltbank regierten.[2] Die jüdische Bankiersfamilie Rothschild steht hier (und allgemein) stellvertretend für »die Juden« als Feindbild. Das Wort »Juden« vermied Hildmann – wohl um nicht strafrechtlich belangt werden zu können.[3] Der Antisemitismus in seiner Aussage wird dadurch aber nicht geringer. Auch angesichts dieser Geschehnisse sprach der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, Ende Dezember 2020 von einem »deutlich enthemmteren Antisemitismus in Worten […], wie ich ihn mir vor einigen Jahren nicht vorgestellt habe«[4].

Abb. 1: Tagungsort Kloster Banz

 

Antisemitismus im Rechtsextremismus, in Berlin und bei Christen sowie Muslimen

Als Oliver Hidalgo vom Arbeitskreis »Politik und Religion« der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und Philipp W. Hildmann von der Hanns-Seidel-Stiftung zu Beginn des Jahres 2020 eine Tagung über Antisemitismus für September 2020 planten, konnten sie noch nicht wissen, wie virulent das Thema werden sollte. Kurz bevor die zweite Corona-Infektionswelle zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lockdown führte, konnte die Tagung im kleinen Kreis und unter Einhaltung von sehr hohen Hygienestandards am 18. und 19. September 2020 im Kloster Banz im fränkischen Bad Staffelstein stattfinden. »An allem sind die Juden schuld!« – mit dieser auf Friedrich Hollaender zurückgehenden Liedzeile aus dem Jahr 1931 führte Philipp W. Hildmann in seinen Eröffnungsbeitrag der Tagung ein. Die Wege vom Sagbaren zum Machbaren seien wieder kurz geworden, so Hildmann, der seine nicht vorhandene Verwandtschaftsbeziehung zu Attila Hildmann eigens hervorhob.

Nachdem auch Hidalgo die Konferenz in den aktuellen Kontext eingeordnet hatte, folgte der erste Vortrag: Gideon Botsch, Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus (EJGF) an der Universität Potsdam, sprach zum Thema »Rechtsextremismus und ›neuer Antisemitismus‹«. Antisemitismus sei ein zentrales Kennzeichen von Rechtsextremismus, so Botsch. In der um die Jahrtausendwende einsetzenden Diskussion um einen »neuen Antisemitismus« komme der Rechtsextremismus jedoch praktisch nicht vor; im Zentrum der Debatte stünden der Nahostkonflikt und die darin getätigten judenfeindlichen Äußerungen von Muslimen. Botsch benannte in seinem Vortrag folglich ein Defizit an empirischer Forschung zu rechtsextremem Antisemitismus. Wandlungsprozesse im Antisemitismus von Rechtsextremen würden nicht ausreichend untersucht. Im weiteren Verlauf seines Vortrags stellte Botsch mehrere Beispiele für rechtsextremen Antisemitismus aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vor, darunter Gedenkstättenschändungen in Berlin durch den Rechtsterroristen Ekkehard Weil im Jahr 1989. Er ging aber auch auf aktuelle Entwicklungen ein, wie etwa den Antisemitismus der QAnon-Bewegung und des Anführers der Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner. In dem Gespräch, das auf seinen Vortrag folgte, betonte Botsch, dass er Antisemitismus auch für den intellektuellen Rechtsextremismus (die sogenannte Neue Rechte) als konstitutiv ansehe.

Im Anschluss referierten Selana Tzschiesche vom Projektteam Berlin-Monitor an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, zum Thema »Antisemitismus in Berlin? Verbreitung, Betroffenenrelevanz, Gründe und Aktivierungspotential«. Sie stellten die Ergebnisse einer Studie vor, die im Jahr 2020 Antisemitismus aus der Perspektive von Betroffenen aus Berlin untersucht hat. Ausgangspunkt war eine im Jahr zuvor realisierte Erhebung, die sich mit antisemitischen Einstellungen in der Berliner Stadtgesellschaft befasst hatte. Tzschiesche und Pickel gingen u. a. darauf ein, wie die Gesprächspartnerinnen und -partner selbst Antisemitismus erleben und wie sie über Maßnahmen der Antisemitismusprävention nachdenken.[5]

Der Leipziger Soziologe Alexander Yendell sprach anschließend über »Antisemitismus bei Christen und Muslimen«, wobei er eingangs betonte, dass die Datenlage schlecht sei, wenn es darum gehe, sich einzelne Religionsgemeinschaften bzw. Konfessionslose anzuschauen. Der KONID Survey 2019[6] habe aber die Möglichkeit eröffnet, antisemitische Einstellungen zu messen. Ein Ergebnis sei gewesen, dass Antisemitismus unter Muslimen verbreiteter ist als unter Christen und Konfessionslosen, zwischen denen es keine nennenswerten Unterschiede gegeben habe. Damit konnte der KONID Survey einen Befund anderer Untersuchungen[7] zu gruppenbezogenen Vorurteilen bestätigen. Zur Erklärung von antisemitischen Ressentiments führte Yendell an, dass ein Zusammenhang zwischen Erziehungserfahrungen und antisemitischen Vorurteilen bestehe. So korrelierten Kontrollen durch die Eltern und harte Strafen mit Antisemitismus.[8]

Journalistische und politische Perspektiven auf Antisemitismus

Per Video war der Journalist Richard C. Schneider zugeschaltet, dessen Vortragsthema »Corona und all die anderen Probleme dieses Landes – Der Jude als das Böse an sich« lautete. Den Ausgangspunkt seiner Ausführungen bildete die Unterscheidung zwischen Rassismus und Antisemitismus. Während beim Rassismus der Blick von oben nach unten gehe – »der andere« sei der minderwertige –, sei der Blick beim Antisemitismus nach oben gerichtet: »Der Jude«, so Schneider, werde als das Böse schlechthin gesehen; Juden würden als vermögender, als mächtiger etc. gelten. Diese These von der Allmacht der Juden sei eine uralte Tradition, die im Leben eines Juden stets präsent sei. An mehreren, auch aus seinem eigenen Leben stammenden, Beispielen zeigte Schneider auf, wie sich dieser Antisemitismus konkret äußert. In Zeiten von Corona hätten einige Menschen wieder einen Schuldigen gefunden: Israel, so werde behauptet, habe das Virus in die Welt gesetzt, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Donald Trump habe diese These noch befeuert, indem er Personen aus seinem Umfeld, die sie vertreten hätten, nicht zurechtgewiesen habe.

Wie Antisemitismus bekämpft werden kann, zeigte Ludwig Spaenle in seinem Tagungsbeitrag auf. Spaenle, ehemaliger Bayerischer Staatsminister und seit Mai 2018 Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, berichtete von seiner Empfehlung an staatliche Institutionen, Verbände und Vereine, der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)[9] zuzustimmen. Etwa hundert von ihnen hätten die Definition inzwischen diskutiert und angenommen. Spaenle betonte zudem, dass Wissen ein Mittel gegen Judenhass sei. Spezielle Hilfestellungen für Lehrerinnen und Lehrer sowie passgenauere Angebote für Schulen seien notwendig, da sich die Lehrkräfte oft überfordert fühlten. Auch in der Wissenschaft sah der bayerische Antisemitismus-Beauftragte Handlungsbedarf: Es werde zwar viel zu Antisemitismus geforscht, aber die Frage, wie die Erkenntnisse didaktisch vermittelt werden könnten, komme zu kurz.

Neuere Entwicklungen des Antisemitismus

Auf Spaenles Vortrag folgte ein Beitrag der Göttinger Politikwissenschaftlerin Dana Ionescu, die ihn pandemiebedingt auf Video aufgezeichnet hatte. Ihr Thema waren »Neuere Tendenzen im Antisemitismus: Wie die jüdische Religion und kulturell-religiöse Alltagspraktiken von Jüdinnen und Juden wieder ins Zentrum rücken«. Dies zeigte Ionescu zunächst exemplarisch an der Vorhautbeschneidung von männlichen Säuglingen und Jungen auf, die ein zentrales Symbol für die Zugehörigkeit zum Judentum sei und in den letzten Jahren für Kritik gesorgt habe. Ionescu präsentierte in diesem Zusammenhang Ergebnisse ihrer 2018 veröffentlichten Doktorarbeit, in der sie die Argumentationen der Beschneidungsgegnerinnen und -gegner in Deutschland analysiert und die jeweiligen Judenbilder rekonstruiert.[10] Unter anderem konnte sie zeigen, dass bestimmte Artikel in auflagenstarken Tageszeitungen die diskursiven Bedingungen für antisemitische Äußerungen in Online-Kommentaren schufen. Ionescu erwähnte beispielsweise das Stereotyp des kriminell angelegten Juden: Es sei die Rede von Juden gewesen, die durch die Vorhautbeschneidung Verbrechen an Kindern begingen. Neben der Vorhautbeschneidung stellte Ionescu in ihrem Vortrag das Schächten als Alltagspraktik im Leben von Jüdinnen und Juden vor. Beim Schächten, für das mittlerweile in mehreren Ländern (darunter Island, Norwegen und große Teile Belgiens) ein Verbot gilt, sei in Deutschland eine weniger aufgeladene Kontroverse als bei der Beschneidung festzustellen. Dennoch lasse sich auch in der Berichterstattung über das Schächten und den Kommentaren dazu die Reaktivierung eines klassischen Stereotyps ausmachen: Die Juden seien rückständig, tierquälerisch, verbrecherisch und würden sich nicht in die Gesellschaft integrieren. Als Fazit hob Ionescu hervor, dass die sogenannte gesellschaftliche »Mitte« ein zentraler Akteur in den beiden Kontroversen über Beschneidung und Schächten sei.

Die Dinner Speech hielt Samuel Salzborn zum Thema »Globaler Antisemitismus. Entwicklungen seit 9/11«. Salzborn, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und seit August 2020 Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus, bezeichnete die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 als einen Wendepunkt in der Entwicklung des Antisemitismus, da vor allem islamistische Kräfte seitdem versucht hätten, die Weltordnung unter antisemitischen Prämissen zu verändern. Eines der Kennzeichen dieser antisemitischen Revolution sei die Entgrenzung, d. h. dass sich eigentlich verfeindete Gruppen in einem Punkt treffen – dem antiisraelischen Antisemitismus. Als ein Beispiel hierfür nannte Salzborn Demonstrationen, die im Sommer 2014 stattfanden: Unter Federführung von palästinensischen Organisationen seien in zahlreichen deutschen Städten Antisemiten jeder Couleur gemeinsam auf die Straße gegangen – islamistische Antisemiten, Neonazis und linke Antiimperialisten. »Sind die Antiimperialist(inn)en auch nur ein marginaler Flügel in der deutschen Linken – die Mehrheit steht nach wie vor in Opposition zum Antisemitismus – so zeigt das Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemitische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle anderen weltanschaulichen Differenzen zurücktreten«, so Salzborn an anderer Stelle.[11]

Antisemitismus aus der Sicht des Zentralrats der Juden

Der zweite Tagungstag begann mit einem Morgengespräch, zu dem der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, nach Banz gekommen war. Bevor er Fragen von den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern beantwortete, ging Schuster auf die gegenwärtige Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland ein. Das Attentat von Halle sei ein erheblicher Einschnitt im Vertrauen der jüdischen Bürgerinnen und Bürger in die Bundesrepublik gewesen. Schuster bezeichnete es in diesem Zusammenhang als »unverzeihlich«, dass die Synagoge in Halle nicht von der Polizei geschützt worden war. Die Koffer der Jüdinnen und Juden in Deutschland blieben zwar weiterhin ungepackt, aber der eine oder andere schaue jetzt durchaus, wo der leere Koffer stehe, so Schusters eindringliches Bild. Dafür, dass antisemitische Äußerungen zugenommen haben und salonfähig geworden sind, machte Schuster auch »Funktionsträger der AfD« verantwortlich. Darüber hinaus betonte der Zentralratspräsident noch, dass Lehrkräfte häufig nicht wüssten, wie sie im Klassenverband mit rassistischen und antisemitischen Äußerungen umgehen sollten. Hier müsse dringend Abhilfe geschaffen werden. Daneben sah Schuster im Bereich der Justiz eklatante Mängel. So kritisierte er, dass keine strafrechtlichen Ermittlungen aufgenommen worden seien, nachdem die rechtsextreme Partei »Die Rechte« während des Europawahlkampfes 2019 in Dortmund mit einem Plakat geworben hatte, auf dem »Israel ist unser Unglück!« stand.[12] Ähnliches habe sich in Wuppertal zugetragen: Einen Anschlag auf die dortige Synagoge mit Molotowcocktails im Jahr 2014 hätten zwei Gerichte als Sachbeschädigung eingestuft, nicht als antisemitischen Akt, so Schusters Kritik. Ein Fortschritt sei aber, dass die Grundsätze der Strafzumessung[13] in § 46 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) um antisemitische Beweggründe erweitert wurden. Auch die Etablierung von Antisemitismusbeauftragten bei den Generalstaatsanwaltschaften könne positiv gesehen werden. Alles in allem, so Schusters Fazit, brauche man kein Krisenszenario aufmachen, dürfe sich aber auch nicht zurücklehnen.

Religiöser Antisemitismus und Antisemitismus beim Rassemblement National

Die Tagung ging mit dem Vortrag von Gert Pickel und Cemal Öztürk zum Thema »›Importierter‹ Antisemitismus? Über die empirische Evidenz einer islamisierten Judenfeindschaft und eine Problematisierung der Selbstinszenierung einer vom Antisemitismus geläuterten deutschen Mehrheitsgesellschaft« weiter. Pickel und Öztürk (Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana Universität Lüneburg) beschäftigten sich mit muslimischem bzw. islamisiertem Antisemitismus, der unterschiedliche Hintergründe habe, darunter die dogmatisch-fundamentalistische Auslegung der eigenen Religion, autoritäre Einstellungen und fehlende soziale Anerkennung. Die AfD instrumentalisiere Antisemitismus, indem sie ihn muslimischen Einwandererinnen und Einwanderern zuschreibe. Als Beispiel hierfür zeigten Pickel und Öztürk ein Plakat von Alice Weidel aus dem Jahr 2018, auf dem es heißt: »Der muslimische Antisemitismus bedroht jüdisches Leben in Europa!«. Anlass für diesen Ausruf war die brutale Ermordung der 85-jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll in ihrer Pariser Wohnung. Der antisemitische Hintergrund der Tat war rasch bestätigt worden.[14]

Als vorletzter Tagungsbeitrag folgte der Vortrag von Axel Töllner, Beauftragter für christlich-jüdischen Dialog in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB). Sein Thema lautete: »Vom christlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus: Kontinuitäten und Transformationen«. An verschiedenen Beispielen zeigte Töllner auf, wie das Christentum dem Judentum in der Geschichte gegenübertrat. Unter anderem erwähnte er das 1948 veröffentlichte »Wort zur Judenfrage« des Bruderrats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), das die Aktualisierung des klassischen Antijudaismus für die Nachkriegszeit zeige. Es sei um die Entlastung von eigener Schuld gegangen. Außerdem thematisierte Töllner u. a. die Antisemitismusvorwürfe gegen das ökumenische Netzwerk »Kairos Europa«.

Die Tagung im Kloster Banz endete mit einem Vortrag der Verfasserin des vorliegenden Textes. Ich habe dabei einen Blick nach Frankreich geworfen und über das Verhältnis des Rassemblement National (bis Mitte 2018: Front National) zum Antisemitismus gesprochen. So ist der Mitbegründer des Front National, Jean-Marie Le Pen, immer wieder durch antisemitische Äußerungen aufgefallen. Seine Tochter Marine Le Pen, die dem Front National seit dem 16. Januar 2011 vorsteht, distanziert sich dagegen vom Antisemitismus. Mehr noch: Sie geht offensiv auf die jüdische Bevölkerung zu und präsentiert sich sowie ihre Partei als Schutzmauer gegen einen islamischen Antisemitismus – was Marine Le Pen aber nicht davon abhält, auf antisemitische Chiffren zurückzugreifen. So hat sie ihren Konkurrenten Emmanuel Macron während des Präsidentschaftswahlkampfes 2017 als Repräsentanten der »arroganten Finanzwelt« bezeichnet, der bei »Rothschild« gearbeitet habe und dem es allein um »Profit«, um die »Anhäufung von Geld« gehe. In meinem Vortrag habe ich die Gründe für die Abwendung vom offenen Antisemitismus dargestellt und bin der Frage nachgegangen, inwieweit Marine Le Pen mit ihrem Zugehen auf die jüdischen Bürgerinnen und Bürger erfolgreich ist.

Resümee

Alles in allem beleuchtete die Konferenz das Thema Antisemitismus aus unterschiedlichen Perspektiven, vor allem aus politikwissenschaftlicher Sicht. Immer wieder wurden Bezüge zur Gegenwart hergestellt: In Krisenzeiten, so wurde mehrfach betont, würden stets Minderheiten als Sündenböcke gesucht; ob bei der Pest oder bei Corona – die Schuld liege bei den Juden. Wiederholt wurden auch Wege der Prävention von Antisemitismus dargelegt – ein Thema, das zum einen wegen der eingangs angesprochenen aktuellen Geschehnisse wichtiger denn je erscheint. Zum anderen sollte der Frage, wie antisemitischen Vorurteilen entgegengewirkt werden kann, auch deswegen gesellschaftlich viel Beachtung entgegengebracht werden, weil Studien für die Bundesrepublik Deutschland bis heute bei mindestens 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung antisemitische Einstellungen nachweisen.[15] Wünschenswert wäre noch gewesen, wenn am Ende der Tagung gemeinsam reflektiert worden wäre, ob es gegenwärtig überhaupt neue Tendenzen im Antisemitismus gibt und, wenn ja, wie genau diese aussehen – immerhin lautete der Untertitel der Tagung »(Neue) Dimensionen des Antisemitismus heute«. Leider blieb für eine solche Diskussion jedoch keine Zeit mehr. Etwas zu kurz kam bei der Tagung außerdem der Antisemitismus von links – der Schwerpunkt lag auf muslimischem und rechtem bzw. rechtsextremem Antisemitismus. Mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und die im Vergleich dazu bestehende Randständigkeit von linkem Antisemitismus war dies sicher gerechtfertigt. Und doch ist auch linker Antisemitismus ein facettenreiches und damit interessantes Phänomen.

[1] Vgl. Engel, Sebastian/Herzog, Martina: »Judenstern« und Häftlingsanzug, in: Aachener Nachrichten, 02.06.2020, S. 4; Geiler, Julius: Das Netzwerk der Impfgegner, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2020, S. 7; Kopietz, Andreas: Pandemie befeuert Antisemiten, in: Berliner Zeitung, 07.05.2020, S. 1; Reister, Helmut: »Geschmack- und geschichtslos«, in: Jüdische Allgemeine, 18.06.2020, S. 15.

[2] Vgl. Kühn, Alexander: Der Irrläufer, in: Der Spiegel, 25.07.2020, S. 47.

[3] Die Anspielungen scheinen nicht geholfen zu haben, denn inzwischen (Stand: 25.02.2021) soll ihn die Berliner Staatsanwaltschaft laut Medienberichten mit einem Haftbefehl suchen. Unter anderem könnte es um den Verdacht der Volksverhetzung, Beleidigung und Bedrohung gehen (vgl. Fröhlich, Alexander/Geiler, Julius: Haftbefehl gegen Hildmann? Rechtsextremer Koch angeblich auf der Flucht, in: Der Tagesspiegel, 24.02.2021, S. 7). Möglicherweise spielen in diesem Zusammenhang auch Hildmanns antisemitische Äußerungen eine Rolle.

[4] Zit. nach o. V.: »Bösartige Mythen und Unterstellungen«. Josef Schuster im Gespräch mit Christiane Florin, in: Deutschlandfunk.de, 27.12.2020, URL: https://www.deutschlandfunk.de/vorurteile-gegen-juden-boesartige-mythen-und-unterstellungen.868.de.html?dram:article_id=489870 [eingesehen am 30.12.2020].

[5] Die beiden Studien sind unter den Namen »Berlin-Monitor 2019« und »Berlin-Monitor 2020« online einsehbar unter https://berlin-monitor.de/publikationen/ [eingesehen am 12.01.2021].

[6] Die Abkürzung KONID steht für »Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale«. Der KONID Survey 2019 hat die Bedeutung von Religion für soziale Identitäten untersucht, und zwar in einer in Deutschland und der Schweiz durchgeführten Repräsentativbefragung.

[7] Darunter die »Mitte-Studien« der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vgl. zusammenfassend Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Berlin 2018, hier vor allem S. 74 f. und S. 78 f., URL: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/expertenkreis-antisemitismus/expertenbericht-antisemitismus-in-deutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=7 [eingesehen am 12.02.2021].

[8] Zu den Ergebnissen des KONID Survey 2019 bezüglich Antisemitismus vgl. auch Pickel, Gert et al.: Religiöse Identitäten und Vorurteil in Deutschland und der Schweiz – Konzeptionelle Überlegungen und empirische Befunde, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, Jg. 4 (2020), H. 4, S. 149–196, hier insbesondere S. 166–172 und S. 179–182.

[9] Sie lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« (International Holocaust Remembrance Alliance: Arbeitsdefinition von Antisemitismus, URL: https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus [eingesehen am 10.01.2021])

[10] Vgl. Ionescu, Dana: Judenbilder in der deutschen Beschneidungskontroverse, Baden-Baden 2018.

[11] Salzborn, Samuel: Aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus und ihre Geschichte, in: Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Themenheft Antisemitismus, H. 1/2020, S. 10–22, hier S. 12.

[12] Diese Wendung greift Heinrich von Treitschkes Schlagwort »Die Juden sind unser Unglück« auf, das seit 1927 auf jeder Titelseite der nationalsozialistischen Wochenzeitung Der Stürmer stand.

[13] Hier geht es um die Umstände, die für oder gegen einen Täter oder eine Täterin sprechen und die ein Gericht bei der Urteilsfindung heranzuziehen hat.

[14] Vgl. Vincent, Élise: Affaire Knoll: les suspects seront jugés pour crime antisémite, in: Le Monde, 16.07.2020, S. 14.

[15] Vgl. Salzborn, Samuel: Sprechen und Schweigen über Antisemitismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 70 (2020), H. 26/27, S. 20–23, hier S. 21 f.