Aller Anfang ist die Krise. Auch und gerade in der Linken. Denn wie in kaum einer anderen gesellschaftlichen Gruppierung gehört die Herausstellung von Krisen und Missständen – in der Welt wie in den eigenen Reihen – seit jeher zum begrifflichen Inventar des außerparlamentarischen linken Spektrums, dient als Antrieb des eigenen Engagements, ja als Schlüssel zur eigenen Existenzberechtigung.

Und so war es auch gleich ein ganzes Bündel Krisendiagnosen, die dem Kongress »Selber machen – Internationale Konferenz zu Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie«, der vom 28. bis zum 30. April 2017 über mehrere Lokalitäten verteilt in Berlin-Kreuzberg stattfand, vorausgingen, ihm gleichsam Anstoß und Auftrag gaben. Die außerparlamentarische Linke, so die innerhalb einer sich selbst als radikal links definierenden Szene zuletzt immer häufiger formulierte Beobachtung, habe ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit weitestgehend eingebüßt. Diese sei ihr insbesondere in Deutschland und, das ist entscheidend, trotz allgegenwärtiger politischer, sozialstaatlicher, ökonomischer Umbrüche und Verfallsszenarien der letzten Jahre, stillschweigend und sukzessive abhandengekommen.

Das ist zunächst einmal eine bemerkenswerte Diagnose. Gewiss bildet die permanente und nicht zuletzt auch immer wieder programmatisch ausformulierte Selbst-, oder genauer: Nachbars- und Nächstenkritik einen Wesenskern linksradikaler Strömungen. Gleichwohl deuteten die Dichte und Schärfe, mit der im weiteren Vorfeld des Kongresses in den einschlägigen Foren mal ein »Bruch«[1], mal eine »Neuausrichtung linksradikaler Politik«[2] gefordert wurden, auf den Auftakt einer Debatte hin, welche die Grundfesten eines linksradikalen Selbstverständnisses berühren sollte.[3]

Programmatisch hieß es hierzu im (sechssprachigen!) Aufruf des Berliner Organisatoren-Kollektivs ebenso grundlegend wie ausschweifend:

»Gemeinsam wollen wir uns Fragen stellen, auf die die außerparlamentarische Linke Antworten finden muss, will sie ein wirklicher gesellschaftlicher Faktor werden: Wie stellen wir uns Verdrängung und Gentrifizierung entgegen? Wie schaffen wir es, in den Alltagskämpfen unserer Nachbarschaften verankert zu sein? Welche Formen kann die Selbstorganisierung von Frauen annehmen? Wie können im Betrieb und im Arbeitsalltag Prekarisierter Kämpfe gelingen? Wie wehren sich Erwerbslose gegen die Zurichtungen durch das Jobcenter? Wie sieht eine Fabrik unter Arbeiter*innenkontrolle aus? Und welche Formen von Rätedemokratie wollen wir realisieren?«[4]

Zusammengefasst werden sollte die Debatte unter dem Dach der »Selbstorganisierung« ein Begriff, der einerseits eine bewusst gewählte Offenheit für allerlei verschiedene und bisweilen auch konträre Leitvorstellungen bot, andererseits die betont internationalistische Ausrichtung des Kongresses erklärte. Denn, dies machte schon ein Blick in das vielgestaltige Programm aus häufig drei parallel laufenden Panels deutlich: Die deutsche Linke blickt ins Ausland auf der Suche nach neuen Mitteln und Wegen zur Gewinnung und Gestaltung autonomer Lebensräume.

Kurzum: Die Erwartungen an den Kongress konnten also durchaus hoch gesteckt werden. Und so verwunderte es nicht, dass bereits das Auftaktpanel am Abend des 28. April zum Thema »Scheitern der kapitalistischen Moderne – zur Relevanz von Rätestrukturen und der Kommunen im 21. Jh.« vor der Kulisse eines brechend vollen Saales im Kreuzberger »Aquarium«, einem linken Veranstaltungszentrum nahe dem Kottbusser Tor, stattfand.

Nach einer knappen Begrüßung und einigen technischen Querelen vor allem mit der ambitionierten, bisweilen jedoch auch überforderten Simultanübersetzung stellten drei AktivistInnen aus Thessaloniki, Rojava im Norden Syriens und dem mailändischen Giambellino Erfahrungen mit Selbstorganisierungen im Streben nach lebensweltlicher Autonomie vor. War das Konzept der eigenständigen Organisation ganzer Gebiete vorab noch recht vage geblieben, boten die Vorträge nunmehr Einblicke in das gesamte Spektrum autonomer Selbstorganisierung, das von eigenständiger Bildungsarbeit über grundlegende Gesundheitsversorgungen bis hin zur Einrichtung von Freizeit- und Ferienprogrammen, ja selbst zur kollektiven Beschaffung von reichen konnte. In der weitestgehenden Abwesenheit staatlicher Infrastrukturen, so eine Kernaussage der Auftaktveranstaltung, liege das ganze Potential linksradikaler Selbstorganisierung. Denn erst der Zusammenbruch etablierter Strukturen und ein umfassender Desillusionierungsprozess gegenüber dem Handeln des Staates schüfen den Raum für eine Öffnung gegenüber linken Alternativangeboten. Entscheidend sei dabei, auch dies wurden die AktivistInnen nicht müde zu betonen, von den konkreten Problemen vor Ort auszugehen, sich also langsam vorzutasten, zuzuhören, im Kleinen anzufangen, anstatt – die Wahrheit in der Tasche – unmittelbar mit der Tür ins Haus zu fallen.

So weit, so eindrücklich. Allein, mit Blick auf die Übertragbarkeit von dergleichen Mobilisierungsstrategien in einen bundesdeutschen Kontext wirkten die Vorträge doch recht entlegen. Und so blieb am Ende des ersten Tages vor allem der bestärkende Eindruck, dass es andernorts ja funktioniere mit der Selbstorganisierung, dass die radikale Linke – verstanden als internationalistische Solidargemeinschaft – gerade da zur Stelle und erfolgreich sei, wo alle anderen längst aufgegeben hätten. Mobilisierung nach innen also – und ein gelungener Auftakt.

Tag zwei war der programmatisch dichteste Tag. Als Ort hatten die Organisatoren das historische Herz der Berliner Linken gewählt: das Kreuzberger Bethanien-Haus. In insgesamt sechs Panels, verteilt auf die abermals bis an den Rand gefüllten Räumlichkeiten des ehemals besetzten Krankenhauses – die Organisatoren sprachen später von 600 Teilnehmenden –, sollte der Blick weiter nach innen gelenkt werden. Entlang verschiedener Arbeitsfelder wurden neben- und nacheinander Themen wie die Selbstorganisierung in den prekären Bereichen des Gesundheitswesens, Zwangsräumungen und der Umgang mit Gentrifizierung, die Erhaltung und Gestaltung linker Haus- und Stadtteilstrukturen, feministische Selbstorganisierung, ganz grundsätzlich die Möglichkeiten einer »Demokratie von unten« und schließlich die Solidarisierung mit Lohnabhängigen auf dem Arbeitsmarkt diskutiert.

Doch was sich am Vorabend schon vorsichtig angedeutet hatte, bestätigte sich über das Gros der Panels hinweg. Wenngleich die Podien häufig mit deutschen und internationalen AktivistInnen besetzt waren, gingen die Diskussionen doch selten über die Vorstellung nebeneinander bestehender Projekte, Initiativen und Gruppierungen hinaus. Wenngleich dies sicherlich auch der häufig (zu) dichten Besetzung der Panels, respektive (zu) ausschweifenden Vorträgen geschuldet gewesen sein mochte – ein Missstand, der jedoch immer wieder durch beeindruckende Einzelbeiträge aufgefangen wurde, beispielsweise durch einen Arbeitskampf-Aktivisten einer englischen »Rebel Roo«-Gruppe –, sah sich der nach gebündelten Grundsatzdebatten suchende Zuhörer häufig auf argumentative Gemeinplätze verwiesen: Man solle von den konkreten Anliegen der (zu gewinnenden) Leute ausgehen, könne keine augenblickliche Fundamentalpolitisierung oder genauer: allumfassende Subjektivierung der Angesprochenen erwarten, müsse schließlich Theorie und Praxis in ein ausgewogenes Verhältnis setzen. Anders gesagt: Was am Vortag noch als vielversprechender Impuls anmutete, erschien bald schon als Plattitüde und alte Leier, ja als kleinster gemeinsamer Nenner eines Kongresses, der viele wertvolle Details, dafür aber wenig Substanzielles hervorbringen würde.

Indes, wie sehr der Anschein eines vermeintlich stillen und vor allem: banalen Konsenses über die grundlegende Ausrichtung von linker Basisorganisierung trog, zeigte die Abschlussdiskussion »zur Neuausrichtung linksradikaler Politik« am folgenden Vormittag. Im Anschluss an eine prägnante Vorstellung dreier Kollektive, welche die Diskussionen schon im Vorfeld durch zum Teil umfangreiche Strategiepapiere maßgeblich angeregt hatten[5], entspann sich eine Debatte um den grundsätzlichen Auftrag und das Selbstverständnis einer radikalen Linken, wie sie sich in derart diverser und zugleich konzentrierter Gestalt in der Tat nur selten abspielt.

Dabei zeichneten sich genau genommen zwei Diskussionen ab, die – wenngleich eng miteinander verbunden – um verschiedene Grundprobleme kreisten. So ging es einerseits um die ganz grundlegende Frage nach der anzustrebenden Wirksamkeit linksradikalen Engagements in der Gesellschaft, andererseits um den wohlmöglich bevormundenden Charakter einer Basisorganisierung etwa in Betrieben oder prekarisierten Stadtvierteln. Entscheidend war nunmehr, dass die Positionierungen innerhalb der Debatte(n) sowohl entlang generationeller Grenzen als auch innerhalb einzelner Generationen verliefen.

So argumentierte eine Reihe jüngerer TeilnehmerInnen in den Mittzwanzigern, dass die selbstorganisierte Verknüpfung mit strukturell benachteiligten, jedoch bis hierhin kaum politisch aktiven Gesellschaftsgruppen unbedingt notwendig sei – wie sonst könne man sich schließlich aus der Bedeutungslosigkeit des Sektierertums befreien? (Es war dies eine Position, die, bezüglich der radikal linken Rhetorik an Diskussionen erinnerte, wie sie etwa in der Sozialdemokratie ebenfalls geführt werden sollten). Dem hielten Teile der deutlich älteren BesucherInnen kräftigst entgegen, dass der Aufbau einer autonomen Subkultur von jeher ein Wesenskern der außerparlamentarischen Linken gewesen sei. Diesen Standpunkt in der selbstgewählten Marginalität aufzugeben, hieße folglich nichts weniger, als die Grenzen zur Mitte aufzuweichen und damit die Idee und Praxis einer radikalen, möglichst allumfassenden Alternative zu etablierten Lebensformen zu verwässern.

Geradezu konträr hierzu, dabei abermals generationell gespalten, verlief wiederum die Diskussion um die Legitimität einer linksradikalen Gewerkschaftsarbeit. Während einige der schärfsten Beiträge jüngerer TeilnehmerInnen betonten, dass einem Gang in die Betriebe erst einmal der organisierte Kampf um das eigene Umfeld vorausgehen müsse – Wie solle sonst die Basis für ein gemeinsames Ringen um gemeinschaftliche Rechte entstehen, wenn nicht durch geteilte Erfahrungen aus der eigenen Lebenswelt? –, widersprachen einige der älteren Teilnehmenden dem zum Teil heftig. »Ich hab’ das Gefühl, dass ihr euch schämt, links zu sein«, konstatierte ein Aktivist und Sozialarbeiter unter dem lauten Beifall seiner Fürsprecher und forderte ferner, auch weiterhin kanonisierte Autoren linker Theoriebildung zu studieren, Zusammenhänge in der Welt abzuleiten und zu erkennen, schließlich die Unterschiede im politischen Bewusstsein als Ausgangspunkt des eigenen Engagements zu nehmen. Sie zu nivellieren, sei schließlich das eigentliche Ziel einer radikalen Linken. Ein gänzlich selbstreferenzieller Ansatz führe hierbei allerdings kaum weiter.

Mit einer vollendeten Subkultur und einer breitenwirksamen autonomen Gewerkschaftsstruktur als den beiden Polen, zwischen denen sich die Debatten bewegten, konstituierte sich am Ende des »Selber machen«-Kongresses also eine radikale Linke, die dem Eindruck einer militanten Selbstgenügsamkeit, wie er nicht zuletzt um den G20-Gipfel zu Tage trat, widerspricht. Vielleicht ist doch mehr in Bewegung, als ein Blick auf die Hamburger Barrikaden suggerieren mag.

[1] O.V.: Die Radikale Linke muss sich selbst brechen, in: Autonomie Magazin, 03.04.2017, URL: https://linksunten.indymedia.org/de/node/208456 [eingesehen am 01.08.2017].

[2] O.V.: Für eine Grundlegende Neuausrichtung Linksradikaler Politik, in: Lower Class Magazin, 27.07.2016, URL: http://lowerclassmag.com/2016/07/fuer-eine-grundlegende-neuausrichtung-linksradikaler-politik/ [zuletzt eingesehen am: 01.08.2017].

[3] Eine Auflistung der von den Organisatoren zusammengestellten Strategiepapiere findet sich unter URL: https://www.selbermachen2017.org/deu#auswertung [eingesehen am 01.08.2017].

[4] O.V: Aufruf zu »Selber machen – Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie«, URL: https://www.selbermachen2017.org/deu#aufruf [eingesehen am 01.08.2017].

[5] Vertreten waren Kollektiv Bremen, Malaboca Kollektiv (Frankfurt a.M). und Antifa Kritik und Klassenkampf (Frankfurt a.M.), vgl. o.V.: Für eine Grundlegende Neuausrichtung Linksradikaler Politik, in: Lower Class Magazin, 27.07.2016, URL: http://lowerclassmag.com/2016/07/fuer-eine-grundlegende-neuausrichtung-linksradikaler-politik/ [eingesehen am 01.08.2017]. Vgl. Marco: »Zwischen einfach nur darüber Reden und es tatsächlich tun liegen Welten«, Interview von Malaboca Kollektiv, in: Lower Class Magazin, 27.04.2017, URL: http://lowerclassmag.com/2017/04/zwischen-einfach-nur-darueber-reden-und-es-tatsaechlich-tun-liegen-welten/ [eingesehen am 01.08.2017].