Polarisierungs- oder Spaltungsdiagnosen haben in der öffentlichen Debatte Konjunktur. Der Blick in Zeitungen, Talkshows und Social-Media-Beiträge zeigt, dass solche Befunde über die letzten Jahre omnipräsent waren. In multiplen Konfliktlagen stünden sich, so die vornehmliche These, zwei Lager unversöhnlich gegenüber: KosmopolitenInnen vs. KommunitaristenInnen, Stadt- vs. Landbevölkerung, AkademikerInnen vs. Arbeiterklasse. Gleichwohl gibt es zahlreiche Untersuchungen, die zwar eine große öffentliche Verbreitung der Erzählung von einer gespaltenen Gesellschaft konstatieren, aber gleichzeitig darlegen, dass empirische Daten diese These einer klassisch dichotomen Lagereinteilung zumindest für Deutschland nicht stützen.[1]

In einer großangelegten Studie sind auch die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser der Frage nachgegangen, wie polarisiert die deutsche Gesellschaft tatsächlich ist und wie stark sich die Meinungen innerhalb der letzten 30 Jahre in Bezug auf mehrere kontroverse »Arenen der Ungleichheit” (37)[2] wie Umverteilung (Oben–Unten), Migration (Innen–Außen), Diversität und Gender (Wir–Sie) sowie Klimawandel (Heute–Morgen) auseinanderentwickelt haben. Der Begriff »Arena« ist von den Autoren bewusst gewählt. Eine Arena beschreibe fokussierte Räume der Auseinandersetzung, in denen über bestimmte Ungleichheitsdynamiken verhandelt und gerungen werde. Das Austragen der Konflikte finde in und teilweise auch unter Beteiligung der Öffentlichkeit statt.

Die Ergebnisse ihrer Studie bündeln die Soziologen in ihrem im Herbst 2023 erschienenen Buch »Triggerpunkte«, für das Fokusgruppen die empirische Grundlage lieferten.[3] Diese setzten sich jeweils aus Angehörigen des ökonomischen Prekariats, der oberen Mittelschicht sowie aus Personen zusammen, die im standardisierten Auswahlgespräch jeweils unterschiedliche Wertorientierungen vertreten hatten. Einem mixed-methods-Design folgend wurden die Fokusgruppengespräche durch repräsentative Umfragen vorstrukturiert, in welchen die Einstellungen zu den Konfliktarenen sowie Daten zur Soziodemografie, Lebensführung und Einstellungen gegenüber gesellschaftlichen Gruppen erhoben wurden. Über die Auswertung von Dauerbefragungen[4] konnten die Autoren zudem die Einstellungen innerhalb der Gesellschaft zu den verschieden Ungleichheitskonflikten im Zeitverlauf nachvollziehen. In den Fokusgruppen wurden emotionalisierte Themenfelder der Konfliktarenen, die sogenannten »Triggerpunkte«, identifiziert und die dazugehörigen Argumentationsmuster herausgearbeitet.

Triggerpunkte statt gesellschaftlicher Spaltung

»This is not America« (17), konstatieren die Autoren gleich zu Beginn. Die deutsche Gesellschaft sei nicht so gespalten, wie es den Anschein habe. Vielmehr zeigten die empirischen Daten einen differenzierteren, präziseren und teilweise verblüffenden Befund, den die Autoren mit einem besonderen Bild veranschaulichen: Eine stärker polarisierte Gesellschaft, wie in den USA, sei wie ein Kamel mit zwei Höckern, die ein unüberwindbarer Graben trenne. Die Höcker symbolisieren die gesellschaftlichen Großlager, die sich mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen. Ihre Studie dagegen zeige, dass Deutschland eher einem Dromedar mit einem Höcker ähnele; eine Gesellschaft, in der die allermeisten Menschen bei vielen Themen nach wie vor in der Mitte nah beieinanderstehen. Die Mehrheit ließe sich somit nicht eindeutig in stark konturierten Lagern verorten. Es gäbe bei vielen Themen immer noch einen Grundkonsens. Dieser sei allerdings durch bestimmte Triggerpunkte und immer radikaler geführte Debatten um diese – etwa in den Sozialen Medien – gefährdet.

Unter Triggerpunkten verstehen die Autoren »Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte” (278/387), an denen Menschen von der Sachauseinandersetzung in sehr emotionalisierte Konflikte übergehen. Bestimmte Themen wie die Einführung eines Tempolimits oder die Verwendung eines Gender-Sternchens würden die Menschen besonders emotionalisieren, etablierte Alltagsnormen würden hier herausgefordert. Es ginge dann nicht mehr darum, einem abstrakten Wert wie Klimaschutz zuzustimmen, sondern die Diskussionen um Triggerpunkte zeigten vielmehr, in welcher Art und Weise um das ›wie‹ der konkreten Antworten auf die Herausforderungen der einzelnen Arenen gestritten werde. Dabei falle auf, dass die diskutierten und tatsächlichen Veränderungen vielen Menschen schnell viel zu weit gehen. Die Autoren konstatieren hier insbesondere eine klassenspezifische »Veränderungserschöpfung” (349).

Das Besondere an der Arbeit von Lau, Lux und Westheuser liegt darin, dass die Autoren nicht in der bloßen Beschreibung der sensibilisierten Bereiche der einzelnen Ungleichheitsarenen verharren. Vielmehr stellen sie eine ordnende »Taxonomie der Trigger” (276) vor, welche auf Ungleichbehandlungen, Enttäuschungen von Normalitätserwartungen, Verletzungen von Kontrollerwartungen und Eingriffe in Autonomieerwartungen zurückzuführen seien. Wenn gesellschaftliche Veränderungen entlang von Triggerpunkten verhandelt würden, würde somit schlaglichtartig ein Blick auf die dahinterliegende »Gesamtkontur des gesellschaftlichen Moralgerüsts” (278) möglich, das ansonsten in Dunkelheit verbleibe. Der Gesellschaftsvertrag blitze hervor.

Eine ordnende Taxonomie gesellschaftspolitischer Trigger und Erwartungshaltungen

Aus den Fokusgruppendiskussionen ergeben sich für die Autoren vier Erwartungshaltungen, die durch unterschiedliche Trigger, also durch eine Herausforderung des von den Betroffenen als Normalität empfundenen Zustands, verletzt werden können.

So äußerten sich Menschen erstens empört, wenn sie sich von »Ungleichbehandlungen« (248) betroffen sehen. Diese würden besonders deutlich, wenn über Diskriminierungserfahrungen berichtet oder eine Bedrohung der eigenen privilegierten Position durch die Stärkung von Rechten marginalisierter Gruppen befürchtet werde. Im letzteren Fall handele es sich um Gleichheitsforderungen, die als überzogen wahrgenommen würden.

Eine weitere Ausprägung der verletzten Erwartungshaltungen äußere sich zweitens in einer Übertretung von Normalitätsvorstellungen. Diese sei häufig vager definiert als die Überschreitung von Gleichheitserwartungen, da diese oft implizit blieben und stetig im Wandel seien. »Normalitätsverstöße« (253) träten dann auf, wenn Überschreitungen sozialer Normen oder Verhaltensregeln beobachtet würden. Es komme somit zu einer Abgrenzung zwischen sich und ›den anderen‹, welche gegen die Normen verstoßen und in Folge pauschalisiert abgelehnt würden. Eine Übertretung der Normalitätsvorstellungen werde dann als Bedrohung wahrgenommen, wenn man sich selbst mit dem, was als normal gilt, identifiziere.

Führe man die Sorge um die Verletzung der eigenen Normalitätsvorstellungen fort, so ergebe sich die dritte Dimension der verletzten Erwartungen: »Entgrenzungsbefürchtungen« (260). Sie beinhalteten, dass auf eine erste Grenzüberschreitung immer weitere, unkontrollierbare Normalitätsverstöße folgen würden. Eine besondere Rolle spiele dann die Sorge, dass marginalisierte Gruppen zunehmend Ansprüche an die Mehrheitsgesellschaft stellen würden. Die Autoren sprechen von einer befürchteten »Inflation der Ansprüche« (262).

Als vierte Dimension der möglichen Verletzung der eigenen Erwartungshaltung würden darauf aufbauend zudem »Verhaltenszumutungen« (265) befürchtet. Hierbei ginge es weniger darum, dass bestimmte moralische Ansprüche verletzt oder Kontrollerwartungen nicht mehr erfüllt würden, sondern um die Sorge, zu bestimmten Handlungen oder beispielsweise Sprechweisen verpflichtet oder gezwungen zu werden. Man habe das Gefühl, nicht mehr selbstbestimmt entscheiden zu können und wende sich dagegen, indem man Forderungen kategorisch abweise, da sie als eine Einschränkung der eigenen Freiheit wahrgenommen würden.

Typ Trigger verletzte
Erwartungen
Beispielthemen
Ungleichbehandlungen ungerechte Benachteiligungen oder Übervorteilungen, verletzte Anspruchshierarchien

Egalität

formale Gleichheit, Verdientheit, Reziprozität

»Sonderrechte« für Minderheiten, rassistische Diskriminierung, leistungslose Vermögen
Normalitätsverstöße Ordnungsverlust, Devianz, Schmutz, Identitätsbedrohung durch Verschiebung des Normalen

Normalität

Regeln, Gewohnheiten, geteilter Common Sense

»Scharia«, »Ausländerkriminalität«, dekadenter Lebensstil der Reichen, Transfrauen in Frauenumkleiden
Entgrenzungsbefürchtungen unkontrollierbare Steigerung und Beschleunigung von Veränderungen, Anspruchsinflation

Kontrolle

Stabilität, Steuer- und Berechenbarkeit

»Grenzöffnungen«, Quoten, Folgen des Klimawandels, Ansprüche an den Sozialstaat
Verhaltenszumutungen Eingriffe in Handlungsroutinen irritierte Verhaltenserwartungen, Stigmatisierung von Verhalten

Autonomie

(private) Selbstbestimmung, Freiheit von Vorgaben

»Sprechverbote« und Sprachreformen, Veggie-Day, Tempolimit, überkommene Geschlechterrollen

Abbildung 1: Taxonomie der Triggerpunkte; Quelle: Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westerheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, S. 276, Berlin 2023. © Suhrkamp Verlag

Strukturierung der Konflikte über die gesellschaftlichen Ränder

Die als Irritationen des moralischen Grundverständnisses charakterisierten Triggerpunkte formten die öffentlichen Debatten, bei einer gleichzeitigen Entideologisierung der breiten Mitte der Gesellschaft. Diese äußere sich in wachsenden Wechselwählerschaften, einer geringeren Parteienbindung und damit verbunden in einer nachlassenden Mobilisierbarkeit der Bevölkerung. Eine zentrale These des Buches lautet, dass sich die Politisierung der Mitte der Gesellschaft tatsächlich eher abgeschwächt habe. An den gesellschaftlichen Rändern sei dies hingegen anders. Denn während die Mitte ein Stück weit leiser geworden sei, seien die Ränder zugleich sehr laut und beschallten die Konflikte. Im Ergebnis würden politische Konflikte also stärker über die Ränder strukturiert. Dadurch könnte leicht der Eindruck entstehen, wir lebten in einer polarisierten Gesellschaft.

Um diese Dynamik zu erklären, arbeiten die Autoren mit dem Begriff der »Affektpolitik” (373). Hierunter wird der Versuch z. B. von politischen AkteurInnen verstanden, über die Emotionalisierung entlang von Trigger-Themen, Menschen zu mobilisieren und zum politischen Mitmachen zu bewegen. Für die politischen Parteien am Rand, also insbesondere die AfD, funktioniere Affektpolitik besonders effektiv, da sie mit stark emotional aufgeladenen Themen operiere. Aber auch politische AkteurInnen und Parteien, die nicht zum Rand gehörten, würden Affektpolitik zunehmend nutzen, da auch sie darauf angewiesen seien, Affekte zu erzeugen. Denn wenn die Mitte nicht mehr so stark ideologisiert oder an Parteien gebunden sei, dann sei Affektpolitik eine Art Ersatzpolitik, die eine an Inhalten ausgerichtete Politik ein Stück weit überlagern könne.

In einer solchen Situation hätten »Polarisierungsunternehmer” (375) wie die AfD leichtes Spiel. Im politischen Tagesgeschäft könne man beispielsweise beobachten, wie solche Akteure häufig in einer Wartestellung verharrten, bis sich das nächste Aufreger-Thema andeute. Dann würden die »politischen Wegelagerer« (376) aktiv, nähmen die sich an verschiedenen Themen entzündenden Unzufriedenheiten auf und formten mit ihnen die künftige Debatte. Polarisierungsunternehmer könnten so Aufmerksamkeit auf sich ziehen und neue WählerInnen gewinnen.

Soziale und politische Verortung über Triggerpunkte

Der Einsatz von Affektpolitik erleichtere der Bevölkerung eine politische und soziale Verortung. Denn die Mehrheit analysiere keine Parteiprogramme, sondern habe vielmehr ein diffuses Gefühl zur politischen Landschaft. Gleichwohl versuchten sich Menschen permanent zu verorten, um Zugehörigkeit zu definieren. Für die Bevölkerung fungierten die Triggerpunkte als »Positionslichter” (376) im Dunkeln. Man versuche immer wieder festzustellen, ob man sich darauf zu- oder wegbewegen müsse – je nachdem, wo man seine Peergroup verorte.

In diesem Sinne seien Triggerpunkte Einfallstore für eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft. Würden die als Zumutungen empfundenen Triggerpunkte medial und politisch aufgerufen und immer wieder bespielt, gerieten sie ins Zentrum der politischen Debatte. Entsprechend konstatieren die Autoren, dass Konflikte nicht einfach entstehen, sondern durch Polarisierungsunternehmer geschürt würden. Wochenlang kreise dann die öffentliche Debatte um dieselben Themen. Andere wichtige Aspekte der Arenen gerieten aus dem Blickfeld, stellen die Autoren verwundert fest, auch wenn ihre Auswirkungen auf die Lebensrealität der Menschen teilweise ungleich größer seien.

Heute-Morgen-Arena: enormes Konfliktpotenzial durch eine »Klassenfrage im Werden«

Wo gibt es für Polarisierungsunternehmer besonders viele »Gelegenheitsmärkte« (377)? Viel Potenzial durch »›ungesättigte‹, nicht eingehegte Konflikte” (377) biete neben der Innen-Außen-Arena zum Thema Migration vor allem die Heute-Morgen-Arena. In Bezug auf den Klimawandel konstatieren die Autoren, dass der Konflikt in der Öffentlichkeit häufig fälschlich als Konflikt zwischen KlimawandelleugnerInnen auf der einen und Klimabewegten auf der anderen Seite beschrieben werde. Menschen, welche den anthropogenen Klimawandel per se leugneten, gäbe es im bundesdeutschen Schnitt und im Gegensatz zu den USA jedoch relativ wenige. Der wichtigste Konflikt in dieser Arena drehe sich vielmehr um die Frage, wie die Transformation organisiert werden solle: Geschwindigkeit und Lastenverteilung seien wichtige Konfliktlinien. Hier treffen dann laut Mau, Lux und Westheuser eine »Ökologie der Mittelklasse« und eine »Ökologie der Arbeiterklasse«[5] aufeinander. Während erstere stark kognitiv ausgerichtet sei und sich um Wahlfreiheiten bzw. um Entscheidungen für oder gegen einen nachhaltigen Lebensstil drehe, drücke sich die Ökologie der Arbeiterklasse wesentlich stärker in Begriffen des Ökonomischen und des Sozialen und damit in Konsequenzen für den eigenen Lebensstandard aus. Vor diesem Hintergrund würden dann zentrale Konflikte wie um das Gebäudeenergiegesetz oder um individuelle Mobilität in sehr unterschiedlichen Tonlagen diskutiert.

Die Frage, wie die Herausforderungen in der Heute-Morgen-Arena gemeistert werden, sei somit eine »Klassenfrage im Werden« (220). Die Autoren formulieren vier einordnende Dimensionen, entlang derer sich diese Frage zukünftig stellen werde: Erstens ließe sich eine klassenspezifisch ungleiche Verursachung des anthropogenen Klimawandels festhalten, da dieser vor allem »von oben befeuert« (220) werde, sowohl in nationaler als auch in globaler Hinsicht. Zweitens gäbe es auch bei der Betroffenheit eine klare Trennlinie zwischen Arm und Reich: Die ärmeren Schichten, sowohl national wie international, wären dem Klimawandel durch fehlende Entzugs- und Anpassungsmöglichkeiten wesentlich stärker ausgeliefert. Drittens ergebe sich eine klassenspezifische Ungleichheit auch aufgrund der sozioökonomischen Transformationskosten. Der Alltag vieler Menschen werde aufgrund der Einpreisung von ökologischen Folgekosten für beispielsweise Mobilität und Ernährung absehbar teurer. Dies wiederum werde klassenspezifische Konsequenzen haben. Als vierte trennende Dimension weisen die Autoren darauf hin, dass sich die Klassenfrage keineswegs nur auf materielle Unterschiede beziehe. Auch symbolische Kämpfe um den ›richtigen‹ Lebensstil und somit die gesellschaftliche Anerkennung könnten zum Konflikt beitragen.

Resümee

Mit »Triggerpunkte” legen Mau, Lux und Westheuser eine umfangreiche Vermessung von Konflikten um Ungleichheiten vor. Ihre empirisch gesättigten Befunde liefern einen reichen Fundus an Erkenntnissen und bieten zahlreiche Ausgangspunkte für weitere Forschung. Insbesondere die skizzierten Herausforderungen in der Klimawandel-Arena stellen eine enorme Belastungsprobe für demokratische Gesellschaften dar, da die Debatten in dieser Arena durch die Ungleichzeitigkeit der kollektiven Selbstbindung in der Gegenwart und dem damit verbundenen möglichen Freiheitsgewinn in der Zukunft geprägt sind.[6] Besonders beeindruckend ist »Triggerpunkte« auch in sprachlicher Hinsicht: Wortgewaltig und einprägsam finden die Autoren immer wieder Sprachbilder, um die zerklüftete Konfliktlandschaft zu beschreiben.

Doch welchen Ausblick für die Befriedung der Konflikte liefern die Autoren? Wie kann einer stärkeren Polarisierung entgegengewirkt werden? Die Autoren formulieren erste, auch arenenspezifische Ansatzpunkte, wobei dieser Abschnitt umfangreicher hätte ausfallen können. Der Großteil des Buches ist der Beschreibung der Herausforderungen in den Ungleichheitsarenen gewidmet. Gerne hätte man hier mehr Hinweise der Autoren zur Ummünzung ihrer Einsichten in konkrete Handlungsempfehlungen erhalten, die sich auch mit den bestehenden politischen und sozialen Alltagspraktiken harmonisieren lassen. Dies gilt umso stärker, da die Autoren aufzeigen, wie viel Strecke und Forschung weiterhin bei der Formulierung und Umsetzung von »Befriedungsmöglichkeiten” (420) zurückzulegen und zu leisten ist.

Wie also nun Polarisierungstendenzen begegnen? Um einer Emotionalisierung durch die Reduzierung der Konflikte auf Affekte entgegenzuwirken, sei es für politische AkteurInnen zunächst entscheidend, Strategien zu entwickeln, die zu einer Versachlichung der Debatten beitragen würden. Analytisch könne dies gelingen, indem etwa die Verletzungen der Wertvorstellungen hinter den Diskussionen um Triggerthemen identifiziert würden. Welche Erwartungshaltungen führen bei welchen Themen zu einer Zustimmung bzw. Ablehnung von Veränderungen? Diese müssten dann auf die öffentliche Tagesordnung gerückt werden. Damit könne der Fokus auch stärker auf die Notwendigkeit von Konsens- und Kompromissfindung gerichtet werden. Nur so gelinge eine konstruktive Weiterentwicklung des Gesellschaftsvertrags. Hierfür müsse den moderaten Stimmen – auch und gerade in der öffentlichen Debatte – mehr Raum gegeben, der Common Ground stärker betont werden. Nach dem Prinzip der »moralischen Plausibilität« (407)[7] müsse der Versuch unternommen werden, sich wieder verstärkt auf bestimmte Verteilungs- und Anerkennungsmodi zu verständigen, die man selbst als plausibel und fair anerkenne, von denen man jedoch zugleich auch berechtigter Weise annehme, dass andere diese ebenfalls als plausibel und fair akzeptieren würden. Der »Gerechtigkeitsfrage in institutionellen Designs« (409) komme eine zentrale Rolle zu.

Konfliktbefriedung über Kompromissbildung geschehe laut Mau, Lux und Westheuser nicht nur über politische AkteurInnen, sondern auch und gerade über alle anderen die Gesellschaft konstituierenden Akteursgruppen. Man hätte an dieser Stelle gerne mehr erfahren. Denn von zentraler Bedeutung wird sein, wie sich ganz praktisch ein breites Bündnis gegen Polarisierungstendenzen schmieden lässt und wie sich hier auch AkteurInnen integrieren lassen, die sich gegenwärtig im Graubereich zwischen Versachlichung und Polarisierungsunternehmertum bewegen. Besonders spannend müssen in diesem Kontext die – rund um die großflächige Vermarktung des Buches – stattgefundenen Hintergrundgespräche mit Stakeholdern aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft abgelaufen sein, bei denen die Einsichten von Lau, Lux und Westheuser auf die Alltagsrealität dieser Akteure trafen. Wie überzeugt man beispielsweise verschiedene politische AkteurInnen zeitgleich davon, die eigene Kommunikation künftig stärker an Grundsätzen der Sachlichkeit zu orientieren, wenn – sofern nicht alle mitmachen – für sie damit die Gefahr von Bedeutungs- oder gar WählerInnenverlust verbunden ist? Wer soll diesen Prozess initiieren und orchestrieren, das Kanzleramt? Auch zu diesen Punkten ist anknüpfende Forschung sinnvoll.

Nach der Lektüre ist es zudem notwendig, sich erneut den Gegenstand des Buches, also den Ausschnitt der untersuchten Wirklichkeit, vor Augen zu führen: Es geht um die Einstellungen der Bevölkerung, insbesondere solche, die negativ ausfallen, um gefühlte Konflikte und die dahinterliegenden enttäuschten Erwartungshaltungen, die sich an den Triggerpunkten erkennen lassen. Nur so lässt sich nachvollziehen, warum Grüne und AfD als gleichermaßen extreme Pole charakterisiert werden. Diese Einstellungen und Triggerpunkte decken sich eben nicht unbedingt mit den realen Herausforderungen, die ein Themenfeld wie den Klimawandel umgeben. Sie sind aber bei der Befriedung von Konflikten von herausragender Bedeutung.

Buchcover
Abbildung 2: Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westerheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023. © Suhrkamp Verlag.
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Literatur:
Dochow-Sonderhaus, Stephan/Teney, Céline: Opinion polarization of immigration and EU attitudes between social classes – the limiting role of working class dissensus, in: European Societies 2024, S. 1–32, https://doi.org/10.1080/14616696.2024.2312948.

Heidenreich, Felix: Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie, Berlin 2023.

Herold, Maik/Joachim, Janine/Otteni, Cyrill/Vorländer, Hans: Polarisierung in Deutschland und Europa. Eine Studie zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen in zehn europäischen Ländern. MIDEM Studie 2023-2. Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM), Dresden 2023.

Huber, Matthew: Climate Change as Class War. Building Socialism on a Warming Planet, London 2022.

Kaube, Jürgen/Kieserling, André: Die gespaltene Gesellschaft, Berlin 2022.

Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023.

Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus: Onlineanhang zu Steffen Mau/Thomas Lux/Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, URL: https://media.suhrkamp.de/mediadelivery/asset/b2146fdda5514a81b848d1f6cf8434f1/Onlineanhang_Triggerpunte.pdf?contentdisposition=inline [eingesehen am 28.02.2024].

Offe, Claus: How can we trust our fellow citizens, in: Warren, Mark E. (Hrsg.): Democracy and Trust, Cambridge 1999, S. 42–87, https://doi.org/10.1017/CBO9780511659959.003.

[1] Vgl. dazu Herold, Maik/Joachim, Janine/Otteni, Cyrill/Vorländer, Hans: Polarisierung in Deutschland und Europa. Eine Studie zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen in zehn europäischen Ländern. MIDEM Studie 2023-2. Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM), Dresden 2023; Kaube, Jürgen/Kieserling, André: Die gespaltene Gesellschaft, Berlin 2022; Dochow-Sonderhaus, Stephan/Teney, Céline: Opinion polarization of immigration and EU attitudes between social classes – the limiting role of working class dissensus, in: European Societies 2024, S. 1–32, https://doi.org/10.1080/14616696.2024.2312948.

[2] Sofern im Text Seitenzahlen in Klammern angegeben sind, beziehen sie sich sämtlich auf Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023.

[3] Ein Übersichtsdokument zur Vorgehensweise und Datengrundlage findet sich hier: Mau, Steffen/ Lux, Thomas/ Westheuser, Linus: Onlineanhang zu Steffen Mau/Thomas Lux/Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, URL: https://media.suhrkamp.de/mediadelivery/asset/b2146fdda5514a81b848d1f6cf8434f1/Onlineanhang_Triggerpunte.pdf?contentdisposition=inline [eingesehen am 28.02.2024].

[4] Die ausgewerteten Dauerbefragungen gehen bis in die 1980er Jahre zurück. Es handelt sich hierbei um Sekundärdaten.

[5] Die Autoren beziehen sich hier auf Begriffe, die von Matthew Huber in die Debatte eingeführt wurden, vgl. Huber, Matthew: Climate Change as Class War. Building Socialism on a Warming Planet, London 2022.

[6] Vgl. dazu Heidenreich, Felix: Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie, Berlin 2023.

[7] Die Autoren beziehen sich hier auf den von Claus Offe eingeführten Begriff der moralisch plausiblen Institutionen, vgl. Offe, Claus: How can we trust our fellow citizens, in: Warren, Mark E. (Hrsg.): Democracy and Trust, Cambridge 1999, S. 42–87, https://doi.org/10.1017/CBO9780511659959.003.