Nicht erst seit der Corona-Pandemie hat man das Gefühl, dass die parlamentarische Opposition in Deutschland eigenartig zahnlos wirkt.[1] Spätestens im Zuge der Euro- und Finanzkrise 2007 hat sich das politisch-polemische Schlagwort vom sogenannten TINA-Prinzip (There is no alternative) zu einer veritablen Zeitdiagnose entwickelt. Der als »alternativlos« ausgerufene Politikmodus fand im Umgang mit der Eurorettung nur seinen Höhepunkt. Die proklamierte Alternativlosigkeit parteipolitischer Angebote zementierte sich in der Merkel-Ära, die seither, trotz eines kurzen schwarz-gelben Intermezzos, durch Große Koalitionen dominiert wird. Wirklich überzeugende weltanschauliche Unterschiede zwischen den traditionellen Bundesparteien sind schon seit Jahren kaum mehr wahrnehmbar. Ob nun Sozial- oder Christdemokraten eine Regierung stellen oder ob sie gemeinsam in einer »GroKo« zusammenarbeiten, spielt für einen großen Teil der Bevölkerung keine besonders große Rolle mehr.[2]

Das heißt aber natürlich nicht, dass sich die Parteien untereinander politisch-programmatisch immer ähnlicher werden, wie man an den Unterschieden etwa von der FDP zur Linkspartei sieht. Aber im parlamentarischen System sind konkurrierende Politikangebote entscheidend für das demokratische Wetteifern der Parteien um die Gunst der Wähler, damit eine Regierung gestellt werden kann. Nur zur Vergewisserung: Dies ist das genuine Ziel von Parteien in der Demokratie. In den 1960er und 1970er Jahren war dieser parteipolitische Kampf auf drei Parteien beschränkt, weshalb der FDP als Zünglein an der Waage so eine enorme Bedeutung zukam. Die parlamentarische und gesellschaftliche Entwicklung wollte es, dass sich das Parteienspektrum vergrößert hat, was die Optionen für verschieden abgewogene Lagerkämpfe eigentlich erhöhen müsste. Doch stattdessen beobachten wir seit Jahren einen verengten Möglichkeitsspielraum der Politik. Gleichzeitig lassen der Schock und die Verwunderung über das Aufbegehren gegen diesen Politikmodus nicht nach. Wohl vor allem, weil dieses Aufbegehren nun nicht wie in den 1980er Jahren von der linken Seite des politischen Spektrums in Gestalt der Grünen ausgeht, sondern eben von der rechten Seite. Gerade deshalb trifft die Namensgebung der AfD mit ihrer Anspielung auf den als »alternativlos« verrufenen Pragmatismus einen wunden Punkt. Doch allein das Auftreten der inzwischen nicht mehr ganz so neuen Rechtsaußenpartei auf der politischen Bühne ist noch kein Ausdruck demokratischer Opposition. Eine solche Opposition kann sich langfristig nur parlamentarisch erweisen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass sich die AfD mittelfristig in eine solche Richtung entwickelt, aber angesichts ihrer bisherigen parlamentarischen Praxis und der weiterhin innerparteilich schwelenden Auseinandersetzung um den politischen Kurs scheint dies nicht besonders wahrscheinlich.[3] Insofern bleibt die Frage politisch virulent, was aus der Opposition geworden ist oder ob sich lediglich die Perzeption von Oppositionsarbeit verändert hat[4] – in beiden Fällen wären die tieferliegenden Ursachen in unserem parlamentarischen Parteiensystem zu suchen.

 

Vom Wandel der politischen Opposition

Vom Lateinischen oppositio abgeleitet, meint Opposition die politische »Entgegensetzung« zur Regierungspolitik. Doch ob sich die Oppositionsarbeit dabei allgemein gegen die Regierung oder nur konkret gegen einzelne Praktiken richten muss – ganz unabhängig von der Frage, in welcher Form die Opposition dabei agieren soll –, ist nicht von vorneherein festgelegt; vielmehr ist dieses Verhältnis kaum abstrakt zu bestimmen. Denn gerade die parlamentarische Entwicklung in Deutschland zeigt, dass sich die politische Opposition gewandelt hat. Entscheidend für das Agieren einer Opposition ist die Beziehung von Parlament und Parteien, weil sich im deutschen Fall hierdurch das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition einstellt. Wie Otto Kirchheimer darlegt, hat sich dieses Wechselspiel erst relativ spät vollkommen ausgebildet. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Opposition in Deutschland eingehegt als Teilbereich des Parlaments. Es war das Parlament, das gegen die Regierung opponieren konnte, wenn es sich beschränkte Einflussrechte sicherte. Dadurch war die Opposition verhältnismäßig schwach, weshalb Kirchheimer diese Form auch als »institutionelle Opposition«[5] bezeichnet. Mit dem Aufstieg der Parteien, vorangetrieben von der politischen Organisierung der Sozialdemokratie, veränderte sich das Verhältnis von Parlament und Regierung, weil die Parteien sich nun innerhalb des Parlaments neu organisierten – auch wenn die übergeordnete parlamentarische Struktur durch die Abhängigkeit von der Krone bis 1918 bestehen bleiben sollte. Mit dem Machtgewinn der Parteien aufgrund ihrer sich veränderten sozialen Verankerung und ihrem gestiegenen Einfluss in den parlamentarischen und staatlichen Strukturen wandelte sich auch der Oppositionscharakter. Nun wurde es für einzelne Parteien auch möglich, als »Opposition aus Prinzip«[6] zu agieren, wie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts etwa sozialistische Parteien, indem diese sich nicht auf parlamentarische Kompromisse einlassen wollten. Wie Kirchheimer bemerkt, ist »politische Opposition« ein »ewiges Paradox«[7]. Je stärker das Parlament als Institution gegen die Regierung ist, desto mehr Chancen haben Parteien, als »Opposition aus Prinzip« zu bestehen, weil diese in einem Mehrparteiensystem Handlungsspielraum erhalten. Schließlich verlangen dann die parlamentarischen Spielregeln von einer kleinen »Opposition aus Prinzip« nicht notwendigerweise, in allen Belangen mitzuspielen, da sich die Hauptlast politisch-parlamentarischer Praxis auf die »Hauptparteien« (dazu gleich mehr) verlagert. In der Konsequenz verändert sich hierdurch auch der Oppositionscharakter derjenigen Hauptpartei, die nicht in der Regierung ist, gegenüber einer anderen Oppositionspartei. Dadurch wird es aber zugleich für die übrigen Oppositionsparteien noch schwieriger, die parlamentarischen Möglichkeiten gegenüber der Regierung auszunutzen. Den genuinen Charakter der Entgegensetzung büßt die parlamentarische Opposition, so Kirchheimers übergeordnete Kritik, in dem Moment ein, da sich die Parteien von ihrem ideologisch ausgerichteten Ursprungsmoment weiterentwickeln und zu »am Tagesinteresse orientierten parlamentarischen Gruppen«[8] werden. Schließlich gehe die Veränderung des Parteicharakters und die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit von Parteien und Staatsapparat Hand in Hand, sodass das »Abklingen der parlamentarischen Opposition«[9] eine unmittelbare Folge sei.

Erst vor dem Hintergrund der Entwicklung der parlamentarischen Parteiendemokratie werden die heute geläufigen Aufgaben und Funktionen, die Opposition leistet, bzw. zu leisten hat, nachvollziehbar.[10] »Keine Opposition kann ohne ,Alternativen‹ existieren; nur so vermag sie ihre Identität zu bewahren«[11], betont Winfried Steffani. Der Idee nach muss die Opposition sowohl eine Personal-, als auch eine Sachalternative stellen können, d. h. sie muss zumindest potenziell eine alternative Regierung bieten können bzw. mindestens alternative Politikangebote vorweisen können. Die Regierungspraxis wiederum soll von der Opposition stets kontrolliert und, wenn notwendig, auch kritisiert werden. Doch die Ausübung dieser Kritik-, Kontroll- und Alternativ-Funktionen hängt von parteilichen wie parlamentarischen Bedingungen ab.[12] In der Oppositionsforschung konkurrieren zwei Perspektiven: Während die funktionalistische den Oppositionscharakter an den jeweiligen Verhaltensweisen bemisst, betont die institutionalistische vor allem den Ort, an dem Opposition ausgeübt wird.[13] Entscheidend bleibt die gesellschaftliche Tendenz, dass es zwischen der Wahrnehmung einer politischen Opposition (die stets an der historischen Entwicklung und der Idee bemessen wird) und der Wirksamkeit der parlamentarischen Opposition immer eine gewisse Kluft gibt. Ob dieses Spannungsverhältnis aber zu einem Problem wird oder nicht, hängt gesellschaftsgeschichtlich besonders von der Rolle der Parteien ab.

 

Das Dilemma der Institutionalisierung der Parteien als allgemeine Tendenz der Involution der Demokratie

Was Otto Kirchheimer noch »Hauptparteien« nennt, heißt bei Ossip K. Flechtheim »Großparteien«. Denn Anfang der 1960er Jahre kennt das deutsche Parteiensystem noch keine »Volksparteien«, die uns heute so selbstverständlich erscheinen. Flechtheim beobachtet ganz ähnliche Tendenzen in der westdeutschen Parteienentwicklung wie Kirchheimer. Aber er fragt stärker nach dem Verhältnis von politischen Parteien, Parlament und Staat – und was das wiederum für die Opposition bedeutet. Flechtheim zufolge hängt der Wandel der Parteien in programmatischer Hinsicht mit ihrer Konstitutionalisierung zusammen. Vor dem Hintergrund des kurz zuvor beschlossenen Godesberger Programms der SPD 1959 fragt er nach den Ursachen und Auswirkungen einer tendenziellen »Entideologisierung«[14] der Parteien. Demnach erfordere die immer stärkere Verbindung der Parteien mit dem Staat auf allen möglichen Ebenen und dem parlamentarischen System die »Institutionalisierung der Parteien«. Wenn eine Partei also Macht und Einfluss in staatlichen Gebilden und in parlamentarischen Gruppen erlangen wolle, müsse sie sich dem von Staat und Parlament grundlegend verlangten »sozialkapitalistischen status quo«[15] und weiteren Konsensen anpassen. Was zunächst nur für die Absage der SPD an ihr eigenes sozialistisches Ursprungsmoment gilt, erweist sich zugleich aber als allgemeine Tendenz in der Entwicklung der Parteien. Denn Flechtheim zufolge können sich die politischen Parteien untereinander im Wahlkampf noch so sehr voneinander programmatisch-verbal unterscheiden, ihr politisches und parlamentarisches Agieren hängt von nun an, da sich die Parteien »verstaatlichen«[16], von anderen übergeordneten Faktoren ab. Zwar muss man Flechtheims Sehnsucht nach dynamischen Elementen in einem immer träger werdenden Parteiensystem nicht notwendigerweise folgen, aber mit der identifizierten »Institutionalisierung der Parteien« geht ein Wandel der Parteien einher, der auch unmittelbare Folgen für die Möglichkeiten von Opposition hat.

Wie dieser Wandel der Parteien einzuordnen ist, bleibt umstritten. Otto Kirchheimer etwa diagnostiziert eine Entwicklung von den Massenintegrationsparteien zu den sogenannten »Allerweltsparteien« in der Nachkriegszeit (catch-all-party).[17] Die neuen Allerweltsparteien würden, so Kirchheimer, ihre »ideologische Durchdringung«[18] preisgeben, um potenziell im neuen Wettbewerb um Wählerstimmen und Macht bestehen zu können. Damit verändere sich auf lange Sicht die Erwartungshaltung an Parteien, welche versprochenen Ziele später überhaupt umgesetzt würden.[19] Diese Entwicklung gipfelt nach Richard S. Katz und Peter Mair in den sogenannten »Kartellparteien«, die auf den Parteitypus der Catch-all-Partei folgten.[20] Die Kartellparteienthese interpretiert die Hinwendung der Parteien zum Staat als Kompensationsversuch ihrer bereits vorher brüchig gewordenen gesellschaftlichen Verankerung, um im Zuge der parteilichen Professionalisierung staatliche Ressourcen effektiver nutzen zu können. Diese idealtypische Parteienentwicklung ist bis heute umstritten.[21] Aber sie verdeutlicht das Dilemma der Institutionalisierung der Parteien und deren Folgen für den Parteicharakter. Denn dieser Wandel der Parteiendemokratie verengt strukturell auch den Handlungsspielraum der Parteien in ihrer Außenwahrnehmung und verlagert parlamentarisch ihre Arbeitsschwerpunkte. Hier liegt eine entscheidende Ursache dafür, dass sich die Idee der Parteien (und damit auch der Opposition) von ihrer Praxis immer weiter entfernt. Dies muss natürlich keineswegs eine Verfallsgeschichte bedeuten, schließlich war dieser Wandel der Parteien mitentscheidend für die staatliche Stabilität und die langfristige Bindung großer Bevölkerungsteile an den Staat, was in der Nachkriegszeit keineswegs selbstverständlich war. Aber wie Philip Manow mithilfe der Kartellparteienthese betont, würden Politik wie eben auch Oppositionspolitik durch das Aufgehen der Parteien im Staat, dem damit zusammenhängenden innerparteilichen Repräsentationsverlust und der erodierenden »Anbindung an die Gesellschaft«[22] in der (Außen-)Wahrnehmung strukturell bedingt nun einmal zunehmend »ununterscheidbar«[23] (siehe hierzu weiter unten). Diese allgemeine Tendenz hat schon Johannes Agnoli in seiner berühmt-berüchtigten »Transformation der Demokratie« beschrieben. Deshalb gleich vorweg: Man muss Agnoli nicht notwendigerweise in seiner radikalen Kritik des Parlamentarismus folgen, die oftmals irritierend entkontextualisiert rezipiert wird. Schließlich meint die »Transformation« gerade nicht die Veränderungen des strukturellen Systems – eine Fehlinterpretation, die aber gerade ihren Charme unter den zeitgenössischen »68ern« ausmachte, die sich vor allem auf eine intellektuell-verkürzte Vorstellung seiner Forderung nach »Fundamentalopposition«[24] konzentrierten. Agnoli kritisiert vielmehr die Veränderungen der Funktionen der traditionellen Institutionen, sodass sich die politischen Entscheidungsprozesse radikal veränderten. Daher zielt die Transformations-Anklage vielmehr auf eine Kritik des bürgerlichen Verfassungsstaates, der sich transformiert habe.[25] Demokratische Herrschaft wird durch den Funktionszusammenhang verschiedener Instanzen sichergestellt. Dazu zählen Parteien und Verbände, Medien und Gerichte oder auch der Staat. Gesellschaftliche Konflikte werden dadurch eingehegt und zivilisiert, dass sie durch, in und mit diesen Institutionen ausgetragen werden. Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist, dass die Möglichkeit besteht, politische Anliegen auch in die politische Arena tragen zu können. Hier schließt sich der Kreis zur Bedeutung der Parteien und ihrem Wandel, denn vor allem Parteien kommt in der parlamentarischen Demokratie die Aufgabe zu, diese Anliegen aufzugreifen, innerparteilich damit umzugehen und diese ggf. dann auch parlamentarisch zu repräsentieren. Agnoli setzt an diesem zentralen Punkt seine übergreifende Kritik an, indem er an diesem Funktionsablauf zwischen Gesellschaft, Parteien, Parlament und Staat eine »Involutionstendenz«[26] feststellt, d. h. eine Rückbildung demokratischer Entwicklungstendenzen diagnostiziert. Das bedeutet: Wenn zugleich einerseits individuelle Teilhaberrechte demokratisiert und andererseits eine Entdemokratisierung auf staatlich-parlamentarischer Ebene beobachtet werde, gerate die Demokratie selbst in eine Schieflage.

Mit dem Aufgehen der Parteien im Staat geht die Involution unweigerlich einher. Die zunehmende Verflechtung der verschiedenen Institutionen untereinander fördert den Funktionszusammenhang und trägt damit der zunehmenden Spezialisierung und Komplexität politischer Praxis Rechnung. Der Preis dafür ist eine tendenzielle Lähmung und Desensibilisierung von Parteien für neu auftretende Phänomene, weshalb sozialen Bewegungen und Protestdynamiken in der parlamentarischen Demokratie stets eine Art Sensorfunktion zugesprochen wird.[27] Dem Repräsentationsanspruch von Parteien werden dadurch strukturell enge Grenzen gesetzt – unabhängig von der Güte der Kartellparteithese oder anderweitiger Diagnosen von Repräsentationskrisen, Parteientfremdungen oder dem Ende der Milieus. Das staatliche Institutionenarrangement hat zwei unweigerliche Nebenwirkungen: Zum einen hat die Institutionalisierung der Parteien eine Entpolitisierung zur Konsequenz. Mit den Kartellparteien schwindet schließlich die Vorstellung, dass Politik vor allem auch Konflikt um Interessendurchsetzung ist – was sich an niedrigen Vertrauenswerten von Parteien, aber hohen Vertrauenswerten für »überparteiliche« Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht zeigt.[28] Christoph Möllers sieht in diesem »unpolitischen« Institutionenvertrauen nur die logische Konsequenz des allgemeinen »Verfall[s] politischer Parteien«[29], der sich darin ausdrücke, dass niemand mehr an das Versprechen glaube, dass Parteien zumindest Teilhabe an Macht ermöglichten. Zum anderen resultiert aus der Institutionalisierung der Parteien und der Entpolitisierung auch Etatismus, also eine Vorstellung von Gesellschaft, die dem Staat eine übergeordnete Rolle zuschreibt. Hiervor warnte schon Agnoli, da der Staat dann nicht mehr nur den »sozialen Frieden«[30] sichere, sondern als institutionalisierter »Friedensstifter«[31] zur Selbstverständlichkeit für die Gesellschaft werde. Damit vollendet sich die nach Max Horkheimer bereits in der bürgerlichen Gesellschaft angelegte etatistische Tendenz, wie er es in »Autoritärer Staat« skizziert.[32] Entscheidend sei demnach, dass die zentrale Vorstellung seit der Aufklärung, dass das Individuum seine Freiheit nur durch die Unabhängigkeit vom Staat bewahren könne, bis zur Perversion umgekehrt sei. In den Massengesellschaften könnten sich die Individuen ihre Freiheit überhaupt nur noch durch den »integralen Etatismus«, also durch den Staat gesichert, vorstellen. Ob die von Horkheimer daraus gezogene Erkenntnis, dass man im Spätkapitalismus nicht einmal mehr wirkliche Freiheit denken könne, zutrifft, sei dahingestellt. Aber dass das Verhältnis von Individuum und Staat ein angespanntes ist, dürfte kaum bestritten werden. So warnt etwa der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Udo Di Fabio vor einer zunehmenden »Staatsgläubigkeit«[33], die sich in der derzeitigen Ausnahmesituation angesichts der Corona-Pandemie weiter verfestige. Jedenfalls wird dem Staat aufgrund der beschriebenen mentalitätsgeschichtlichen Entpolitisierungsprozesse als Konsequenz der Involution der Demokratie schon jetzt so viel Einfluss zugebilligt, dass die Kritik von einem drohenden »starken Staat« kaum mehr angsteinflößende Wirkung zeigt wie noch in den 1980er Jahren.[34]

 

Wo ist die Opposition?

Der Rechtswissenschaftler Florian Meinel hat in »Vertrauensfrage« die Krise des heutigen Parlamentarismus seziert. Ihm zufolge erleben wir derzeit gerade keine einfache Repräsentationskrise – denn das Krisenhafte im Repräsentationsverhältnis ist der demokratische Normal-, nicht der Ausnahmefall –, sondern eine Krise des institutionellen Zusammenhangs in der parlamentarischen Demokratie.[35] Das Institutionengefüge der repräsentativen Demokratie basiere, so seine zentrale These, neben dem parlamentarischen System auf einem engen Wechselverhältnis zwischen den Volksparteien, dem Bundeskanzleramt und dem Bundesverfassungsgericht.[36] Wie Meinel verfassungsgeschichtlich instruktiv herausarbeitet, garantierten erst diese drei Vermittlungsinstitutionen die Verklammerung von Parlament und Regierung.[37] Der analytische Kunstgriff von Meinel besteht darin, sich die konkreten Zusammenhänge in und zwischen diesen Institutionen anzuschauen. Dabei identifiziert er die entsprechenden Kräfte, die an diesen Institutionen zehren. Während sich die Volksparteien im Niedergang befänden, erhielten sowohl das Bundeskanzleramt als auch das Bundesverfassungsgericht eine immer größere Macht. Dadurch werde das Verhältnis zwischen diesen Institutionen gestört – Meinel bezeichnet diese Verbindungen als »Querverstrebungen«[38] – und die Vermittlung zwischen Parlament und Regierung erschwert. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Krise der Repräsentation vielmehr als eine Funktionskrise der politischen Repräsentation. Wie Meinel zurecht betont, gibt es aktuell natürlich eine parlamentarische Opposition – an vielen Beispielen zeigt er etwa auf, dass parlamentarische Kontrolle noch nie so allumfassend war wie heute.[39] Aber durch die Veränderungen des institutionellen Gefüges habe sich nicht nur der Möglichkeitsspielraum, sondern auch der Charakter »echter parlamentarischer Opposition«[40] verändert. Wie auch Meinel beklagt, kann von einer solchen Opposition seit 2005 und dem Beginn der großen Koalitionen »keine Rede mehr sein«[41]. Zudem seien Oppositionsparteien im deutschen Regierungssystem »nie ganz Opposition, immer regieren sie irgendwo mit, immer sind die irgendwie eingebunden und entscheiden über Stimmenmehrheiten im Bundesrat. Nie kann sich eine Regierung darauf beschränken, ihre Sache rücksichtslos gegen die Opposition durchzuziehen.«[42] Im »großkoalitionären Dauerzustand, in dem die Dialektik von Mehrheitsherrschaft und Kontrolle ohnehin teilweise außer Kraft ist«[43], verändern sich mit dem Charakter der Repräsentationsinstitutionen, wie eben besonders den Volksparteien, auch die Spielregeln, wer repräsentiert gehört und wer nicht.

An diesem Punkt setzt der Politikwissenschaftler Philip Manow mit »(Ent-)Demokratisierung der Demokratie« an. Der Aufstieg des Populismus konfrontiere uns mit der »widersprüchlichen Gleichzeitigkeit«[44] und dem latenten Zusammenhang von zwei Entwicklungen: einer Demokratisierung und Entdemokratisierung der Demokratie zugleich. Manow beschreibt damit zum einen eine Krise der Repräsentation infolge einer »massiven Ausweitung politischer Partizipationschancen«[45]. Zum anderen identifiziert er eine Legitimationskrise der Demokratie, weil diese ihre »Zukunftsorientierung«[46] verloren habe und sich nun aus sich selbst heraus legitimieren müsse. Schließlich sei der Demokratie ihr Gegenüber abhandengekommen, da sich selbst Diktatoren und Autokraten heutzutage als »Demokraten« proklamieren. Die Folge ist, so Manow schlüssig, ein Überbietungswettbewerb, wer der beste Demokrat sei, sodass sich der Verdacht in der politischen Öffentlichkeit wieder freisetze, jemand sei nicht »Demokrat« genug,[47] wodurch der künstliche und antiintellektualistische Dualismus von Demokraten vs. Antidemokraten wieder habe zurückkehren können. Laut Manow ist dieser Prozess der Entdemokratisierung der Demokratie keineswegs zu unterschätzen, da der »Demokratiegefährdungsdiskurs« so zu einem der »effektivsten Eigenermächtiungsdiskurse« werde – »mit selbstbestätigendem und selbstverstärkendem Gefahrenpotenzial«[48]. Beide Prozesse – Demokratisierung und Entdemokratisierung – bedingen und verschärfen sich wechselseitig. Sie führen laut Manow zu einer »Funktionskrise«[49] der Repräsentation und zwar gerade »nicht in dem Sinne, dass etwas Vorhandenes nicht länger angemessen repräsentiert wird, sondern in dem Sinne, dass etwas immer Vorhandenes sich durch Repräsentation nicht länger effektiv ausschließen lässt.«[50] Manow sieht im Erfolg des Rechtspopulismus eine gesellschaftliche Entwicklung, die die Demokratie mit ihren eigenen Aporien konfrontiere: Der Populismus bedeute daher eine »,Wiederkehr des Nicht-Repräsentierten‹ oder Konsequenz einer nicht mehr funktionierenden repression by representation«[51], also des Nicht-Repräsentierbaren. Aufgrund von langfristig angelegten Entwicklungen, die zu der von Meinel diagnostizierten Krise der Vermittlungsinstitutionen und daraus resultierenden Krise des Parlamentarismus führen, haben sich auch die einzelnen Institutionen selbst an diese veränderten Rahmenbedingungen angepasst – und vice versa. Die Konsequenz der veränderten »Organisationsbedingungen der Politik«[52] ist ein zunehmender Funktionsverlust der politischen Organisationen. Wie Manow auch parteientheoretisch herleitet, hängt das Funktionieren der repräsentativen Demokratie eben auch davon ab, dass Parteien ihre repräsentative und regierende Funktion erfüllen, was ihnen aber immer schwerer fällt.[53] Wenn aber die alte Vermittlung von Milieus zu Parteien nicht mehr gelingt, dann müssen andere Wege (wie Meinels Analyse zeigt: gerade nicht über den Weg der Fundamentalopposition) gefunden werden, politische Anliegen wieder in die institutionellen Arenen zur Auseinandersetzung zu bringen. Denn wenn die gesellschaftlichen Konflikte nicht mehr in den Institutionen stattfinden, versagt eine der wichtigsten Aufgaben des Parlamentarismus: die Zivilisierung von Konflikten qua demokratischer Herrschaft.[54] Politische Opposition war und ist damit immer auch parlamentarischer Ausdruck einer Politik, die von der Austragung interessengeleiteter Konflikte lebt.[55] An der vermeintlich einfachen Frage, wo die Opposition ist, zeigt sich das ganze Dilemma des heutigen Parlamentarismus, der vor der Aufgabe steht, angesichts des zunehmenden Tribalismus in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft eine neue Vorstellung von politischer Repräsentation zu finden.

[1] Vgl. exemplarisch Henkel, Angelika/Janssen, Hilke: Würgt die Corona-Krise die Demokratie in Niedersachsen ab?, in: NDR, 23.10.2020, URL: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Wuergt-die-Corona-Krise-die-Demokratie-in-Niedersachsen-ab,corona4918.html [eingesehen am 09.02.2021].

[2] Vgl. Bertelsmann Stiftung: Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?, Gütersloh 2019; Dorn, Florian et al.: Demokratische Vielfalt in Deutschland. Unterscheiden sich die Volksparteien noch?, ifo Schnelldienst, Vol. 70 (2017), Nr. 20, S. 28–37.

[3] Zur AfD-internen Auseinandersetzung zwischen sogenannter Realpolitik und Fundamentalopposition vgl. Hensel, Alexander/Finkbeiner, Florian: Die AfD vor der Bundestagswahl 2017. Vom Protest zur parlamentarischen Opposition, OBS-Studie, Frankfurt a. M. 2017, S. 12 f. Für die AfD in Niedersachsen vgl. Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, FoDEx-Studie Rechtsradikalismus, Göttingen 2020, S. 17.

[4] So eine These im Anschluss an eine empirische Untersuchung über die deutungskulturelle Verarbeitung der AfD in Salzgitter, siehe Finkbeiner, Florian et al.: Rechtsradikalismus in sozialdemokratischen Kerngebieten. Eine Regionalstudie zur deutungskulturellen Verarbeitung der AfD in Salzgitter, FoDEx-Studie Rechtsradikalismus, Göttingen 2021.

[5] Kirchheimer, Otto: Vom Wandel der politischen Opposition, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Jg. 43 (1957), Nr. 1, S. 59–86, hier S. 65.

[6] Ebd., S. 66.

[7] Ebd., S. 59.

[8] Ebd., S. 86.

[9] Ebd.

[10] Grundlegend bis heute, vgl. Schumann, Hans-Gerd (Hrsg.): Die Rolle der Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 1976.

[11] Steffani, Winfried: Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition, in: Schumann, Hans-Gerd (Hrsg.): Die Rolle der Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 1976, S. 201–250, hier S. 236.

[12] Siehe hierzu etwa Franzmann, Simon T.: Die Schwäche der Opposition, die Außerparlamentarische Opposition und die Emergenz neuer Regierungsperspektiven, in: Zohlnhöfer, Reimut/Saalfeld, Thomas (Hrsg.): Zwischen Stillstand, Politikwandel und Krisenmanagement. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2013–2017, Wiesbaden 2019, S. 141–168, hier S. 145 f.

[13] Siehe zu dieser Aufteilung in der aktuellen Oppositionsforschung, ebd., S. 143.

[14] Flechtheim, Ossip K.: Die Institutionalisierung der Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 9 (1962), H. 2, S. 97–110, hier S. 103.

[15] Ebd., S. 109.

[16] Ebd., S. 110.

[17] Kirchheimer, Otto: Der Wandel des westeuropäischen Parteisystems, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 6 (1965), H. 1, S. 20–41, hier S. 27.

[18] Ebd.

[19] Damit zusammen hängt ebenso der Wandel der sozialen Verankerung der Parteien, vgl. grundlegend Lepsius, Rainer M.: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Ritter, Gerhard Albert (Hrsg.): Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80.

[20] Vgl. Mair, Peter/Katz, Richard S.: Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, Jg. 1 (1995), H. 1, S. 5–28.

[21] Vgl. Helms, Ludger: Die »Kartellparteien«-These und ihre Kritiker, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 42 (2001), H. 4, S. 698–708.

[22] Manow, Philip: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay, Berlin 2020, S. 82.

[23] Ebd., S. 81.

[24] Agnoli, Johannes/Brückner, Peter: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt a. M. 1974 [1968], S. 81.

[25] Vgl. ebd., S. 8.

[26] Ebd., S. 10.

[27] So unterschiedlich die Protestphänomene der letzten Jahre auch waren (von Stuttgart 21 und Stop-TTIP bis zu Pegida und Querdenken), sie alle waren getrieben von einem sinkenden Vertrauen in Staat und Parteien.

[28] Vgl. Patzelt, Werner J.: Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 36 (2005), H. 3, S. 517–538.

[29] Möllers, Christoph: Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur, Jg. 71 (2017), H. 818, S. 5–16, hier S. 7.

[30] Ebd., S. 49.

[31] Ebd., S. 43.

[32] Vgl. Horkheimer, Max: Autoritärer Staat (1940), in: Gesammelte Schriften, Band 5, Hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 293–319.

[33] Hipp, Dietmar/Verbeet, Markus: »Ausgangsbeschränkungen sind eigentlich ein Mittel für Diktaturen«. Interview mit Udo Di Fabio, in: Der Spiegel, Nr. 2/09.01.2021, S. 42–44, hier S. 44.

[34] Vgl. bspw. Saage, Richard (Hrsg.): Rückkehr zum starken Staat, Studien über Konservatismus, Faschismus und Demokratie, Frankfurt a. M. 1983.

[35] Vgl. Meinel, Florian: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, Bonn 2019, S. 14.

[36] Vgl. ebd.

[37] Vgl. ebd., S. 29.

[38] Ebd., S. 128.

[39] Vgl. ebd., S. 166 ff.

[40] Ebd., S. 137.

[41] Ebd.

[42] Ebd., S. 182.

[43] Ebd., S. 185.

[44] Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, S. 13.

[45] Ebd. (Herv. i. O.).

[46] Ebd., S. 122.

[47] Vgl. ebd., S. 141.

[48] Alle drei Zitatstellen, ebd., S. 124.

[49] Ebd., S. 50.

[50] Ebd.

[51] Ebd., S. 51 (Herv. i. O.).

[52] Ebd., S. 107.

[53] Vgl. ebd., S. 67.

[54] So auch Meinel: Vertrauensfrage, S. 18.

[55] Vgl. Greven, Michael Th.: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Opladen 1999.