Die Sowjetunion respektive der russische Nachfolgestaat war in der Geschichte der deutschen Linken stets antikapitalistischer Sehnsuchtsort und stalinistisches Schreckgespenst zugleich. Dass ihr Verhältnis zueinander ambivalent bleibt, zeigt sich aktuell mit besonderer Deutlichkeit anhand des anhaltenden Ukrainekriegs. So provozierte Sahra Wagenknecht, die nicht zum ersten Mal durch ihre Aussagen zu Stalinismus und DDR auffiel,[1] Parteigenoss:innen durch ihre Äußerungen zur russischen Invasion und ihren Folgen.

Ein »beispielsloser Wirtschaftskrieg« würde durch die Bundesregierung geführt, die Abhängigkeit von russischer Energie sei weiterhin alternativlos, weswegen Wagenknecht die Aufnahme von Verhandlungen »in Russland mit Russland über eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen« forderte – wenig überzeugend wirkte ihre Einlassung, dass der Krieg »ein Verbrechen«[2] Russlands darstelle. Der grüne Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak bezeichnete Wagenknecht daher als »oberste Kremllobbyistin«[3]. Bereits im Vorfeld kam es in der Partei Die Linke zu Diskussionen darüber, ob Wagenknechts Positionen sich mittelfristig zu einem Schisma der Partei auswachsen könnten.[4] Erste Parteiaustritte erfolgten bereits.[5]

Diese Episode steht sinnbildlich für eine intellektuelle Suchbewegung, die sich durch die gesamte Linke zieht und auch in ihren radikalsten Teilen geführt wird. Selbst die Zeitschrift konkret, die sich als »einzige linke Publikumszeitschrift Deutschlands«[6] und aufgrund ihrer israelsolidarischen Orientierung nicht als Teil des antiimperialistischen und tendenziell russlandfreundlichen Spektrums versteht, ist vor derlei ideologischen Erschütterungen nicht gefeit. Dass die Sowjetunion lange als antiimperialistischer und -kapitalistischer Widerpart der USA und den mit ihnen verbündeten Staaten galt, erklärt manche Unsicherheit auch in der heutigen Bewertung der geopolitischen Auseinandersetzung.

Dieser Artikel soll anhand der konkret erste Schlaglichter darauf werfen, wie innerhalb der radikalen Linken die russische Invasion in die Ukraine diskutiert wird. Nachgeordnet können hierdurch konkurrierende Deutungsmuster innerhalb der radikalen Linken identifiziert werden, welche Einblicke in das jeweilige Weltbild der Protagonist:innen erlauben.

Russischer Bär oder Mütterchen Russland?

Noch im Jahr 2021 erschien die Möglichkeit eines Krieges in und um die Ukraine laut den in konkret veröffentlichten Artikeln wie ein Hirngespinst. Stimmen, die vor einer Eskalation des seit der Annexion der Krim schwelenden Konflikts warnten, wurde unterstellt, im globalen Kampf um Einflusssphären ein militärisches Vorgehen gegen Russland zu popularisieren.[7] Die Ukraine würde demnach zum Austragungsort eines geopolitischen Konflikts; ein »permanenter Kriegszustand niedriger Intensität« würde hier von den Konfliktparteien, »dem Westen« und Russland, ausgetragen.[8] Der NATO und den USA wird – mal mehr, mal weniger explizit – die Rolle eskalierender Kräfte zugeschrieben: Die USA seien eine »abgetakelte Hegemonialmacht […], die sich partout nicht mit ihrem weltpolitischen Abstieg abfinden kann«[9]. Insgesamt sei das gesellschaftspolitische System, das durch die Vereinigten Staaten maßgeblich repräsentiert würde, an sein Ende gekommen:

»Die neoliberale Demokratie ist aufgrund der sich zuspitzenden sozioökonomischen Krise die Vergangenheitsform vermittelter kapitalistischer Herrschaft. Wo der Staatszerfall noch nicht eingesetzt hat, ist der autoritäre Krisenkapitalismus das Modell der Zukunft.«[10]

Russland hingegen reagiere lediglich auf Provokationen der Nordatlantiker:innen.[11] Dass die 2021 in konkret dargelegte Perspektive von einer grundlegend – und einseitig – verständnisvollen Anteilnahme für die russische Führung geprägt war, zeigt dieses emphatische Plädoyer exemplarisch: »Wenn es für Russland existentiell bedrohlich wird, schlägt der Staat, wie jeder andere auch, zurück.«[12]

Pointiert werden diese Positionen durch den Journalisten Jörg Kronauer im Leitartikel der März-Ausgabe. Noch am Vorabend des Kriegsbeginns – der Redaktionsschluss lag offenbar vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 – fragt Kronauer rhetorisch: »›Putin‹ umzingelt den Westen, um in Nato-Staaten einzumarschieren? Da hatten die Rechercheure des Sturmgeschützes der deutschen Kriegstreiberei mal wieder blanken Nonsens aufgedeckt.«[13] Fürchten müsse sich vielmehr Russland, dass die durch die NATO aufgerüstete Ukraine die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurückerobern könnte. Auch das systematische Agieren von USA und NATO in Osteuropa gefährde das Sicherheitsbedürfnis Russlands, sodass, »wenn für alle ein tragbarer Ausgleich geschaffen werden soll, erhebliche Zugeständnisse nötig«[14] würden. Die Suggestion Kronauers, Russland würde allein aufgrund machtpolitischer Kalkulationen nicht den bewaffneten Konflikt provozieren, erwies sich als falsch. Durch die russische Invasion wurden neue Fakten geschaffen, die fortan intensiv in der konkret diskutiert werden sollten.

Die April-Ausgabe markiert den kontroversen Höhepunkt der Debatte, die nicht frei von wechselseitigen Polemiken ist. Der Journalist Lars Quadfasel sollte zum schärfsten Kritiker der bislang in der konkret vertretenen Position avancieren: »Klar, einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit dem Titelbild ›Nato-Aggression gegen Russland‹ zu erscheinen [sic!] ist schon einigermaßen peinlich.«[15] Weiter beanstandet er den aus seiner Perspektive mangelhaften Umgang der Redaktion mit Kronauers Analyse, welche diese nicht als generell falsch ansähe. Quadfasel sieht indes Anlass, den »analytischen Rahmen, der zu derart kolossalen Fehlurteilen führt, einer grundsätzlichen Kritik zu unterwerfen.«[16] Ihm sei nicht einsichtig, weswegen »man sich allerdings als Kritiker von Staat und Kapital in die ›Sicherheitsinteressen‹ ausgerechnet der größten Atommacht [gemeint ist Russland, Anm.d.Verf.] der Welt einfühlen soll.«[17] Ohnehin gelte mittlerweile auch im größten Nachfolgestaat der Sowjetunion das »Primat des Kapitals«[18], ein Außen des Kapitalismus gäbe es folglich nicht, die Systemauseinandersetzung, die lange – und zuweilen widerwillig – die Solidarität deutscher Linker mit Russland begründete, sei demnach einem innerkapitalistischen Verteilungskampf gewichen.

Quadfasel wird von seinem journalistischen Kollegen Justin Monday sekundiert, der bezugnehmend auf Kronauer fragt: »Versteht der Antiimperialismus die Welt nicht mehr?«[19] Monday zufolge ignorierten und verharmlosten tatsächliche oder vermeintliche Russland-Apologet:innen dessen »aggressiven Nationalismus«[20], insbesondere »in einer Zeitschrift, deren Klammer immer darin bestand, Kritik der hiesigen Vaterländerei nicht mit der Suche nach einem anderen Vaterland zu verbinden, ohne in abstrakten Pazifismus zu verfallen.«[21] Lösungsansätze könnten demzufolge nicht in »entgegengesetzter Parteinahme«[22] liegen. Der Ukrainekrieg wird von Monday als Krisensymptom der abgeschlossenen globalen »Durchkapitalisierung« interpretiert. In diesem würde das weltweite Kapital nicht um »Einflusssphären« kämpfen, sondern hier und bei anderen Konflikten handele es sich um »Symptome der Weltherrschaft des Kapitals«[23]. Folglich müsse ein »antiimperialistischer Bezugsrahmen«[24], der stets auf einen Widerpart des zu bekämpfenden Imperiums angewiesen sei, an der neuen Gegenstandslosigkeit seiner Perspektive scheitern:

»Imperialismus gibt es heute allein schon deshalb nicht mehr, weil es keine nichtkapitalistischen Weltmilieus mehr gibt, und in der Nato haben sich die ehemaligen imperialistischen Mächte eine Form gegeben, die die Konkurrenz zwischen ihnen aufhebt.«[25]

Monday und auch Quadfasel kritisieren damit unisono die vermeintlich manichäische Weltsicht kontemporärer Antiimperialist:innen. Diese neigten, so ihre Kritiker, zu einem »begriffsstutzig« gewordenen Antiimperialismus, der sich auf die »Fetischisierung des herrschaftlichen Willens konzentriert.«[26] »Opposition gegen Staat und Vaterland« müsse vielmehr auch ohne »das Zerrbild einer hinter sämtlichen Übeln steckenden Schurkenarmee«[27] möglich sein.

Diese Intervention bleibt jedoch auch in der April-Ausgabe nicht unwidersprochen. Der Politikwissenschaftler und DKP-Politiker Georg Fülberth stellt das Argument der Kritiker um: Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem damit verbundenen Ende des Kalten Krieges kehre »der Imperialismus« in neuer Form zurück. Die Triebfedern des kapitalistischen Wirtschaftens, Waren- und Kapitelexport sowie die damit verbundene Überakkumulation, würden dafür sorgen, dass der Kampf um Absatzmärkte unvermittelt fortgeführt würde – notfalls auch militärisch. Neu sei hingegen, dass Russland nach dem Ende des Sozialismus als ein »imperialistischer Zombie«[28] agiere und in die Staatenkonkurrenz des Kapitalismus eintrete. Vor dieser Interpretation wird der Ukrainekrieg begreifbar als Schauplatz eines »imperialistischen Krieges«, der aufgrund der »neoimperialistische[n] Konkurrenz« [29] der globalen Machtblöcke ausgebrochen sei.

Auch Kronauer äußert sich erneut: Zwar führt er an, dass es illegitim sei, in der internationalen Arena auf das Mittel des Krieges zurückzugreifen und dass »großrussischer Nationalismus«[30] eine Triebfeder der Invasion gewesen sei, diese Einlassungen wirken jedoch aufgrund des weiterhin bestehenden Ungleichgewichts in der Bewertung der handelnden Akteur:innen wenig überzeugend. Durch geschicktes Argumentieren stellt er weiterhin die Frage nach den Schuldigen für die Eskalation und antwortet eindeutig: Lange sei das Handeln der russischen Führung durch »Geostrategie« motiviert gewesen, nun hingegen »geht es dem Westen um alles«, in einem »beispiellosen Wirtschaftskrieg«[31] solle Russland in die Knie gezwungen werden.

Kronauer steht mit dieser Position in der konkret keineswegs alleine dar: So wird von anderen Autor:innen etwa wahlweise die besondere Härte der deutschen Haltung, die sich durch einen »inquisitorischen Ton«[32] äußere und durch einen historisch gewachsenen Antikommunismus befördert werde, hervorgehoben. Dass »die westliche Expansionsstrategie« an ihr Ende geraten sei, sei demnach ebenso evident wie der Umstand, dass »das vermutliche Scheitern des westlichen Königswegs zur Weltverbesserung der eigentliche Anlass der momentanen Erregung«[33] sei. Eine relativierende Perspektive ist Kennzeichen dieser Argumentation: »Ähnlich verhält es sich mit der Bewertung des völkerrechtswidrigen Verhaltens Russlands. Es ist allgemein bekannt, dass in der Ukraine geschieht, was der Westen über Jahrzehnte immer mal wieder praktizierte.«[34]

Restauration des Antiimperialismus?

Zu diesen anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten bezüglich der Frage nach dem Verhältnis zu Russland tritt eine tieferliegende, ideologische Grundsatzdebatte hinzu. Die Diskutant:innen treten ab Mai 2022 in eine intensive Phase der Selbstfindung und -vergewisserung ein, die sich entlang des jeweiligen Imperialismusverständnisses entzündet und zu einer Auseinandersetzung zwischen linksradikalen Deutungsschulen führt: Anhand der (Neu-)Auslegung antiimperialistischer Theorie findet eine Spaltung innerhalb der radikalen Linken statt, beide Seiten bezichtigen sich wechselseitig des Relativismus oder der theoretischen Ungenauigkeit.[35] So wird Quadfasel in einer Kritik der Kritik vorgeworfen, dass dieser den Imperialismus »in seinen Voraussetzungen, seiner Struktur und seinen Abläufen nicht begriffen« habe und den »Systemcharakter«[36] des Krieges übersehe. Den »Imperialismus als analytischen Begriff aber einfach fallenzulassen«, sei demnach »zu viel der Zauberei.«[37] Dieser würde nicht durch die einseitige Agenda eines Staates in die Welt getragen, sondern entstehe durch die zwischenstaatliche Konkurrenz. Die Pole der Diskussion scheinen – auch aufgrund der starken Moralisierung der Debatte[38] – kaum vereinbar. Der Appell, die Linke müsse »eine Analyse der gegenwärtigen kapitalistischen Staatenkonkurrenz zustande bringen, die die Situation der postsowjetischen Republiken einbezieht«[39], scheint unter diesen Vorzeichen schwer umsetzbar – von partikularen Interpretationen und den sie vertretenden Gruppierungen abgesehen.

Die anhand der konkret nachgezeichnete ideologische Suchbewegung kann sich auch praktisch und organisational auf die radikale Linke auswirken. Eine Welle der Reideologisierung, die sich anstatt an den jüngsten identitätspolitischen Konflikten am Diskurs über Materialismus und Marxismus nährt, könnte die Folge sein.[40]

»Im Begriff Opportunismus«, so die Kritiker:innen aus linksradikalen Bewegungen,

»steckt die Gelegenheit. Bei jedem größeren Ereignis brechen Ambivalenzdenker, hörbar ergriffen vom eigenen Mut, ihr Schweigen und fordern ein Umdenken. Linke Gewissheiten sollen entsorgt werden, vorgeblich, weil sie zu wenig gewiss, tatsächlich, weil sie zu links sind. Kämpferisch wird der Kampf begraben.«[41]

Opportunist:innen seien demnach auch Aktivist:innen jenseits der Kriegsdebatte, beispielsweise aus dem »Fridays for Future«-Spektrum, welche durch »emotionale Moralität« und »Identitätspolitik« herrschende Verhältnisse stabilisierten; ihre Politik sei gekennzeichnet durch »ihre appellative Form [und] den Charakter der politischen Affirmation.«[42]

Dass die Debatte eher das Potenzial hat, eine weitere Spaltung voranzutreiben, als eine vereinigende und verbindliche Perspektive in der gegenseitigen Auseinandersetzung zu schärfen, zeigt sich anhand der Eskalation des Konflikts innerhalb der konkret-Autorenschaft. Mehrere Autor:innen – darunter auch Quadfasel und Monday – verließen die Zeitschrift als Reaktion auf deren »redaktionellen Kurs zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine«[43]. In ihrer entsprechenden Erklärung wird die bisherige Doppelstruktur der Debatte reproduziert: Einerseits stößt den konkret-Dissident:innen die »Stilisierung Russlands zum unschuldigen Opfer« auf; Russland würde weiterhin als ein »Hort des Widerstands« gegen das kapitalistische System dargestellt, diese Fehleinschätzung sei »analytisch wie moralisch« nicht zu rechtfertigen. Die Exkulpation Russlands reiche bis zur Holocaust-Relativierung. Andererseits wird hier das bereits bekannte Argument der vollständigen globalen Ausbreitung des Kapitalismus wiederholt, eine »Kritik der politischen Ökonomie« könne so nicht geleistet werden. Die Autor:innen schließen: »Bei Konkret hingegen muss man sich, wenn man das Gleiche will, unbedingt als Staatsfeind inszenieren.«

Die im »Diesseits der roten Linie«[44] verbliebenen Autor:innen indes beschränken sich auf eine theoretisierende Replik, welche den neuralgischen Punkt der bisherigen Debatte, ihr Verhältnis zu Russland, bewusst ausklammert. Stattdessen führen sie niemand Geringeren als die Granden antiimperialistischen Denkens ins Feld: Mit dem russischen Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin und der deutschen Kommunistin Rosa Luxemburg wird argumentiert, weswegen der Imperialismus »als analytische Kategorie«[45] weiterhin Gültigkeit beanspruche. Damit einher geht eine veränderte Wahrnehmung Russlands, das in der »Ära des Krisenimperialismus«[46] stärker als imperiales Machtzentrum begriffen wird – weiterhin nicht ohne relativierende Zwischentöne auszukommen: »Der Kreml führt seinen Krieg in der Ukraine, um Russlands Status als imperiale Macht zu halten. Die USA provozierten den Krieg, um Hegemonialmacht bleiben zu können.«[47] Die Konsequenz – hier wird die These des Kampfgefährten von Luxemburg, Karl Liebknecht, vom »Hauptfeind«, der im eigenen Lande steht, bemüht – bestünde in einem Umschlag in aktivistische Praxis. Eine solidarische internationale Perspektive müsse bedeuten, das Kapital auch in Deutschland zu bekämpfen: »Vielmehr ist es nach wie vor die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der radikalen Linken, der herrschenden Klasse im jeweils eigenen Land in den Rücken zu fallen.«[48] Eine »drastische Verschärfung des Klassenkampfes«[49] wäre die angemessene Reaktion. Hier werden nun also auch die Stimmen innerhalb der konkret hörbar, die sich deutlich sowohl von »dem Westen« als auch von Russland distanzieren. Jedoch:

»Eine konkrete internationale Perspektive leitet sich aus diesen Phänomenen noch lange nicht ab. Mehr noch: Die Parole ›Der Hauptfeind steht im eigenen Land‹ reicht nicht mehr. Trotzdem wird man zu handeln anfangen müssen, als gälte die Parole noch.«[50]

Die Etablierung eines »radikalen, antikapitalistischen Krisenbewusstseins in der konkreten Praxis«[51] ist demnach das angestrebte Ziel der Kommentator:innen; gegenwärtige Krisen werden demnach zu Gelegenheiten, gesamtgesellschaftlich zu intervenieren und eigene Positionen zu verbreiten.

Resümee

Die bisherige Debatte in der konkret verdeutlicht das Dilemma, mit dem (nicht nur) die radikale Linke in zweifacher Weise konfrontiert ist: Einerseits herrscht aktuell wie auch historisch große Uneinigkeit darüber, wie das Verhältnis zu Russland respektive der Sowjetunion zu gestalten ist. Das Konkurrenzverhältnis Russlands zu den USA lässt für viele den osteuropäischen Widerpart als vermeintliche (System-)Alternative attraktiv erscheinen. In der Diskussion schimmern somit auch antiamerikanische Ressentiments sowie die Rolle Russlands relativierende Argumente durch. Andererseits verweist die Debatte auf ein weitaus tieferliegendes Schisma: Das eigene Verständnis des Antiimperialismus. Antiimperialistische Politik, hierüber herrscht innerhalb der radikalen Linken weitgehend Einigkeit, müsse fester Bestandteil einer »sozialrevolutionären Praxis«[52] sein. Ein gemeinsames Verständnis darüber, was Antiimperialismus (jüngst auch Internationalismus) bedeutet und wie diese Praxis aussehen könnte, gibt es hingegen nicht. Dass sich in der konkret eine Kritik herausbildet, die von den Klassikern der Imperialismustheorie ausgeht, scheint auf eine Renaissance materialistischen Denkens hinzudeuten, die den Themen derzeit populärer Protestbewegungen mitunter entgegensteht. Die zyklische Wiederholung dieser und ähnlicher Debatten nach »68«, in denen der Antiimperialismus bereits eine Triebfeder darstellte, deutet jedoch auch darauf hin, dass sich eine baldige Einigung nicht abzeichnet. Dass sich zudem weder die konkret-Autor:innen noch ihre Kritiker:innen als dezidierte Antiimperialist:innen verstehen, diese vielmehr leidenschaftlich ablehnen, macht die begriffliche Konfusion perfekt und verdeutlicht im Verbund mit der hier vorgelegten hermeneutischen Tiefenbohrung, dass die ideologischen Verwerfungen innerhalb der radikalen Linken wesentlich tiefer reichen als zur bekannten Frontlinie zwischen (tendenziell russlandfreundlichen) Antiimperialist:innen und (pro-israelischen /USA-freundlichen) Antideutschen.

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Quellen::
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Wagenknecht, Sahra: Wirtschaft und Klimaschutz, in: bundestag.de, 8.09.2022, URL: https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7538772#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk/dmlkZW9pZD03NTM4Nzcy&mod=mediathek [eingesehen am 25.01.2023].

[1]Vgl. Wagenknecht, Sahra: Bis heute habe ich die Solidarität nicht vergessen, in: sahra-wagenknecht.de, 4.10.2009, URL: https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/618.bis-heute-habe-ich-die-solidaritaet-nicht-vergessen.html [eingesehen am 25.01.2023].

[2]Vgl. die Rede von Sahra Wagenknecht im Deutschen Bundestag: Wagenknecht, Sahra: Wirtschaft und Klimaschutz, in: bundestag.de, 8.09.2022, URL: https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7538772#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk/dmlkZW9pZD03NTM4Nzcy&mod=mediathek[eingesehen am 25.01.2023].

[3]Banaszak, Felix, zit. nach: Beucker, Pascal: Rechte entzückt über Wagenknecht, in: taz.de, 8.09.2022, URL: https://taz.de/Verstoerende-Rede-im-Bundestag/!5880882/ [eingesehen am 25.02.2023].

[4]Vgl. ebd.

[5]Vgl. O.V.: Finanzexperte De Masi verlässt die Linken,
in: Spiegel Online, 13.09.2022, URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-finanzexperte-fabiode-masi-verlaesst-die-partei-a-1fafbee3-ad4f-43e2-a77e-1d2a1f402720 [eingesehen am 25.01.2023].

[6]Konkret: Über Konkret, in: konkret-magazin.de, URL:
https://www.konkret-magazin.de/ueber [eingesehen am 25.01.2023].

[7]Vgl. Kronauer, Jörg: War Games, in: konkret, H. 6/21, S. 34–37.

[8]Simon, Paul: Frontrunner, in: konkret, H. 7/21, S. 36–37.

[9]Konicz, Tomasz: Das Imperium fällt zurück, in: konkret H. 8/21, S. 18–19, hier S. 18.

[10]Konicz: Das Imperium fällt zurück, S. 19.

[11]Vgl. Simon.

[12]Simon, S. 17.

[13]Kronauer, Jörg: Go East!, in: konkret H. 3/22, S. 12–16, hier S. 12.

[14]Kronauer: Go East!, S. 14.

[15]Quadfasel, Lars: Gegen Bescheidwisserei, in: konkret, H. 4/22, S. 23–25, hier S. 23.

[16]Ebd.

[17]Ebd.

[18]Quadfasel, S. 24.

[19]Justin, Monday: Geisterimperialismus, in: konkret, H. 4/22, S. 20–22, hier S. 20.

[20]Monday, S. 21.

[21]Monday, S. 22.

[22]Ebd.

[23]Jeweils ebd.

[24]Ebd.

[25]Ebd.

[26]Ebd.

[27]Quadfasel, S. 24.

[28]Fülberth, Georg: Von Marokko nach Hiroshima, in: konkret, H. 4/22, S. 19.

[29]Konicz, Tomasz: Auf zum letzten Gefecht, in: konkret, H. 4/22, S. 10–12, hier S. 11.

[30]Kronauer, Jörg: Nachts sind alle Kriege grau, in: konkret, H. 4/22, S. 14–18, hier S. 15.

[31]Jeweils Kronauer: Nachts sind alle Kriege grau, S. 16.

[32]Surmann, Rolf: Abdankung der Vernunft, in: konkret, H. 5/22, S. 14–17, hier S. 14.

[33]Jeweils Surmann, S. 15.

[34]Surmann, S. 16.

[35]Am kompromisslosesten bei Surmann, S. 17, der erneut den ideologischen Stellenwert der antiimperialistischen Konfliktausdeutung betont: »Sie sprechen ungeniert davon, dass die nach 1989 vom Westen überfallenen Staaten allesamt autokratisch regiert gewesen seien, und schreiben ihm so ein Befreier-Image zu. Das sind Sätze aus dem Poesiealbum des Imperialismus. Auf jeden Fall scheint die Neuaufstellung der Linken für die nächste Austragungsrunde der imperialistischen Konkurrenz längst im Gange zu sein. Aufseiten der Vernunft wird man einige dann nicht mehr finden«.

[36]Bartels, Felix: Krieg als Gelegenheit, in: konkret, H. 5/22, S. 18–19, hier S. 18.

[37]Jeweils Surmann, S. 17.

[38]Vgl. etwa Bartels, S. 19: »Und nun? Bellizisten [Kriegstreiber, Anm.d.Verf.], Antiimps – alles eine Suppe? Im gedanklichen Defekt mögen sie einander gleichen, was Antiimps aber antreibt, sie dazu verleitet hat, Russlands Handeln falsch einzuschätzen, scheint doch etwas anderes als Opportunismus zu sein. Vielleicht tatsächlich das, wozu sie sich selbst bekennen, der Wunsch nach Frieden und Verständigung?«.

[39]Kasakow, Ewgeniy: Auf Stimmenfang, in: konkret, H. 7/22, S. 25.

[40]Hierfür stellvertretend sei beispielsweise die Beschreibung einer Veranstaltung zum Ukrainekrieg, auf der ukrainische Aktivist:innen von ihren Erfahrungen berichteten und durch einen linksradikalen Aktivisten konfrontiert wurden: »Veranstaltungen wie diese illustrieren die aktuelle Bredouille der bundesdeutschen Linken recht gut. Man hat sich vorgenommen, den ›authentischen Stimmen‹ zuzuhören und nicht mit eigenen Erklärungen dazwischenzufunken. Solidarisch will man sein, offen und vor allem post- und antikolonial. Was aber tun, wenn einige der ›authentischen Stimmen‹ Positionen vertreten, die mit dem eigenen Theoriewissen nicht in Übereinstimmung zu bringen sind?« (ebd.).

[41]Bartels, S. 18.

[42]Jeweils Surmann, S. 16.

[43]Hier und im Folgenden: Ambs, Ramona et al.: Warum wir nicht mehr für Konkret schreiben, in: kontrast-mittel.org, URL: https://kontrast-mittel.org/2022/06/30/warum-wir-nicht-mehr-fur-konkret-schreiben/ [eingesehen am 01.02.2023]. Hervorhebung im Original.

[44]Ripplinger, Stefan: Diesseits der roten Linie, in: konkret, H. 8/22, S. 29.

[45]Heinelt, Peer: Was tun, wenn’s brennt?, in: konkret, H. 8/22, S. 26–28, hier S. 26.

[46]Konicz, Tomasz: Die Alternativimperialisten, in: konkret, H. 9/22, S. 13–15, hier S. 14.

[47]Konicz: Die Alternativimperialisten, S. 15.

[48]Heinelt, S. 28.

[49]Ebd.

[50]Klopotek, Felix: Linker Luxus, in: konkret, H. 9/22, S. 10–12, hier S. 12.

[51]Konicz: Die Alternativimperialisten, S. 15.

[52]Assoziation A: Herzschläge. Gespräche mit Ex-Militanten der Revolutionären Zellen, Berlin/Hamburg 2022, S. 12. Vgl. hierzu außerdem: Geronimo: Feuer und Flamme. Geschichte und Gegenwart der Autonomen, Amsterdam 1990, S. 211–214 und A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin/ Hamburg 2020, S. 122–128.