Der Extremismusbegriff erfreut sich in der Forschung keiner sonderlichen Beliebtheit. Er ist bekanntlich unterschiedlicher Kritik ausgesetzt. Das gilt zumal für die vergleichende Extremismusforschung, wie sie etwa der Verfasser verficht.[1] Die Angst ist verbreitet, durch den Vergleich werde die rechte Variante des Extremismus relativiert. Auch Wolfgang Kraushaar von der »Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur« hat sich kürzlich in den Reigen der scharfen Kritiker eingereiht. Im Anschluss an die linksextremistischen Ausschreitungen auf dem G20-Gipfel im Juli 2017 attackierte Kraushaar in der Süddeutschen Zeitung den Extremismusbegriff und dessen Anwendung.[2] Der Staat mache einen schweren Fehler, wenn er sich auf das Extremismuskonzept stütze; der Begriff diene der Etikettierung und spreche die »Mitte« von jedweden antidemokratischen Auffassungen frei. Diese Position Kraushaars, der selber die paradox anmutende Wendung vom »Extremismus der Mitte« gebraucht,[3] muss verwundern.[4] Schließlich stammen von ihm eine Vielzahl an Publikationen zur 68er-Bewegung[5] und zum deutschen Terrorismus[6], die frei von Apologie sind und sogar heiße Eisen anfassen, wie etwa die Frage nach dem Zusammenhang von linker Ideologie und Antisemitismus.[7]

Kraushaar hat im Herbst 2017, vierzig Jahre nach dem »deutschen Herbst« 1977, ein fast 500-seitiges Werk zu den »blinden Flecken der RAF« herausgebracht und im Frühjahr 2018, fünfzig Jahre nach »68«, ein mehr als 500-seitiges Werk zu den »blinden Flecken der 68er-Bewegung«. Das konnte selbst bei einem so fixen Autor nur deshalb geschehen, weil die Beiträge z.T. Nachdrucke sind. Aber nicht genug damit: Im Frühjahr 2018 legte Kraushaar zudem eine kleine Schrift zur Bilanz dieser Jugendkohorte vor.

Die »blinden Flecken« in den Untertiteln der beiden Kompendien irritieren etwas. Was ist damit gemeint? Wer Erkenntnislücken zu schließen sucht, muss nicht nur in der Sache bewandert sein, sondern auch ergebnisoffen vorgehen. Das tut Kraushaar. Zu »blinden Flecken« etwa zählen die Anfänge des aus der 68er-Bewegung entstandenen Terrorismus, die Rolle der wenig aufgearbeiteten NS-Vergangenheit für die 68er wie für die Terroristen, der lange vernachlässigte Antizionismus. Zu Recht heißt es bei dem Autor, nicht die Aufklärung ungelöster Fälle (Wer erschoss wen?) stehe im Vordergrund seiner Darstellungen (dies ist in der Tat nicht die Aufgabe von Politikwissenschaftlern). Ebenso begründet besteht seine Absicht vielmehr darin, Defizite in der Analyse und Bewertung zu erhellen.

Zum Buch über die RAF: In fünf Kapiteln – Anfänge, Stationen, Faktoren, Vergangenheit, Beendigung – beleuchtet Kraushaar u.a. »Terrorismus und Avantgarde«, »Faszinosum Militanz«, »Sartre in Stammheim«, »Die RAF und die Frauen« sowie die zeitgeschichtliche Bedeutung der Justizvollzugsanstalt Stammheim. Bereits eine solche Enumeration zeigt die Heterogenität der 14 Texte. Das Wort vom Flickenteppich mag zu hart sein, doch fällt das Diktum Stefan Austs auf dem Schutzumschlag zu wohlwollend aus: »Kraushaars glasklare Analyse zeigt, wie sich in der RAF die deutsche Nachkriegsgeschichte spiegelt.« Diesen Anspruch erhebt der Autor ohnehin nicht.

Gleichwohl: Das Urteil über die einzelnen Aufsätze mit ihrem umfangreichen Anmerkungsapparat fällt besser aus als das über den gesamten Band. Die Urteilskraft Kraushaars beeindruckt. Das gilt etwa für die Entstehung der RAF, die ohne jene oft als »Spaßguerilla« verharmlosten Kräfte um Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel schwerlich erklärbar ist. Wie das Kapitel über »Die RAF und ihre Anwälte« verdeutlicht, war die Geschichte der RAF auch die Geschichte ihrer juristischen Verteidiger. Die Weitergabe eines Kassibers durch den späteren Innenminister Otto Schily sei gut möglich gewesen. Für den Schweigekodex fast aller RAF-Terroristen bis zum heutigen Tag macht Kraushaar maßgeblich Brigitte Mohnhaupt verantwortlich, wie überhaupt der ungewöhnlich starke weibliche Einfluss ausgeleuchtet wird. Und im Wandel von Horst Mahler, einst einer der RAF-Gründer, zum harten Rechtsextremisten, sieht Kraushaar zugleich Kontinuitätselemente: Antikommunismus, Antizionismus bzw. Antisemitismus, Antiliberalismus.[8] Für ihn, Mahler, und nur für ihn, war der Begriff »Terrorismus« nicht negativ konnotiert.

Zum Buch über die 68er: Der selbst aus der 68er-Bewegung Kommende ordnet sie mit Sinn für Zwischentöne realistisch ein. Der Wandel durch die 68er fiel im soziokulturellen Bereich stärker als im sozioökonomischen aus; und die Folgen entsprachen nicht ihren Intentionen. In seinen empirisch dichten, analytisch tiefschürfenden Beiträgen wahrt der Autor Distanz – zu den Protagonisten der 68er ebenso wie zu ihren schneidenden Kritikern. Nach der Einleitung »Die romantische Revolte« folgen sechs Kapitel mit insgesamt 17 Texten.

Die neueren der Beiträge dieser Anthologie zeigen die Originalität des Kraushaar’schen Denkens. Der Verfasser belegt die Tabuisierung der Gewaltfrage bei den einstigen 68ern, spürt der stufenweisen Entgrenzung der Gewalt nach – von »Regelverletzungen« über Gewalt gegen Sachen bis zur Gewalt gegen Personen. Selbst Rudi Dutschke, die Ikone der Bewegung, propagierte zeitweilig das Konzept der »Stadtguerilla« – wobei er dem Kampf im Untergrund aber eine entschiedene Absage erteilte.

Gewiss: Kohärente Studien sind so zwar nicht entstanden (vor allem fehlt ein Text zu den Spezifika der deutschen Protestbewegung im Vergleich zu anderen Ländern, wie überhaupt die internationale Interaktion zu kurz kommt); aber die überaus gut geschriebenen Beiträge regen an – zum Widerspruch, zur Zustimmung, jedenfalls zum Nachdenken. Der Erkenntniswert fällt beträchtlich aus. Diese Studien sind frei von Verklärung und Dämonisierung gleichermaßen. Den Autor, stets auf dem neuesten Stand der Forschung argumentierend, zeichnet ein mit Urteilskraft gesegnetes hohes Analysevermögen aus. Selbst die kundige Leserschaft erfährt Neues, während sich dem interessierten Laien die Zusammenhänge weniger erschließen.

Die vom Umfang dünne Schrift Kraushaars über »1968. 100 Seiten« wiederum stellt eine gelungene Synthese dar. Eingangs schildert der Historiker seine Zeitzeugenschaft in der 68er-Bewegung. Er war in der Bewegung als »in jeder Hinsicht undogmatischer Linker« (S. 7, Herv.i.Org.) aktiv, dem Kommunismus ebenso ablehnend gegenüberstehend wie der Sozialdemokratie. Sein Kernsatz lautet: »Die Erinnerungen und die Erfahrungen des einen sollten jedenfalls nicht einfach gegen die Einsichten und Erkenntnisse des anderen ausgespielt werden« (S. 4, Herv.i.Org.). Das Resümee seines Überblicks zu den vergangenen fünfzig Jahren im Zeitraffer läuft darauf hinaus, dass die seinerzeit gescholtene bürgerliche Gesellschaft keineswegs wandlungsunfähig war. »Würde jedenfalls heute ein ehemaliger 68er in der Öffentlichkeit damit aufwarten wollen, die Fabrikarbeiter zu einem Generalstreik aufrufen, den Springer-Verlag enteignen oder die repräsentative Demokratie durch ein Rätesystem ersetzen zu wollen, wäre vermutlich entweder betretenes Schweigen oder aber schallendes Gelächter das Resultat (S. 15).

Gleichwohl ruft die 68er-Bewegung heute noch große Emotionen hervor.[9] Für Kraushaar gilt Deutschland als ein »Sonderfall« (S. 27), weil hier die Bewegung so erbittert eine Veränderung der Gesellschaft angestrebt habe wie sonst nirgendwo. Es sei kein Zufall, »dass die bundesdeutsche Variante der 68er-Bewegung im zugespitztesten geopolitischen Resultat einer massenmörderischen NS-Machtpolitik nach 1945 entstanden ist, in dem von der DDR umgebenen, von sowjetischen Großmachtinteressen bedrohten und den West-Alliierten kontrollierten West-Berlin« (S. 28). In diesem Zusammenhang beruft Kraushaar sich auf Eric Hobsbawms »Zeitalter der Extreme«, obwohl er doch den Begriff des Extremismus verwirft.[10]

Der Hamburger Wissenschaftler unterscheidet bei den Protestlern zwischen Reformern und Revoluzzern, zwischen Gradualisten und Maximalisten. Hatten sich die Gradualisten auf die Durchsetzung von Reformvorhaben konzentriert, so bezog sich der Angriff der Maximalisten auf fünf Sphären: auf die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft (z.B. die bürgerliche Klasse), auf deren Institutionen (z.B. die Parlamente), auf deren Sozialisationsagenturen (z.B. die Universitäten), auf die Leistungsmechanismen (z.B. auf den Bruch mit dem bürgerlichen Wertekanon) und auf die psychosoziale Charakterstruktur (z.B. auf die Unterdrückung des Individuums).

Kraushaars politisches Fazit bezieht sich auf die Kritik am Vietnamkrieg, die Anti-Notstandsbewegung, die »Enteignet Springer«-Kampagne, die Schelte am Kapitalismus: »Den weitgehenden Misserfolgen in den politischen Nahzielen stehen spätere Achtungserfolge in sozialer, pädagogischer und kultureller Hinsicht gegenüber« (S. 87). Allerdings sind die positiven Wirkungen nicht immer so intendiert gewesen. Und die größere Liberalität in einigen Bereichen wurde mit Illiberalität in anderen erkauft.

Vielleicht verfasst Kraushaar, mittlerweile siebzig Jahre alt, noch eine Studie zum Extremismuskonzept, die selbstverständlich auch seine Kritik zur Geltung bringen soll. Wer über die 68er und die Terroristen schreibt, ist dafür schließlich bestens prädestiniert. Im Grunde stellt der politische Extremismus das Missing Link zwischen ihnen dar. Ist Kraushaars These wirklich richtig, nur der Radikalismusbegriff gestatte »eine differenzierte Analyse der sozialen, politischen und weltanschaulich-ideologischen Aspekte«[11]? Seine Begründung: Im Gegensatz zum statischen Extremismusbegriff besitze der des Radikalismus eine dynamische Signatur.[12]

Drei Einwände in Frageform: Ist die Differenzierung zwischen statisch und dynamisch sinnvoll, wenn es um die Ermittlung antidemokratischer Positionen geht? Besteht nicht die Gefahr, dass der ubiquitäre Gebrauch des vieldeutigen, keineswegs bloß negativ konnotierten Radikalismusbegriffes zu einer unangebrachten Vermengung von demokratischen und antidemokratischen Positionen führt? Warum will Kraushaar die antidemokratischen Kräfte – und dass es solche gab, leugnet er nicht – um keinen Preis als Extremisten apostrophieren? Darauf sollte er eine Antwort geben.

[1] Vgl. zuletzt Jesse, Eckhard/Mannewitz, Tom (Hrsg.): Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2018.

[2] Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Der Begriff »Extremismus« wird als Etikett missbraucht, in: Süddeutsche Zeitung, 02.08.2017.

[3] Vgl. bspw. ders.: Extremismus der Mitte. Zur Geschichte einer soziologischen und sozialhistorischen Interpretationsfigur, in: Lohmann, Hans-Martin (Hrsg.): Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation Frankfurt a.M. 1994, S. 23–50.

[4] Zur Kritik an Kraushaar vgl. Jesse, Eckhard: Grundlagen, in: Jesse/Mannewitz (Anm. 1), S. 23–58, insbes. S. 23–25.

[5] Vgl. Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail, 3 Bde., Hamburg 1998; ders.: 1968 – Das Jahr, das alles verändert hat, München 1998; ders.: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000; ders.: Fischer in Frankfurt. Karriere eines Außenseiters, Hamburg 2001; ders.: Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008.

[6] Vgl. ders. (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006; ders.: Verena Becker und der Verfassungsschutz, Hamburg 2010.

[7] Vgl. ders.: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005; ders.: »Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?« München 1970: Über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus, Reinbek 2013.

[8] Vgl. in diesem Sinne auch Fischer, Michael: Horst Mahler. Biographische Studie zu Antisemitismus, Antiamerikanismus und Versuchen deutscher Schuldabwehr, Karlsruhe 2015.

[9] So versteht sich die AfD in der Tat als eine Anti-68er-Partei. Aber ist es richtig, die Rechtspopulisten pauschal als »neue Feinde der Demokratie« (S. 18) zu apostrophieren?

[10] Das Paradoxe besteht nun darin, dass für den Marxisten Hobsbawm der zentrale Gegensatz nicht zwischen Extremismus und demokratischem Verfassungsstaat besteht, sondern zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Insofern führt der Titel auf eine falsche Fährte. Vgl. Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 2015.

[11] Kraushaar (Anm. 2).

[12] Andere Autoren, wie Samuel Salzborn oder Klaus Schroeder, unterscheiden ebenfalls zwischen statisch und dynamisch, beziehen sich damit aber ausschließlich auf den Extremismusbegriff. Hier ist der Vorteil der Differenzierung auch nicht erkennbar.