13,7 Prozent[1] – und damit mehr als den doppelten Wert des Landesdurschnitts – erzielte die Alternative für Deutschland (AfD) im Oktober 2017 bei der niedersächsischen Landtagswahl in Salzgitter. Bereits bei der Bundestagswahl einen Monat zuvor waren es 12,3 Prozent.[2] Auch bei der zwei Jahre später stattfindenden Europawahl fand der Aufwärtstrend der AfD Salzgitter weitere Bestätigung. Ganze 14,8 Prozent[3] der Stimmen konnte sie hier für sich gewinnen und lag damit über dem Landes-, wie auch dem Bundesergebnis der Partei. Die AfD als neue politische Akteurin in Salzgitter, einer Stadt, die über ihre Grenzen hinaus als Sozialdemokratische Hochburg bekannt ist. Wie also lässt sich dieser scheinbare Erfolg der AfD in der SPD-Stadt Salzgitter erklären?

Sozialdemokratische Hochburg

Als solche Heimat der Sozialdemokratie offenbart sich das niedersächsische Industriezentrum, sichtbar in der Entwicklung der Wahlergebnisse der letzten Dekaden. Die Sozialdemokrat*innen konnten seit Anfang der 1960er – bis auf wenige Ausnahmen – Land- und Bundestagswahlen stets für sich entscheiden. Lediglich in den Jahren 1982 und 1983 gelang es der CDU – ganz im Stile alt-bundesrepublikanischer Konfliktlinien – mehr Stimmen als die SPD hinter sich zu vereinen.[4] Ansonsten erzielte die SPD zwischen der Bundestagswahl 1961 und der Landtagswahl 2008 kontinuierlich über 40 Prozent.[5] In den 1970er Jahren lag sie konstant bei über 50 Prozent der Stimmen, während sie bei der Landtagswahl 1998 sogar knapp 60 Prozent der Salzgitteraner*innen für sich mobilisierte.[6]

Vor diesem Hintergrund überraschen die von der AfD erzielten Wahlergebnisse insofern, dass es sich mit der vergleichsweisen jungen Stadt um eine Hochburg des sozialdemokratischen Milieus zu handeln scheint. So macht es den Eindruck, als hätte man mit Salzgitter noch eine waschechte »Arbeiterstadt« an der Hand, an welcher der Wandel der ökonomischen Struktur in der Bundesrepublik vergleichsweise wenig Spuren hinterlassen habe. Mit Standorten der sogenannten Big Five MAN, VW, Alstom, Bosch sowie der Salzgitter AG ist die Stadt bis heute ein bedeutender Industriestandort.[7] Dies bildet sich auch in der Sozialstruktur der Stadt ab, wonach 57 bis 58 Prozent der Erwerbstätigen zwischen den Jahren 2016 und 2018 im sekundären Sektor beschäftigt waren.[8] Ein für die Bunderepublik überdurchschnittlich hoher Wert. Gewerkschaftlich sind rund 31.000 Mitglieder in der IG Metall organisiert, die einen einflussreichen Player vor Ort darstellt.[9] Nicht zuletzt durch diesen bemerkenswerten Organisationsgrad kann sie so in Angelegenheiten der Standortsicherung auch einige Erfolge vorweisen.

Das Schicksal einer Industriestadt

Ohne die Industriearbeit wäre Salzgitter – und das soll noch ein kurzer Blick in die Geschichte der Stadt offenbaren – schlicht nicht zu denken; sie macht das Schicksal der Stadt im positiven wie negativen Sinne aus. Ist die industrielle Stadt einerseits Lebensgrundlage vieler Menschen in der Region, so ist Salzgitter andererseits gezeichnet von scheinbar nicht abreißen wollenden infrastrukturellen Herausforderungen und chronischer Überlastung des kommunalen Haushalts. Schon früh in ihrer jungen Geschichte war die Stadt angewiesen auf finanzielle Hilfen des Bundes und des Landes. Es begann mit  der »berühmte[n] Bundesdrucksache 1220«[10], in welcher der Stadt von den – per Gutachten des Ausschuss für Wirtschaftspolitik in Bonn ausgestellten – benötigten Mitteln zur Sanierung und Erstausstattung in Höhe von 500 Millionen DM immerhin 20 Millionen DM zugestanden wurden. »[M]it Hilfe des Bundes […] konnte man eine beeindruckende Aufbauleistung in Salzgitter beginnen«[11], wie ein Mitglied des Geschichtsverein Salzgitter resümiert. Auch siebzig Jahre nach Einsetzen dieser »Aufbauleistung« klafft weiterhin eine finanzielle Lücke im Haushalt der Stadt, die auch im Jahr 2019 nur durch zusätzliche Gelder des Landes Niedersachsen minimiert werden kann. Die Hilfe von 50 Millionen Euro wird nun allerdings, statt für den Kampf gegen Wohnungsknappheit und mangelnde Infrastruktur wie in den 1950er Jahren, für die Bewältigung im Umgang mit minderwertigem Wohnraum sowie der maroden Infrastruktur benötigt. Demnach sei die Stadt heutzutage einer strukturellen Problemlage ausgesetzt, »die komplexer und dramatischer ist als anderswo«[12], wie der Oberbürgermeister Salzgitters, Frank Klingebiel (CDU), beschreibt.  Die qualitativen Unterschiede der finanziellen Förderungen verdeutlichen schon das Schicksal, welchem sich Industriestädte wie Salzgitter in der Zeit nach der Deindustrialiserung ausgesetzt sehen mögen. Nachdem zunächst im Einklang mit dem Wirtschaftswunder die örtlichen Strukturen ausgebaut werden konnten, bedarf es nun finanzieller Hilfen, um diese Strukturen aufrecht zu erhalten und die besondere strukturelle Problemlage zu verwalten. Dieser Dynamik sah man sich, wie man mit Lutz Raphaels Analyse des flächendeckenden Deindustrialisierungsprozesses folgern kann, in der Bundesrepublik bereits in den Jahren der großen Rezessionen der frühen siebziger und achtziger Jahren ausgesetzt. Dort wurde die Industriepolitik auf Bundesebene auf eine Belastungsprobe gestellt, an deren Ende sich kein positives Resümee ziehen ließ: »Weder Subventionen noch Verstaatlichungen und Konjunkturprogramme konnten die Deindustrialisierungsdynamik stoppen«[13]. Von dieser Spannung ist auch Salzgitter nicht verschont. Die Deindustrialisierung scheint wie das Damoklesschwert über der Stadt zu schweben. In der Folge liegt ein an der Zweck- und Krisenverwaltung orientierter Politikstil nahe, der sich reaktiv zu dem drohenden Szenario verhält. Dieser Umstand scheint sich symbolisch auch im äußerlichen Stadtbild wiederzufinden. Insbesondere das Verwaltungszentrum der Stadt mit dem »polyzentrische[n] Stadtgefüge«[14], der Stadtteil Lebenstedt, ist vom unschmeichelhaften architektonischen Funktionalismus gezeichnet[15], in welchem sich der Großteil des Wohnraumes von minderer Qualität finden lässt, der der Stadt zudem ein etwas angeschlagenes Image beschert. An diesem Image dürfte wohl auch das TV-Format »Hartz und Herzlich« nicht unbeteiligt gewesen sein, welches für seine Sendereihe in Salzgitter mit der dort bei 9,4 Prozent liegenden, im Bundesdurchschnitt vergleichsweise hohen Arbeitslosenquote wirbt. »Viele der Betroffenen prägen den Stadtteil Lebenstedt«[16], weiß man hier zu berichten und dieser Stadtteil ist zumindest optisch zuvorderst vom Zweck gezeichnet.

Das Bild der Salzgitteraner Arbeiter*innen

Dabei scheint schon die Gründung der Stadt im Jahre 1942 durch die Zusammenlegung einiger Ortschaften und Dörfer im Wesentlichen dem funktionellen Verwaltungszweck unterworfen zu sein. Zuvor erfolgte auf dem Salzgitter-Gebiet die Errichtung der Hermann-Göring-Werke im Jahre 1937, um »ein neues Lothringen, ein neues Zentrum der Schwerindustrie aus dem Boden zu stampfen.«[17] In der Folge sollte der wirtschaftlichen Entwicklung des Standortes zu Kriegszwecken eine stramme Verwaltungsstruktur zur Seite gestellt werden. Die Stadt selbst, die Wohnungsunterkünfte der Arbeitenden sowie die Infrastruktur wurden unter Zeitdruck an den Reißbrettern und Schreibtischen von »sprunghaften oder eiskalt kalkulierenden Akteuren« ersonnen und trotz der »vielen teilweise gravierenden Streitigkeiten […] auf der riesigen Baustelle«[18] in die Tat umgesetzt. Dabei war jedoch die Sache der Arbeit in der Stadt im Moment ihrer Gründung zugleich eine ihrer Schattenseiten. Mit den architektonischen Planungsabsichten fiel unter anderem die Errichtung des KZ-Außenlagers Salzgitter-Drütte auf dem Gelände der Hermann-Göring-Werke zusammen. In den Werken selbst fand Zwangsarbeit in besonders großem und drastischem Maße, in der Form der »Vernichtung durch Arbeit«, Anwendung.[19]

»Nie hat die IG-Metall verleugnet, daß Salzgitter ein Ort ist, der seine industrielle Entwicklung in vielem der deutschen Hochrüstung zur Zeit des Faschismus verdankt«[20], urteilte so etwa auch der damalige DGB Vorsitzende Dieter Schulte in Anbetracht des fünfzigjährigen Bestehens der Gewerkschaft. Doch seien es schließlich die Arbeiter*innen gewesen, wie der frühere Vorsitzende der IG-Metall Salzgitter in derselben Festschrift feststellte, »die die zerstörten Großbetriebe wieder zum Laufen brachten.«[21] Die hier geleisteten Fremd- wie Selbsteinschätzungen der Gewerkschafter*innen geben sodann schon Auskunft über die besondere Konfliktlinie, welche die Stadt bestimmt. Auf der einen Seite ihre Genesis im NS-Terror, auf der anderen Seite »der Kampf gegen die Demontage nach dem Krieg in der Auseinandersetzung mit der britischen Besatzungsmacht«[22], mit welchem die gewerkschaftlichen Arbeiter*innen im retrospektiven Selbstbild »um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze« wie »um das Überleben einer ganzen Region«[23] stritten. Eine Region, die nach dem Kriegsende mit infrastrukturellen Problemen zu kämpfen hatte. Die von Hungersnöten und Massenarbeitslosigkeit gezeichnete Stadt wurde dabei in ihrem Mangel an Wohnraum durch den Zuzug von Geflüchteten aus den östlichen Kriegsgebieten weiter belastet.[24] Immerzu waren die Bemühungen der »von der Gewerkschaft getragenen demokratischen Kräfte, die das Fundament für eine moderne Industrielandschaft legten«[25], wie Gerhard Schröder seinerzeit als niedersächsischer Landesminister wohlwollend den Gestaltungswillen Salzgitteraner Arbeiter*innen beschreibt, von politischen und städtebaulichen Verwaltungsakten begleitet, deren Resultat auch die Entwicklung des Stadtteils Lebenstedt war.

Dieser Stadtteil wurde zudem mit dem Jahre 1995 Standort eines der Wahrzeichen der Stadt, des Turms der Arbeit von Jürgen Weber. Erinnern soll das 14 Meter hohe Denkmal an die Gräuel der Zwangsarbeit und gleichzeitig des Widerstands gegen die Demontageabsichten der Briten, jeweils dargestellt in einer der Etagen des Turms. Seine Spitze ziert ein Probenehmer des Hüttenwerks. Hierin soll sich der beschworene (demokratische) Gestaltungswille der Arbeiter*innen mit einem antifaschistischen Erbe zum Gewissen der Stadt legieren. Entlang dieses Bildes der gestaltungswilligen und demokratischen Arbeiter*innen erscheint retrospektiv die Vorherrschaft der Sozialdemokrat*innen als eine Selbstverständlichkeit. Mit Beginn der Jahrtausendwende begann jedoch die Vorherrschaft der SPD in der Stadt zu bröckeln. Nicht mal mehr vierzig Prozent konnten bei den drei vorangegangen Bundestagswahlen erreicht werden, im Vergleich mit den üblicherweise von der Partei erzielten Ergebnissen ein starker Stimmenverlust. Zwar erlangte man bei der letzten Landtagswahl 2017 mit ca. 45 Prozent ein gutes Ergebnis, vor allem im Bundesvergleich, allerdings zeigte die Bundestagswahl im Monat zuvor, in welcher die SPD nur noch knapp über dreißig Prozent der Stimmen erringen konnte, dass die sozialdemokratische Selbstverständlichkeit Salzgitters droht Geschichte zu werden.[26]

Dem rechtsradikalen Wählerpotenzial auf der Spur

Es drängt sich die Frage auf, in welcher Relation die Ergebnisse der AfD zu ebenjenem sich abzeichnenden, überspitzt gesprochen, post-sozialdemokratischem Vakuum stehen und inwiefern es der Partei hierbei eventuell gelang, an ein tradiertes rechtsradikales Wählerpotential in der Stadt anzuknüpfen. Für die ersten Jahre der Bundesrepublik zeigt der Blick auf die Wahlergebnisse, dass – neben liberalen und demokratischen – hier auch rechtsradikale Parteien Stimmen gewannen. In Anbetracht der Stadtgeschichte wenig überraschend, gelang es dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), Wähler*innen hinter sich zu versammeln.[27] Hinzu kommen die Deutsche Reichspartei (DRP), die Reichspartei (RP) oder auch die Sozialistische Reichspartei (SRP). Während die RP bei der Landtagswahl 1951 mit 5,4 Prozent[28] den niedersächsischen Durchschnitt der Partei von 0,1 Prozent drastisch überbot, sprechen die deutlich unter dem jeweiligen Landesdurchschnitt liegenden Ergebnisse der Deutschen Partei (DP) bei der Landtagswahl 1955[29] sowie der SRP bei der Landtagswahl 1951[30] jedoch gegen Salzgitter als Stadt mit einem überdurchschnittlichen Potential für Erfolge rechtsradikaler Parteien.

Dafür spricht weiterhin, dass es in den vergangen fünfzig Jahren – bis zur Gründung der AfD – weder der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) noch den Republikanern gelang, große Erfolge in Salzgitter zu erzielen. Mit 6,5 Prozent[31] erreichte die NPD bei der Landtagswahl 1967 zwar einen Achtungserfolg, der allerdings mit dem zu diesem Zeitpunkt bundesweiten Hoch der Partei korrelierte. Ein ähnliches Ergebnis fuhren die Republikaner 2004 bei der Europawahl ein, wo sie 6,3 Prozent[32] der Stimmen gewannen. Wahlen, bei denen beide Parteien antraten, konnten die Republikaner im direkten Vergleich für sich entscheiden. Nichtsdestotrotz lassen sich anhand der überwiegend niedrigen Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien in Salzgitter, zumindest auf der Ebene der Analyse dieser Wahlergebnisse, keine großen Anzeichen dafür finden, dass in Salzgitter schon vor dem Aufstieg der AfD rechtes Gedankengut oder rechte Strömungen nachhaltig verfangen konnten.

Die AfD in Salzgitter

Die Wahlergebnisse Salzgitters zeichnen also das Bild einer sehr lange und sehr deutlich durch die Sozialdemokrat*innen dominierten Stadt, in der, ähnlich wie im bundesweiten Trend, die großen Volksparteien SPD und CDU jedoch zusehends an Stimmen verlieren. Die ersten Erfolge der 2013 gegründeten –  damals noch euroskeptischen – AfD in Salzgitter lagen bei der Bundestagswahl im selben Jahr bei 3,9 Prozent[33] sowie bei der Europawahl im darauffolgenden Jahr bei 5,8 Prozent[34], womit das Ergebnis Salzgitters den Bundesdurchschnitt unter-, den niedersächsischen jedoch um 0,4 Prozent-Punkte überbot. Bei späteren Wahlen zwischen 2017 und 2019 kratze die Partei an der 15 Prozent Marke. Die Gründung des Salzgitteraner Kreisverbands der AfD fand im Dezember 2016 statt.[35] Der bis dato auf der politischen Bühne weitestgehend unbekannte Micheal Gröger übernahm den Kreisvorsitz. Seitdem trat die AfD vor allem über ihren Facebook-Kanal in Erscheinung, der wiederholt wegen extrem rechter Äußerungen auch über die Grenzen Salzgitters hinaus für Aufsehen sorgte.[36] Den vorübergehenden Höhepunkt dürften diese Eskapaden in der Verurteilung Grögers gefunden haben. Dieser veröffentlichte ein Gedicht, in dem Asylbewerber*innen öffentlich diffamiert wurden, woraufhin er der Volksverhetzung schuldig gesprochen wurde. Im Anschluss an die Bestätigung des Urteils durch das Oberlandesgericht Braunschweig im Januar 2020 trat Gröger vom Amt des Parteivorsitzenden zurück.[37]

Turm der Arbeit von Jürgen Weber. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Salzgitter_Turm_der_Arbeit.JPG

Das bisher ungelöste Rätsel des Erfolgs

Salzgitter, eine als Arbeiterstadt und SPD-Hochburg bekannte Stadt, entwickelte sich scheinbar plötzlich, zumindest unter Betrachtung der Entwicklung der Wahlergebnisse, zu einem Erfolgsmomentum für die AfD in Niedersachsen und Westdeutschland. Für die im nächsten Jahr anstehenden Kommunalwahlen ließe sich nun vermuten, dass die AfD, gelingt es ihr denn diesmal Kandidat*innen aufzustellen[38], mit nicht unbeachtlicher Anzahl in den Rat der Stadt einziehen könnte. Die Nachfrage nach der Ursache des Erfolgs stellt ein bisher ungelöstes Rätsel dar. Was ist, so könnte man leicht ketzerisch fragen, mit dem Milieu passiert, das doch Träger von demokratischem Gestaltungswillen und antifaschistischem Engagement sein soll?

Mit interkulturellen Wochen, dem von der IG Metall seit 1989 an jedem 21. März begangenen »Tag gegen den Rassismus« oder dem Bündnis »Salzgitter passt auf!« versucht die Salzgitteraner Zivilgesellschaft immerhin aktiv und gewissenhaft gegen rechte Umtriebe in der Region zu mobilisieren. Zumindest also auf dieser Veranstaltungsebene scheint sich das multikulturelle Salzgitter abzubilden, zu dem die Arbeiterstadt im Verlaufe der bundesrepublikanischen Geschichte geworden war. Durch die Anwerbung vieler italienischer wie türkischer Gastarbeiter*innen infolge des Wirtschaftswunders, aber auch durch die Zuwanderung vieler Menschen aus den Gebieten der ehemaligen UDSSR wurde das kulturelle Leben in der Stadt langsam, aber sicher immer mehr von ebenjenen Gruppen mitgestaltet. Trotzdem sorgte die Stadt im Jahre 2017 noch einmal bundesweit für Schlagzeilen. In ebenjener Stadt, zu deren Kulturgeschichte die Migration ebenso wie die Industriearbeit zu gehören scheint, sollte nun der im Rahmen der sogenannten »Flüchtlingskrise« entstandene rapide Zuzug von Geflüchteten gestoppt werden. Neben infrastrukturellen wie finanziellen Überlastungserscheinungen schien die Stadt aber auch kulturell überfordert. So begründete der Oberbürgermeister der Stadt Frank Klingbiel (CDU) den Zuzugsstopp in einem Interview mit dem Focus unter anderem folgendermaßen: »Die weltoffene Stimmung in Salzgitter, der ersten Respektstadt Deutschlands, drohte zu kippen, wir befürchteten die Bildung von Parallelgesellschaften.«[39]

Hier könnten geneigte Zyniker*innen anmerken, dass, ob aufgrund der von der AfD bei den vergangenen Wahlen erzielten Prozente, die Stimmung sich wohl schon mitten im Kippen befand. Zumindest unter Betrachtung des Schicksals der SPD vor Ort dürfte wohl Ernüchterung unter ihren Mitgliedern herrschen, was sie wiederum mit Sozialdemokrat*innen vielerorts vereinen würde. Insbesondere das Wahljahr 2017 traf die SPD schwer. Wollte sie doch eigentlich »mehr Demokratie wagen« und mit neuer Emphase beanspruchen, die Partei der gewerblichen Arbeiter*innen zu sein, musste sie »im Bundesdurchschnitt hinnehmen, dass die CDU / CSU [sic!] in diesem einstigen Traditionssegment nun knapp die Nase vorn hatte, die AfD im ›Proletariat‹ jetzt fast gleichauf mit der SPD lag.«[40] Das gewerkschaftlich organisierte Arbeitermilieu schien gewissermaßen entkernt und den mit ihm äußerlich assoziierten (demokratischen) Gestaltungsauftrag nicht mehr so recht in die Tat umzusetzen. »Parteien der demokratischen Linken blühen nur so lange, wie sie Ankerplätze von Hoffnungen sind«[41]; die »kleinen Leute« jedoch scheinen zusehends weniger Hoffnung in die SPD zu legen und schauen, wie Franz Walter resümiert, allem Anschein nach eher mit getrübten Blick in die Zukunft, gegen die sie ein gleichsam konservatives Bild der vergangenen, stabileren Zeit aufrichten.[42] Doch auch die »Mitte« scheint den temporeichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte eher skeptisch gegenüberzustehen, die immer auch etwas Drohendes und Destabilisierendes an sich hätten. Zusehends wurde das meritokratische Ethos, der praktische Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Entlohnung, in Frage gestellt, während sich zugleich politisch der Weg der Einsicht in die Notwendigkeit des Fortschritts als alternativlos gerierte.[43]

Diese von Franz Walter für die SPD in toto bestimmte Entwicklung wirft im Falle Salzgitters jedoch zunächst eine Hand voll weiterer Fragen auf. In dieser Stadt der gewerkschaftlich und demokratisch organisierten Arbeiter*innen scheint ihr politischer Gestaltungswille doch beinahe im mythischen Gewand – oder handelt es sich hierbei mehr um ein Bild, das die in der Erosion begriffenen sozialdemokratisch bestimmten Institutionen vor Ort gleichsam abwehrend vor sich hertragen? Vielleicht überträgt sich das Gefühl der Hoffnung hier von den Wähler*innen auf die sozialdemokratische Partei, welche sich mit der Erwartung beruhigen könnte, dass ihr Wählerstamm schon noch zu sich selbst finden wird. Immerhin: Für den Protest gegen den AfD-Neujahrsempfang zu Beginn dieses Jahrs in Salzgitter ließen sich, getragen von einem breiten von der IG Metall initiierten Bündnis, mehr als 200 Menschen zur Gegendemonstration mobilisieren.[44] Doch auch hier bleibt in Anbetracht der vergangenen Wahlen noch offen, inwiefern die zahlreichen Bündnisse und die Demonstrationen, welche sich gegen die AfD richten, die Bürger*innen Salzgitters auch erreichen können. Wie also, um die Frage zu konkretisieren, ist es in der Sache der AfD – und auch ganz allgemein – um das Verhältnis der politischen Elite Salzgitters mit der Bevölkerung bestellt? Zumindest aus Sicht der niedersächsischen AfD-Wähler*innen scheint dies wohl ein angespanntes Verhältnis zu sein. Ein Misstrauen gegen das politische Establishment, das lieber die »eigenen« favorisierten Eliten an der Macht sehen möchte, mag sich hier noch die Hand geben mit einer im Vergleich zu den Wähler*innen anderer Parteien überproportionalen Problemwahrnehmung der Migration, wie einer gewissen Ablehnung solidarischer Prinzipien.[45] Dieses tendenzielle Spannungsverhältnis zwischen Regierungsinstitutionen und den Wähler*innen der AfD gleichsam von der anderen Seite zu betrachten, steht dabei zum aktuellen Zeitpunkt noch aus, insbesondere in einer Betrachtung der Strategien und Problemwahrnehmung der politischen Deutungseliten vor Ort. Diese Lücke zu schließen macht sich jedoch der Fachbereich Rechtsradikalismus der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in einer Teilstudie zum politischen Leben in Salzgitter zur Aufgabe. Erste Ergebnisse sind Ende dieses Jahres zu erwarten.

[1] Ergebnisse der Landtagswahlen der Jahre 1974 bis 2017 stammen vom Server des Landesamtes für Statistik Niedersachsen, URL: https://www1.nls.niedersachsen.de/statistik/html/default.asp [eingesehen am 26.08.2020].

[2] Ergebnisse aller Bundestagswahlen stammen vom Bundeswahlleiter, URL: https://bundeswahlleiter.de [eingesehen am 26.08.2020].

[3] Stadt Salzgitter: Europawahl am 26. Mai 2019, Amtliches Endergebnis, URL: https://www.salzgitter.de/rathaus/wahlen/europawahl2019.php [eingesehen am 31.07.2020].

[4] Landesamt für Statistik Niedersachsen;  Bundeswahlleiter.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] O. V.: Die fantastischen Fünf: Top-Unternehmen aus Salzgitter, in: Die Region Braunschweig – Wolfsburg, URL: https://die-region.de/leben-arbeiten/erfolgreich-im-job/top-arbeitgeber/die-fantastischen-fuenf-top-unternehmen-aus-salzgitter/ [eingesehen am 25.08.2020].

[8] Bertelsmann Stiftung: Statistische Daten zur Stadt Salzgitter, in: Wegweiser-Kommune.de, URL: https://www.wegweiser-kommune.de/statistik/salzgitter+beschaeftigung+2016-2018+tabelle [eingesehen am 11.08.2020].

[9] IG Metall Salzgitter-Peine: Betriebe in Salzgitter-Peine, URL: https://www.igmetall-salzgitter-peine.de/betriebe-tarif/ [eingesehen am 11.08.2020].

[10] Leuschner, Jörg: Die »Zweite Stadtgründung Salzgitters«. Vom Torso zur Großstadt (Stadtplanung und -bau Salzgitters von 1945 bis 1964/1965), in: Geschichtsverein Salzgitter e. V. (Hrsg.): Salzgitter. Die neue Stadt, Salzgitter 2018, S. 85–105, hier. S. 89.

[11] Ebd.

[12] Niedersächsische Staatskanzlei: Ministerpräsident Weil und Oberbürgermeister Klingebiel stellen Strukturhilfeprogramm des Landes für Salzgitter vor, 14.10.2019, URL: https://www.stk.niedersachsen.de/startseite/presseinformationen/ministerprasident-weil-und-oberburgermeister-klingebiel-stellen-strukturhilfeprogramm-des-landes-fur-salzgitter-vor-181584.html [eingesehen am 28.07.2020].

[13] Raphael, Lutz: Jenseits von Kohle und Stahl, Bonn 2019, S. 90.

[14] Leuschner, S. 89.

[15] Vgl. Schneider, Christian: Stadt-Bau Salzgitter. 1937–1990, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Salzgitter. Geschichte und Gegenwart einer deutschen Stadt 1942–1992, München 1992, S. 166–212, hier S. 201–202.

[16] RTL II: Hartz und Herzlich, Salzgitter Lebenstedt Teil 1, URL: https://www.rtl2.de/sendungen/hartz-und-herzlich/folge/178696 [eingesehen am 28.07.2020].

[17] Leuschner, S. 85.

[18] Keilmann, Arne: Von der Landschaft zur Stadtlandschaft, in: Geschichtsverein Salzgitter e. V. (Hrsg.): Salzgitter. Die neue Stadt, Salzgitter 2018, S. 41–68, hier S. 41 und 50.

[19] Vgl. hierzu ausführlich Wysocki, Gerd: Arbeit für den Krieg. Arbeitseinsatz, Sozialpolitik und staatspolizeiliche Repression bei den Reichswerken »Hermann Göring« im Salzgitter-Gebiet 1937/38 bis 1945, Braunschweig 1992.

[20] Schulte, Dieter: Durch Widerstand ein kämpferisches Profil, in: IG Metall Verwaltungsstelle Salzgitter (Hrsg.): Von außen Gesehen. 50 Jahre IG-Metall Salzgitter, Salzgitter 1998, S. 13–22, hier S. 15.

[21] Zwickel, Klaus: Kampf gegen die Demontage und für die Montanmitbestimmung, in: IG Metall Verwaltungsstelle Salzgitter (Hrsg.): Von außen Gesehen. 50 Jahre IG-Metall Salzgitter, Salzgitter 1998, S.9–12, hier S. 12.

[22] Ebd.

[23] IG Metall Verwaltungsstelle Salzgitter: 50 Jahre IG Metall Salzgitter. Salzgitter 1998, S. 31.

[24] Vgl. Schneider, S. 195–196.

[25] Schröder, Gerhard: Aufbau und Festigung demokratischer Strukturen, in: IG Metall Verwaltungsstelle Salzgitter (Hrsg.): Von außen Gesehen. 50 Jahre IG-Metall Salzgitter, Salzgitter 1998, S. 23–26, hier S. 23.

[26] Ebd.

[27] Försterling, Reinhard: Neubeginn politischen Lebens nach 1945. Parteigründungen und Wahlen, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Salzgitter. Geschichte und Gegenwart einer deutschen Stadt 1942–1992, München 1992, S. 334–357, hier S. 338f und S. 350f.

[28] Niedersächsisches Amt für Landesplanung und Statistik: Wahlen und Abstimmungen. Die Neuwahl zum Niedersächsischen Landtag am 6. Mai 1951, Reihe F, Band 14, Heft 1, 1952, S. 17; Veröffentlichungen des Niedersächsischen Amts für Landesplanung und Statistik: Reihe F, Band 14, Heft 1, Wahlen und Abstimmungen. Die Neuwahl zum Niedersächsischen Landtag am 6. Mai 1951, 1952, S. 17.

[29] Niedersächsisches Amt für Landesplanung und Statistik: Wahlen und Abstimmungen. Die Wahl zum Niedersächsischen Landtag am 24. April 1955, Reihe F, Band 14, Heft 4, 1955, S. 33; Veröffentlichungen des Niedersächsischen Amtes für Landesplanung und Statistik: Reihe F, Band 14, Heft 4, Wahlen und Abstimmungen. Die Wahl zum Niedersächsischen Landtag am 24. April 1955, 1955, S. 33.

[30] Niedersächsisches Amt für Landesplanung und Statistik: Wahlen und Abstimmungen. Die Neuwahl zum Niedersächsischen Landtag am 6. Mai 1951, Reihe F, Band 14, Heft 1, 1952, S. 17; Veröffentlichungen des Niedersächsischen Amts für Landesplanung und Statistik, Reihe F, Band 14, Heft 1, Wahlen und Abstimmungen. Die Neuwahl zum Niedersächsischen Landtag am 6. Mai 1951, 1952, S. 17.

[31] Niedersächsisches Landesverwaltungsamt Statistik: Statistik von Niedersachsen. Die Wahl zum Niedersächsischen Landtag am 4. Juni 1967, Teil 1, Wahlergebnisse in den Wahlkreisen, Landkreisen und kreisfreien Städten, Band 100, Zugleich Statistischer Bericht *B III 2,  1967, S. 25; Statistik von Niedersachsen – Band 100, Zugleich Statistischer Bericht *B III 2 – 1967, Teil I: Die Wahl zum Niedersächsischen Landtag am 4. Juni 1967, Teil 1, Wahlergebnisse in den Wahlkreisen, Landkreisen und kreisfreien Städten, Hannover 1967, S. 25.

[32] Landesbetrieb für Statistik und Kommunikationstechnologie Niedersachsen (LSKN): Vorläufiges amtliches Ergebnis der Europawahl am 13. Juni 2004. Wahlkreis: 102 – Salzgitter, Stadt, URL: www.nls.niedersachsen.de/EW2004/102.htm [eingesehen am 30.07.2020].

[33] Bundeswahlleiter.

[34] Der Bundeswahlleiter: Europawahl 2014, Ergebnisse, Niedersachsen, Salzgitter, Stadt, URL: https://bundeswahlleiter.de/europawahlen/2014/ergebnisse/bund-99/land-3/kreis-3102.html [eingesehen am 30.07.2020].

[35] AfD Kreisverband Salzgitter: Gründung, URL: https://www.afd-salzgitter.de/gruendung [eingesehen am 30.07.2020].

[36] Bspw. Georgi, Oliver: Hetze in AfD-Kreisverband. »Krieg gegen das widerwärtige System auf deutschem Boden«, in: FAZ.net, 26.09.2017, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/afd-kreisverband-hetzt-auf-facebook-offen-gegen-demokratie-15218764.html [eingesehen am 30.07.2020].

[37] Kothe, Michael/Westermann, Eric: Volksverhetzung: Urteil gegen Salzgitters AfD-Chef rechtskräftig, in: Braunschweiger Zeitung, 13.01.2020, URL: https://www.braunschweiger-zeitung.de/salzgitter/article228126207/Volksverhetzung-Urteil-gegen-Salzgitters-AfD-Chef-rechtskraeftig.html [eingesehen am 30.07.2020].

[38] Westermann, Erik: AfD-Kandidaten »hatten Angst«, in: Salzgitter Zeitung, 28.09.2016, URL: https://www.salzgitter-zeitung.de/salzgitter/article208315089/AfD-Kandidaten-hatten-Angst.html [eingesehen am 31.08.2020].

[39] Lüdecke, Ulf: Erstmals Zuzugsstopp in deutscher Gemeinde. Flüchtlingskrise in Salzgitter – OB: »Machen weiter, brauchen aber eine Atempause«, in: Focus Online, 13.10.2017, URL: https://www.focus.de/politik/deutschland/niedersachsen-erlass-fuer-salzgitter-erstmals-zuzugsstopp-von-fluechtlingen-in-deutscher-gemeinde_id_7708062.html [eingesehen am 29.07.2020].

[40] Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles, Hamburg 2018, S. 353.

[41] Ebd., S. 376.

[42] Vgl. ebd., S. 325

[43] Vgl. ebd., S. 323–326.

[44] Kothe, Michael: Kalbitz-Auftritt bei AfD Salzgitter von Protest begleitet, in: Salzgitter Zeitung, 08.01.2020, URL: https://www.salzgitter-zeitung.de/salzgitter/article228090111/Kalbitz-Auftritt-bei-AfD-Salzgitter-von-Protest-begleitet.html [eingesehen am 29.07.2020].

[45] Vgl. hierzu: Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, Göttingen 2020.