Abb. 1: Die Gruppe „Im Auftrag des Islam“: Azad, Furkan Bin Abdullah und Yasin al-Hanafi (v.l.n.r.) bei der Verkündung des Urteils gegen Metin Kaplan (Standbild aus dem analysierten Clip „Klarstellung zu Metin Kaplan“ / https://www.youtube.com/watch?v=EDLQ8c5MCoY)

Die drei Männer, die sich gemächlich von ihren Stühlen erheben, machen einen entschlossenen Eindruck. Vor ihnen liegen auf einem mit einem schwarzen Tuch bedeckten Tisch viele Bücher und Unterlagen. An der Wand hinter ihnen ist eine grüne Bordüre zu sehen, die in weißer Kalligrafie mit dem islamischen Glaubensbekenntnis verziert ist, und eine Holztafel, die ebenfalls schmuckvoll mit der Schahāda beschriftet ist. Im Hintergrund ertönt ernste Musik. Sie werden gleich ein Urteil verkünden: Metin Kaplan, der einst für sich beanspruchte, der Kalif zu sein, also der Stellvertreter des Propheten und Anführer aller Muslime, wird sämtlicher Ämter enthoben. Mehr noch: Er habe sich des Kufr (Unglaube) schuldig gemacht und Schirk begangen, also Gott andere Autoritäten »beigesellt« und sich somit vom Prinzip des Monotheismus abgewandt. Für die Richter ist klar: Er ist gar kein Muslim!

Unbedarfte Zuschauer, die im Internet diesen vom Netzwerk »Im Auftrag des Islam« bei YouTube dokumentierten Prozess[1] ansehen, mögen zunächst verwundert sein: Ist das islamische Kalifenamt nicht schon lange Geschichte?

Tatsächlich gibt es in der islamischen Welt seit 1924, als Mustafa Kemal Atatürk in der Türkei das Kalifat abschaffen ließ und Abdülmecid II., den letzten Amtsinhaber, ins Exil zwang, keinen Kalifen mehr. Doch eine kleine Gruppe von türkischstämmigen Muslimen in Deutschland sah das anders: Die Anhänger des Kölner Predigers Cemaleddin Kaplan spalteten sich in den frühen 1980er Jahren von der Millî-Görüş-Gemeinde ab, da sie glaubten, dass der Sturz des säkularen Systems in der Türkei und die Wiedereinführung des Kalifats nicht über den parlamentarischen Weg bewirkt, sondern nur durch eine revolutionäre Aktion erkämpft werden könne. Es sei sinnlos, wenn die Millî-Görüş-Bewegung mit der Gründung der Partei Refah Partisi einen neuen Versuch unternehme, das politische System der Türkei von innen zu verändern. Denn das Verbot der Vorgängerpartei Millî Selamet Partisi nach dem türkischen Militärputsch 1980 habe gezeigt, dass das säkularistische Militär notfalls die demokratischen Regeln breche, um islamische Parteien zu stoppen. Doch auch die von Kaplan erhoffte Revolution blieb aus. Seine Bewegung musste weiter im deutschen Exil ausharren und verlor die meisten seiner Anhänger. Doch es gelang ihm, seine verbliebene Gemeinschaft immer straffer zu führen, die sich zunehmend in eine Sekte verwandelte. 1994 kam Kaplan zu der Überzeugung, er selbst sei zur Führung aller Muslime berufen und rief sich zum Kalifen aus, weshalb seine Organisation fortan als »Kalifatstaat« bekannt wurde. Doch schon ein Jahr später starb Kaplan. Sein Sohn Metin folgte ihm als »Kalif« nach. Der Berliner Ibrahim Sofu, der ebenfalls das Kalifat beanspruchte, wurde 1997 ermordet, nachdem Kaplan Junior öffentlich zu der Tat aufgerufen hatte.[2] Wegen dieses öffentlichen Mordaufrufs wurde er 2000 zu vier Jahren Haft verurteilt und 2004 in die Türkei abgeschoben, wo er bis 2016 erneut eine jahrelange Haft absitzen musste.[3] Der Kalifatstaat wurde 2001 verboten.[4] Schon damals schien der bizarre Versuch, das Kalifat wiederzubeleben, gescheitert.

Doch zumindest ein Teil der Anhängerschaft hielt Metin Kaplan trotz seiner Inhaftierung und des Vereinsverbots die Treue – Strukturen des Kalifatstaats wurden informell weiterbetrieben. Auch in Göttingen existiert bis heute eine inoffizielle Moschee der von Cemaleddin Kaplan begründeten Bewegung. Und die Aktivisten des Netzwerks »Im Auftrag des Islam«, das in Nordhessen und Südniedersachsen aktiv ist, brachten viele Jahre ihre Unterstützung für Metin Kaplan zum Ausdruck. Obwohl sie mit ihrer Position unter den Muslimen in Deutschland weitgehend isoliert waren, organisierten sie 2014 sogar eine Solidaritätsdemonstration in Berlin.[5] Deswegen ist das Video »Klarstellung zum Thema Metin Kaplan«, das am 15. Mai 2020 veröffentlicht wurde und mit der Verurteilung und Exkommunikation Kaplans endet, eine überraschende Kehrtwende der Gruppe. Doch wie begründen Furkan bin Abdullah (eigentlich Furkan Karacar), Yasin al-Hanafi (alias Yasin Bala) und »Azad« (dessen bürgerlicher Name unbekannt ist) diesen Bruch mit Kaplan und wie ist das Zerwürfnis zu erklären?

Der Streit um den Ramadanbeginn und die Verbannung aus der Kaplan-Bewegung

Auslöser des Konflikts sollen Unstimmigkeiten bezüglich der Neumondsichtung für den Ramadan im Mai 2018 (1439 nach islamischer Zeitrechnung) gewesen sein.[6] Im Islam ist die Sichtung des Neumonds für die Bestimmung des Monatsbeginns maßgeblich. Wird der Neumond am 29. Tag des Vormonats Schaʿbān gesichtet, beginnt der Ramadan am Folgetag – ist er (etwa wegen Bewölkung) nicht zu sehen, beginnt die Fastenzeit erst am übernächsten Tag.

Furkan Abdullah erklärt im Video, Metin Kaplan persönlich habe ihn für die Sichtung des Mondes eingesetzt; gemeinsam hätten sie die Ramadanzeit ausrufen wollen. Jedoch waren sich Abdullah und Kaplan über den Beginn des Ramadans uneinig. Da Abdullah zufolge in der gesamten islamischen Welt der Neumond am 16. Mai nicht gesichtet wurde, beginne der Ramadan erst am 17. Mai. Kaplan aber verkündete für seine Anhängerschaft den 16. Mai, ohne dafür eine für Abdullah schlüssige Begründung zu liefern. Damit ließ Kaplan die Fastenzeit am selben Tag ausrufen wie die türkische Religionsbehörde Diyanet, die den Ramadanbeginn allerdings ohne Mondsichtung berechnet. Abdullah hingegen vertrat die etwa in Saudi-Arabien herrschende Linie, wonach eine bloße Berechnung als islamwidrig abzulehnen sei.

Abdullah forderte, dass Kaplan zugeben müsse, einen Fehler begangen zu haben. Dazu war Kaplan jedoch nicht bereit. Vielmehr sprach er den Bann über Abdullah und seine Gruppe aus.[7] Die Moschee der Gruppe erklärte er – eine koranische Wendung aufgreifend – als masǧidu ʾḍ-ḍirār (Moschee des Schadens) und verbot seinen Anhängern damit implizit, sie zu betreten.[8] Damit war das Zerwürfnis komplett. Abdullah und seine Mitstreiter geben an, in den Monaten danach mehrfach Schlichtungsversuche unternommen zu haben, um den Streit mit Kaplan beizulegen. Da Kaplan aber auf eine Entschuldigung bestanden habe und zu keinem Gespräch bereit gewesen sei, habe sich die Gruppe dazu entschlossen, den Bruch mit Kaplan öffentlich zu machen. Sie hätten angesichts dessen Fehlverhaltens nicht mehr mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen.[9]

Der Konflikt hinter dem Konflikt

Hinter dem vermeintlichen Streit um den Ramadanbeginn verbirgt sich eine tiefergehende Spannung, die die Frage betrifft, wie die islamischen Quellen, also Koran und Sunna, überhaupt zu verstehen sind. Unter Muslimen gibt es einen grundlegenden Dissens darüber, ob Koran und Sunna ausschließlich wortwörtlich gelesen werden müssen (dann ist die Mondsichtung zwingend) oder sie auch interpretierbar sind und demnach nur sinngemäß, also entsprechend der mutmaßlichen göttlichen Intention, die dem Gebot zugrunde liegt, befolgt werden können (dann ist auch eine Berechnung gerechtfertigt). Nach Auffassung von Abdullah ist die Berechnung der Erscheinung des Neumondes und damit des Beginns des Ramadans unzulässig; diejenigen, die sich aber dennoch nach Berechnungen richten würden, handeln gegen die Scharīʿa.[10] Die Tatsache, dass Abdullah im Video behauptet, die gesamte islamische Welt sei sich 2018 über die Mondsichtung einig gewesen, obwohl sehr viele Muslime weltweit wie Kaplan bereits am 16. Mai mit dem Ramadan-Fasten begannen, zeigt, dass er Menschen, die die Fastenzeit anhand von Berechnungen begehen, gar nicht als richtige Muslime akzeptiert. Vor allem steht das Netzwerk »Im Auftrag des Islam« (IADI) mit ihrer Haltung im völligen Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit in der Türkei sowie den allermeisten Muslimen in Deutschland, die diesen Berechnungen folgen. In dieser Abgrenzung zeigt sich auch der Konflikt zwischen der vermeintlich authentischen und einzig korrekten Religionsausübung der IADI-Gruppe und des Religionsverständnisses der türkischen Mehrheitsgesellschaft. IADI lehnt die türkische Republik und deren Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ab, der ihrer Auffassung nach kein Muslim ist, denn ein Muslim dürfe kein Staatsoberhaupt einer säkularen Republik sein. Er müsse daher sogar als Kāfir (Ungläubiger) bezeichnet werden.

Die Ablehnung der Türkei geht mit einer kategorischen Ablehnung der Demokratie einher. Für die IADI-Gruppe gelten jegliche Formen von demokratischen Verfahren als Schirk (Polytheismus); demnach sind nicht nur diejenigen, die bei demokratischen Wahlen kandidieren, Apostaten, sondern auch diejenigen, die dabei als Wähler teilnehmen. Auf sie müsse zwingend der sogenannte Takfīr (die Exkommunikation aus dem Islam) ausgesprochen werden. Mit dieser radikalen Position vertritt die IADI-Gruppe eine harte antidemokratische Linie, die so nicht einmal von vielen Salafisten vertreten wird. Teile des salafistischen Spektrums akzeptieren demokratische Entscheidungen zumindest für die Bereiche, in denen Koran und Sunna keine klare Regelung vorschreiben.[11] Das IADI-Netzwerk folgt hingegen der Schirk-Fatwā [12] von Cemaleddin Kaplan, der zufolge der Takfīr nicht nur auf alle Parlamentarier und Wähler auszusprechen sei, sondern auch auf diejenigen, die diese beiden Gruppen nicht als Ungläubige verurteilen. Diese Exkommunikation aufgrund der Nicht-Verurteilung von Taten Dritter wird als »Ketten-Takfīr« bezeichnet und wird von den meisten Salafisten abgelehnt.[13]

Mehr Feind als Freund? Kaplan und der unterlassene Takfīr

Metin Kaplan hingegen scheint der Schirk-Fatwā seines Vaters nicht (mehr) zu folgen und die (auf Wahlen gestützte) Herrschaft Erdoğans als islamisch legitimiert anzusehen. So werfen Furkan Abdullah, Yasin al-Hanafi und Azad Kaplan im Video mehrmals vor, den Takfīr auf die demokratischen Wähler sowie insbesondere auf die Türkei und dessen Präsidenten Erdoğan unterlassen und zu diesem Thema geschwiegen zu haben. Sie beschuldigen ihn sogar, einen Pro-Erdoğan-Beitrag auf Facebook geteilt zu haben, in dem Erdoğan als Ra’īs, also als »Präsident« oder »Oberhaupt« (und damit implizit als legitimer »Führer«) beschrieben wird.[14] Das Unterlassen des Takfīrs und das Ignorieren von Cemaleddins Schirk-Fatwā stellt für IADI ein schwerwiegendes Problem dar. Sie sehen die Fatwā als »fundamentale Angelegenheit« und sogar »Lebensphilosophie« für die Organisation des Kalifatstaats, die immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden müsse. Sie sei aus Koran und Sunna abgeleitet und niemand habe sich an einer Widerlegung versucht.[15] Hanafi geht sogar noch weiter und erklärt die Beachtung der Fatwā zum Maßstab für die Unterscheidung von Glaube und Unglaube. Dank dieser Fatwā, so Hanafi, wisse man, was ʿAqīda (Bekenntnis) und Tauḥīd (Glaube an die Einheit Gottes) ist und wer Freund und wer Feind ist. Sie schütze vor dem Unglaube.[16] Doch mit seinem Verhalten, so Hanafi, habe Kaplan nach seiner Entlassung aus deutscher Haft 2003 »kontinuierlich daran gearbeitet, die Schirk-Fatwā von Cemaleddin Hoca[17] komplett aufzuheben«.[18]

Abb. 2: Metin Kaplan, der frühere Kalif des „Kalifatstaates“ bei einer Predigt (Quelle: https://www.facebook.com/741679422509560/photos/a.741725859171583/2688151991195617)

Metin Kaplan scheint heute offenbar einen »moderateren« Kurs als sein Vater zu verfolgen, der nicht mit dem radikalen Islamverständnis von IADI übereinstimmt. Doch tatsächlich erklären die Protagonisten des IADI selbst, dass Metin nicht erst in den letzten Jahren, sondern schon kurz nach dem Tod seines Vaters von dessen Lehre und damit vom wahren Islam abgewichen sei.[19] Dies spiegele auch das Verhältnis Kaplans zum 1997 ermordeten Kalifatstaat-Richter Ibrahim »Yusuf« Sofu wider (s. o.). Hanafi schildert im Video, dass Sofu ein Buch über das demokratische System verfasst habe, in dem er die Demokratie gemäß der Lehre Cemaleddin Kaplans eindeutig verurteilt habe. Kaplan habe bei der Korrektur des Buches mehrere Änderungen vorgenommen und ersetzte laut Hanafi die Textstellen, in denen die Begriffe »Präsidenten« und »Premierminister« vorkamen, durch »falsche Anführer« und »demokratische[s] System« durch »falsche Systeme«. So sollte die Grundsatzkritik an der Demokratie abgeschwächt werden. Nachdem wenige Seiten des Buches vorab in der Ümmet-i Muhammed, der Zeitschrift der Bewegung, veröffentlicht wurden, soll Kaplan schlussendlich angeordnet haben, dieses Buch nicht weiter zu fördern. Hanafi deutet Kaplans Scheu, die Demokratie in Publikationen der Bewegung klar zu verurteilen, als Angst vor dem deutschen Ṭāghūt-Staat[20]. Sofu sei schließlich zu dem Schluss gekommen, Kaplan sei der Daǧǧāl, der nach islamisch eschatologischen Vorstellungen als großer Betrüger der letzten Tage auftritt. Auch Sofu habe Kaplan somit schon den islamischen Glauben und das Kalifenamt abgesprochen.[21]

Mord, Diebstahl und ʿAqīda-Probleme: Kaplans »Unfähigkeit«, das Kalifenamt auszuüben

Dass Sofu schließlich ermordet wurde, sei die Schuld Kaplans, erklärt Hanafi im Video. Sein Mordaufruf sei dafür verantwortlich gewesen, dass er vor den Augen seiner Frau und sechs Kinder brutal ermordet worden sei.[22] Die Behauptung der Kaplan-Anhänger, ihr Kalif habe lediglich Ḥadīthe vortragen wollen, die das staatliche deutsche Gericht dann fälschlich als Tötungsaufruf wertete, entbehre nach glaubwürdigen Zeugenaussagen und Berichten der organisationseigenen Zeitschrift jeder Grundlage.[23] Neben der Tötung Sofus habe Kaplan zudem noch zwei weitere Morde an Menschen zu verantworten – Kaplan habe gefürchtet, die beiden könnten sich mit Informationen über die Bewegung an die Öffentlichkeit wenden.[24] Zudem wirft die IADI-Gruppe Kaplan die Veruntreuung von Spenden vor: Er soll Gelder, die er nach seiner Haftentlassung 2016 für den Bau einer Moschee sammeln ließ, für den Kauf eines Privatautos und für eine Urlaubsreise mit seiner Frau zweckentfremdet haben. Bei seiner Verhaftung im Jahre 2000, berichtet Hanafi und legt dabei mehrere Zeitungsartikel vor, sei eine Summe von zwei Millionen DM und sehr viel Gold gefunden worden. Die drei Akteure im Video sind sich sicher, dass Geld und Gold aus den Spendenmitteln stammten.[25]

Doch diese im Video präsentierte lange Liste an Vergehen ist für die Akteure von IADI gar nicht nötig, um Kaplan zu verurteilen. Für sie ist klar: Allein aufgrund seiner Weigerung, demokratische Wähler als Ungläubige einzustufen, trifft das Urteil der Schirk-Fatwā (seines Vaters Cemaleddin) Metin Kaplan selbst.[26] Er hat sich demnach des Unglaubens schuldig gemacht und ist kein Muslim. Kaplan muss daher von »alljeglichen« Ämtern enthoben werden.[27] Doch selbst wenn man annehme, dass das Urteil der Schirk-Fatwā Metin nicht treffe, sei er schon aufgrund seiner Unfähigkeit unwürdig, das Kalifenamt zu bekleiden. So habe er etwa oft Fragen seiner Anhänger, die die Auslegung des Glaubens betreffen, nicht beantworten können.[28]

Selbstberufene Erben des Kalifen?

Angesichts dieses umfangreichen Katalogs an Verfehlungen mag der Ärger der IADI-Gruppe, der aus dem harten, 17 Punkte umfassenden Urteil[29] spricht, zunächst nachvollziehbar sein. Doch bei Lichte betrachtet wirkt die Empörung über Metin Kaplans Verhalten insgesamt gekünstelt; ihre Argumente sind zudem nicht wirklich überzeugend. Die von der Gruppe vorgelegten Beweise über die Unfähigkeit Kaplans als Befehlshaber der Gläubigen und Kalifen umfassen Ereignisse – wie etwa der Tötungsaufruf gegen Sofu, weitere mutmaßliche Morde oder die unterschlagenen Spendengelder – aus den 1990er-Jahren, die ihnen schon früher bekannt gewesen sein müssten. Ihre Argumentation, dass sie vorher schon mehrfach versucht hätten, Erkundigungen über Metin Kaplan einzuholen, es aber keinen richtigen »Informationszufluss« gab und ihnen daher nur inkorrekte Informationen übermittelt wurden, wirkt nicht glaubwürdig.[30] Ihre Aussagen stützen sie vielfach auf Presseberichte und die Texte der Ümmet-i Muhammed, die sie aber schon vor Jahrzehnten hätten zur Kenntnis nehmen können. Auch über Beschwerden über Kaplan nach seiner Haftentlassung 2016 waren IADI nach eigenem Angaben informiert und haben ihm dennoch nicht ihre Solidarität aufgekündigt.[31]

Es spricht daher vieles dafür, dass die IADI-Gruppe nicht aus Empörung über die Verbrechen Kaplans handelte, über die auch ihre Protagonisten lange bereit waren, hinwegzusehen. Vielmehr machte ihnen die Kontroverse um die Ramadan-Berechnung und Kaplans auf Facebook veröffentlichte Sympathiebekundung für den türkischen Präsidenten Erdoğan deutlich, dass ihr bisheriger Kalif gar nicht mehr willens war, die Fundamentalopposition gegen das politische System der Türkei aufrechtzuerhalten, dessen Legitimität in Frage zu stellen und sich als Kalif und wahres Staatsoberhaupt aller Muslime zu präsentieren. Wahrscheinlich hat die lange Haft Kaplan auch die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens verdeutlicht.

Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die in den frühen 1980er Jahren das Aufkommen der Kalifatstaatsbewegung als radikale islamistische, auf chiliastische Hoffnungen gestützte Alternative zum politischen Status quo am Bosporus ermöglichten, sind heute nicht mehr gegeben. Während vor vierzig Jahren das türkische Militär mit harter Hand gegen Islamisten vorging und so Akteure wie Kaplan ins deutsche Exil drängte, steht der Ziehsohn des früheren islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan heute an der Spitze des Staates. Doch Erdoğan unternimmt keine Versuche, die Säkularstaats-Klausel in Artikel 2 der türkischen Verfassung zu streichen oder die Scharīʿa zur Grundlage der staatlichen Gesetzgebung zu machen, wie es der IADI-Gruppe vorschwebt. Dafür gelingt es ihm, mit symbolischen Handlungen wie der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee das laizistische Erbe der Türkei in Frage zu stellen, was bei vielen islamisch gesinnten Menschen in der Türkei und unter türkischstämmigen Menschen in Deutschland auf Zustimmung stößt. Junge Menschen, die sich nach einer kompromisslosen Interpretation des Islam ohne Zugeständnisse an die gesellschaftliche Moderne sehnen, werden im transnationalen und seinem Selbstverständnis nach überzeitlichen Salafismus fündig. Eine Spielart des radikalen Islam aber, wie sie die IADI-Gruppe vertritt, die den republikanischen Staatsaufbau kompromisslos ablehnt, mit ihrer auf das Osmanische Reich bezogenen Nostalgie allerdings der türkischen Nationalkultur verhaftet bleibt, erscheint langfristig wenig zukunftsfähig – die Rolle des Erben der türkischen Kalifen kann Recep Tayyip Erdoğan mit seinem islampopulistischen und gleichzeitig realpolitischen Kurs besser spielen.

[1] Im Auftrag des Islam TV: Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, YouTube, 15.05.2020, https://www.youtube.com/watch?v=EDLQ8c5MCoY&feature=youtu.be [eingesehen am 20.07.2020]. Im Video selbst heißt es, der Vortrag sei bereits am 9. und 10.05.2020 gehalten worden (ab Minute 1:13:44). Die Urteilsverkündung ist am Ende des Videos dokumentiert (ab Minute 3:47:30).

[2] Die Darstellung folgt Schiffauer, Werner: Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland, Frankfurt a. M. 2000.

[3] Demirci, Ayhan: »Kalif von Köln«: Metin Kaplan (64) auf freiem Fuß – Prozess wird neu aufgerollt!, in: Express.de, 16.11.2016, URL: https://www.express.de/koeln/-kalif-von-koeln–metin-kaplan–64–auf-freiem-fuss—prozess-wird-neu-aufgerollt–25108102 [eingesehen am 31.07.2020].

[4] O. V.: Bundesverfassungsgericht: Kalifatstaat von Metin Kaplan bleibt verboten, in: FAZ, 17.10.2003, URL: https://www.faz.net/1.129223 [eingesehen am 31.07.2020].

[5] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 20:58.

[6] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 31:33.

[7] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 45:45.

[8] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:12:10. Vgl. Koran 9:107-108, URL: http://tanzil.net/#9:107.

[9] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 1:02:52.

[10] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 54:01 sowie 56:01 zum Verbot der Berechnung des Monatsanfangs in der hanafitischen Rechtsschule.

[11] So erklärt etwa Pierre Vogel, einer der bekanntesten Salafisten in Deutschland, eine Dīmqrāṭiya muqayyada, also eine »beschränkte Demokratie«, die sich im Rahmen der von Koran und Sunna festgesetzten Regeln der Scharīʿa bewegt, für islamkonform. Vgl. PierreVogelde: »Wie steht der Islam zur Demokratie? Pierre Vogel (9.03.2013 Münster)«, YouTube, 30.07.2018, URL: https://www.youtube.com/watch?v=LlV9INIO8xo [eingesehen am 01.08.2020], ab Minute 09:28.

[12] Die Schirk-Fatwā bezeichnet ein islamisches Rechtsgutachten von Cemaleddin Kaplan, welches er laut Angaben der offiziellen Seite IADIs am 15.05.1993 erließ: O. V.: Die Schirk-Fatwā von Cemaleddin Kaplan, in: Im Auftrag des Islam, 05.09.2019, URL: https://www.imauftragdesislam.com/die-schirk-fetwa-von-cemaleddin-kaplan-_d1257.html [eingesehen am 26.07.2020].

[13] So lehnt etwa der deutsche Salafist Hassan Dabbagh den Ketten-Takfīr ab. Vgl. hierzu Wiedl, Nina/Becker, Carmen: Populäre Prediger im deutschen Salafismus: Hassan Dabbagh, Pierre Vogel, Sven Lau und Ibrahim Abou Nagie, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Salafismus in Deutschland: Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Global, local Islam, Bielefeld 2014, S.187–215, hier S.190–192.

[14] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:07:15.

[15] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:22:39.

[16] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:26:17.

[17] Das türkische Wort Hoca (eingedeutscht »Hodscha«) stammt ursprünglich aus dem Persischen und bedeutet »Lehrer«. Die Protagonisten von »Im Auftrag des Islam« nennen Kaplan Hoca als Ehrerbietung und um den Gebrauch seines Nachnamens im Zusammenhang mit seiner Person zu vermeiden: »Kaplan« bedeutet »Tiger«. Für das IADI-Netzwerk ist es eine heidnische Sitte, Tiernamen als Familiennamen zu nutzen.

[18] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:22:39.

[19] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:26:54.

[20] Ṭāghūt heißt hier so viel wie Tyrann, der nicht nach den Geboten des Islam herrscht.

[21] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:27:31.

[22] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:16:22.

[23] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:28:12.

[24] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:32:23.

[25] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 2:15:10.

[26] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:34:20.

[27] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:49:30.

[28] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:35:05.

[29] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 3:47:55.

[30] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 25:51.

[31] Klarstellung zum Thema Metin Kaplan, ab Minute 27:45.