Die Extremismustheorie ist in Öffentlichkeit und Wissenschaft gelegentlich einer Kritik ausgesetzt. Dabei fällt immer wieder auf, dass deren Kernpositionen nicht selten einseitig bis falsch wiedergegeben werden. Nicht das, was die Extremismustheorie ausmacht, sondern das, was der Extremismustheorie von Kritikern unterstellt wird, bildet dabei den Bezugspunkt. Diese Einschätzung kann auch gegenüber dem Beitrag »Der blinde Fleck des Extremismus (-Begriffes). Überlegungen zu einer möglichen Alternative« von Jonathan Riedl und Matthias Micus formuliert werden.[1] Allein der Blick in die Fußnoten macht deutlich: Lediglich in einem von 25 Literaturverweisen wird auf eine Publikation von zwei Extremismustheoretikern verwiesen. Ansonsten referieren die beiden Autoren andere Kritiker, die wiederum ebenfalls eine einseitige bis falsche Sicht vortragen. In der vorliegenden Antwort auf Riedl/Micus sollen daher die Auffassungen der Extremismustheorie noch einmal erläutert und eine Kritik an der Kritik der Extremismustheorie formuliert werden.[2]

Ausgangspunkt und Grundpositionen der tatsächlichen Extremismustheorie

Der Ausgangspunkt der Extremismustheorie ist das Individuum und nicht der Staat. Der Blick in die Geschichte lehrt, dass Freiheit und Sicherheit für den Einzelnen am stärksten in auf Demokratie und Menschenrechten gründenden politischen Ordnungen realisiert werden. Als Grundlagen moderner Demokratien und offener Gesellschaften gelten im Sinne eines »übergreifenden Konsens« (John Rawls)[3] Abwählbarkeit und Gewaltenkontrolle, Individualitätsprinzip und Menschenrechte, Pluralismus und Volkssouveränität. Die Ablehnung dieser Prinzipien steht für das, was als »Extremismus« unabhängig von der Ideologie und Strategie verstanden wird. Demgemäß geht es der Extremismustheorie auch nicht um »Staatsnähe«[4]. Die Ausrichtung an den Normen und Regeln des demokratischen Verfassungsstaates erklärt sich lediglich durch dessen Gewährleistung von moderner Demokratie und offener Gesellschaft. Gegner der Extremismustheorie müssten übrigens begründen, warum für sie bei der Einschätzung eines politischen Phänomens dessen Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten uninteressant ist.

Die erläuterte Auffassung nimmt entgegen kursierender Behauptungen weder eine »Gleichsetzung von links und rechts« vor, noch geht es ihr um »eine Verharmlosung des Rechtsextremismus«. Angesichts der ideologischen Differenzen sowohl von »links und rechts« wie von linksextremistisch und rechtsextremistisch wäre eine solche Sichtweise absurd. Auch hinsichtlich des Gefahrenpotenzials wird nicht von einer Gleichsetzung ausgegangen. Die Extremismustheorie macht lediglich deutlich, dass die gemeinten politischen Akteure sich mit ihrem Denken und Handeln im Spannungsverhältnis zu den Prinzipien einer modernen Demokratie und offenen Gesellschaft befinden. Warum dies auf eine »Verharmlosung« des Rechtsextremismus hinauslaufen soll, erschließt sich nicht. Gerade die vergleichende Betrachtung von Links- und Rechtsextremismus macht erst die Unterschiede deutlich. Aus diesbezüglichen Erkenntnissen können dann differenzierte Einschätzungen zum Gefahrenpotenzial und zur Wirkung abgeleitet werden.

Ähnlich unangemessen ist die Auffassung, die Extremismustheorie trage dazu bei, »zivilgesellschaftliche Debatten und Aktionen, die das Ziel verfolgen, andere, demokratischere Formen des politischen und auch ökonomischen Zusammenlebens durchzusetzen, von vornherein durch Stigmatisierung und Kriminalisierung kleinzuhalten«. Denn die erwähnten Abgrenzungskriterien der Extremismustheorie sind wirtschaftspolitisch neutral, d. h. auch: Kapitalismuskritik wird nicht per se als linksextremistisch interpretiert; denn sofern die erwähnten Grundprinzipien moderner Demokratie und offener Gesellschaft geteilt werden, muss selbst die Forderung nach einer Überwindung dieser Wirtschaftsordnung nicht als extremistisch eingeschätzt werden. Anders verhält es sich, wenn die gemeinten politischen Akteure die Forderung nach einer sozialistischen Diktatur vortragen oder Gewalttaten unterschiedlicher Intensitätsgrade begehen. Eine »Kriminalisierung« von Letzterem wäre dann auch angemessen, handelt es sich doch unabhängig von der Absicht um Straftatbestände.

Die Irrelevanz der Rede von einer »Mitte« für die Extremismustheorie

Ein ebenfalls von Riedl und Micus vorgetragener Einwand läuft darauf hinaus, der Extremismustheorie die konstitutive Annahme, dass es eine »verfassungsbejahende politische Mitte gebe«, zuzuschreiben. Doch welcher Extremismusforscher nimmt über die »Mitte« eine Zuordnung vor? Davon kann nach einem Blick in die Literatur keinesfalls die Rede sein, denn die Kategorie ist für das ganze Konzept völlig irrelevant. Der Ausgangspunkt der Extremismustheorie besteht in der konstatierten Frontstellung der extremistischen Akteure gegen die Grundlagen moderner Demokratie und offener Gesellschaft, nicht gegen eine wie auch immer geartete »Mitte«. Insofern kann der Auffassung, wonach die »inhaltliche Bestimmung dieses Ortes recht beliebig ist«, ebenso zugestimmt werden wie dem Hinweis, wonach die »Definition der ›Mitte‹ abhängig von sozialen und kulturellen Kräfteverhältnissen und akuten politischen Konfliktlinien« bleibt. Genau deswegen findet in der Extremismustheorie ebendiese Kategorie mangels Klarheit und Trennschärfe auch gar keine Verwendung.

Dennoch findet man die Formulierung von einem »Extremismus der Mitte«, die auf einen Deutungsansatz von Seymour M. Lipset zurückgeht. Bei der Diskussion um diesen werden häufig ein politisches und ein soziales Verständnis durcheinandergeworfen. Für den ersten Fall steht die Formulierung »Extremismus der Mitte«, für den zweiten Fall »Extremismus aus der Mitte«. Was ist damit gemeint? Nach Lipset existierte neben einem linken und einem rechten Extremismus ein »Extremismus der Mitte«, womit er den Faschismus ansprach. Dieser stelle eine sowohl gegen Kapitalismus wie Sozialismus gerichtete Bewegung des Mittelstandes dar. Lipset rekurrierte darauf, dass die Angehörigen der erwähnten sozialen Gruppe überproportional stark faschistische Parteien wählten.[5] Spätere Forschungen bestätigten dies, wenn von der NSDAP als »Volkspartei mit Mittelstandsbauch«[6] die Rede war. Lipsets Aussage lautete: Der rechte Extremismus kommt aus der sozialen Mitte, womit auf die gesellschaftliche Herkunft abgestellt wurde.

Demnach handelte es sich nicht um eine politische Mitte, denn die soziale Mitte hatte sich hin zum politischen Rechtsextremismus entwickelt. Diese Erkenntnis widerspricht auch nicht der Extremismustheorie. Man kann mit ihrem analytischen Instrumentarium, das z.B. eine politische und soziale Dimension des Rechtsextremismus unterscheidet, sehr wohl auch extremistische Potenziale in der sozialen Mitte zur Kenntnis nehmen. Die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung haben deutlich gemacht, dass sich autoritäre oder fremdenfeindliche Denkweisen auch in der Mittelschicht finden.[7] Diese werden in einschlägigen Analysen sehr wohl zur Kenntnis genommen. Gleiches gilt indessen nicht primär für die Frage, inwieweit ebendort »postdemokratische Mentalitäten« (Colin Crouch) verbreitet sind.[8] Eine darauf bezogene Analyse wäre die Aufgabe anderer Forschungsfelder der Politik- und Sozialwissenschaften.

Die Erfassung von Wandlungsprozessen der Untersuchungsobjekte

Dennoch kursiert die Formulierung, mit der Extremismustheorie würden die »aktuellen Wandlungsprozesse der Untersuchungsobjekte« nicht erfasst. »Um solche Veränderungen konzeptionell zu integrieren, ist der Extremismus-Begriff denkbar schlecht gerüstet – basiert er doch auf der Zuschreibung eines bestimmten Ortes im politischen Raum, der als statisch begriffen wird.« Demnach könnten »dynamische Entwicklungen und […] das Werden und Vergehen von Erscheinungen« kaum eingefangen werden. Diese Kritik ist überaus diffus formuliert, bleibt doch das konkret Gemeinte unklar. Betrachtet man die Extremismusforschung, die auf der Extremismustheorie gründet, nur hinsichtlich eines Erkenntnisinteresses daran, dass die politischen Akteure in einem Spannungsverhältnis zu feststehenden Werten stehen, wäre ein solcher Einwand nachvollziehbar. Aber das ist nicht der Fall, geht es doch gerade um eine komparative Perspektive. Mit ihr lassen sich die Dynamiken und Neuorientierungen der Untersuchungsobjekte sehr wohl erfassen.

Damit kann man nicht nur Besonderheiten konstatieren, sondern ebenso Entwicklungen prognostizieren. Auch politische Extremismen sind »lernende Systeme«. Sie bewegen sich in der bestehenden Gesellschaft in einem sozialen Kontext, der die konkrete Hintergrundfolie zu vielfältigen Veränderungsprozessen bildet. Gleichzeitig nehmen Extremisten die »Konkurrenz« wahr: So kopierte etwa die Neonazi-Szene im Rechtsextremismus viele Organisations- und Strategieformen von den Autonomen im Linksextremismus. Dies gilt bspw. für die »Autonomen Nationalisten«, nur mit anderer Ideologie. Auch das »Kameradschafts«-Modell zur Organisation wurde von diesen übernommen. Damit reagierte man auf die staatliche Verbotswelle – sollten doch neue Formen der Organisation ohne Verbotsmöglichkeiten geschaffen werden. Für sie ergaben sich dann ähnliche Vor- und Nachteile wie im Linksextremismus. Genau diese Dynamiken hätte man aus der vergleichenden Extremismusperspektive gut prognostizieren können.[9]

Ähnlich verhält es sich mit der Frage der Nicht-Erkennung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), hätte man diesem doch mit dem Blick der vergleichenden Extremismusforschung auf die Spur kommen können: Die in Deutschland bestehende Fixierung auf die Rote Armee Fraktion führte zu einer einseitigen Vorstellung von Terrorismus – wurde dieser dadurch doch primär als hierarchisch strukturiert und relativ personenstark gedacht. Eine »Braune Armee Fraktion« war der NSU demgemäß auch nicht. Aber im Linksterrorismus gab es noch die »Revolutionären Zellen«, die aus relativ autonomen Kleingruppen mit nur wenigen Personen bestanden; die Frühform eines terroristischen Organisationsmodells, das heute als »Leaderless Resistance« bezeichnet wird. Genau so hatte sich auch der NSU formiert, wenngleich er nur eine Zelle ohne Zellenstruktur war. Mittels der vergleichenden Extremismusforschung hätte man somit die Neuorientierung im gewalttätigen Extremismus durchaus erfassen können.[10]

Begrenzter Erkenntnisgewinn von postulierten Alternativen

Abschließend soll noch auf die postulierten Alternativen und deren begrenzten Erkenntnisgewinn eingegangen werden. Als Erstes wird die »soziale Demokratie« genannt, was ein entwickeltes Demokratiemodell auf sozialstaatlicher Grundlage meint. Doch bleibt unklar, inwieweit es sich hier um eine Alternative handelt: Geht es darum, dass die Abgrenzung von Extremismus über die Frontstellung gegen »soziale Demokratie« statt zum demokratischen Verfassungsstaat erfolgen soll? Dann würde man aber mehr liberale und marktwirtschaftliche Demokratiekonzeptionen aus einem demokratischen Konsens ausschließen. Oder geht es darum, dass der sozioökonomische Hintergrund der gemeinten Phänomene stärker berücksichtigt werden sollte? Dies wäre eine durchaus begrüßenswerte Forderung, um die Blickrichtung der Extremismusforschung zu erweitern. Doch spricht ein solcher Ansatz nicht gegen die Extremismustheorie. Ein auf sie bezogener Einwand bewegt sich auf einer ganz anderen Ebene.

Als weitere Alternative wird eine Orientierung an »Radikalität« eingefordert. Doch auch hier bleibt unklar, worin die neue Blickrichtung genau bestehen soll. Offenbar geht es nicht um einen Austausch von Begriffen, also statt »Extremismus« besser »Radikalität«. Doch was soll dann damit genau gemeint sein? Diskutiert wird die Frage auch nur anhand der politischen Linken und deren »Zielvorstellung [von] sozialer Gleichheit«. »Dieses abstrakte Ziel ist durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar […].« Aber auch hier stellt sich die Frage: Wer behauptet das Gegenteil? Die Forderung nach mehr Gleichheit kann mit einer demokratischen wie mit einer extremistischen Zielsetzung einhergehen. Tatsächlich kommt es auf die »angewandten Mittel der Durchsetzung« und damit auf »die Annahme oder auf die Verweigerung der demokratischen Methode« (Norberto Bobbio)[11] an. Eine demokratische Linke wird ansonsten durch die angesprochene Pauschalisierung diskreditiert.

Die erwähnten Alternativen wollen das angeblich statische Element der Extremismustheorie überwinden. Doch worin soll dieses eigentlich bestehen? Abgrenzungskriterien sind u.a. das moderne Demokratieverständnis oder die konkretisierten Menschenrechte, ein essentialistisches Deutungsmonopol oder ein identitäres Gesellschaftsbild. Dies sind zugegebenermaßen abstrakte Begriffe, die sehr wohl nur für die Forschung messbar gemacht werden können. Damit können politische Akteure aus einer demokratietheoretischen Perspektive untersucht werden, die ihre Aufmerksamkeit auch auf gesellschaftliche Einstellungen und sozialen Wandel richtet. Die Ablehnung der Extremismustheorie muss von daher auch immer Antworten auf die Frage geben können: Warum soll es nicht bedeutsam sein, wie eine Bewegung, Organisation, Partei oder Subkultur zu den Grundlagen moderner Demokratie und offener Gesellschaft steht? Ein Desinteresse an einer darauf bezogenen Erörterung führt zur Erosion von gesellschaftlich und politisch erhaltenswerten Normen und Regeln.

[1] Vgl. Riedl, Jonathan/Micus, Matthias: Der blinde Fleck des Extremismus(-Begriffes). Überlegungen zu einer möglichen Alternative, in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2011), H. 1, S. 16–22. Der Autor dankt ausdrücklich Matthias Micus für die Möglichkeit, hier eine kritische Sicht vortragen zu können.

[2] Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Kritik an der Kritik der Extremismustheorie findet sich in: Pfahl-Traughber, Armin: Kritik der Kritik der Extremismustheorie. Eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Vorwürfen, in: Pfahl-Traughber, Armin (Hg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2013, Brühl 2013, S. 31–55.

[3] Rawls, John: Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 1998, S. 219–265.

[4] Die in Anführungszeichen stehenden Ausführungen verweisen auf von Riedl/Micus formulierte oder referierte Kritik, welche fortan nicht mehr gesondert nachgewiesen wird.

[5] Vgl. Lipset, Seymour: Der »Faschismus«, die Linke, die Rechte und die Mitte, in: Nolte, Ernst (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1967, S. 449–491.

[6] Vgl. Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler, München 1991, S. 371.

[7] Hier kann auf die von Elmar Brähler und Oliver Decker herausgegebenen »Mitte«-Studien und auf die von Wilhelm Heitmeyer und Andreas Zick herausgegebenen Studien zu »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« verwiesen werden.

[8]Vgl. Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008.

[9] Vgl. Gödecke, Chris: Die Bedeutung des Kameradschaftsmodells für den quantitativen Anstieg der Neonazi-Szene. Ein Vergleich des vorherrschenden Organisationstyps mit den traditionellen Organisationsstrukturen, in: Pfahl-Traughber, Armin (Hg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2014 (I), Brühl 2014, S. 173–206.

[10] Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Die Nicht-Erkennung des NSU-Rechtsterrorismus und die vergleichende Extremismusforschung, in: Backes, Uwe/Gallus, Alexander/Jesse, Eckhard (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 27, Baden-Baden 2015, S. 73–93.

[11] Bobbio, Norberto: Rechts und links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 83.