Nach den Studentenprotesten 1967/68 brodelte es Anfang der 1970er Jahre neuerlich in Göttingen:[1] Durch starkes Bevölkerungswachstum und kontinuierlich steigende Studierendenzahlen erreichte der ohnehin chronische Wohnraummangel – ein Problem fast aller großen und größeren Universitätsstädte – derartige Ausmaße, dass jeweils zu Semesterbeginn mehrere tausend Wohnungen – bekanntlich ein bis in die Gegenwart alljährlich aufs Neue zu beobachtendes Phänomen – für die akademischen Novizen fehlten. Der zunehmende studentische Unmut darüber wurde überdies gesteigert durch die offensichtliche Wohnraumzerstörungspolitik der Stadtverantwortlichen. Denn: Göttingen wollte Großstadt werden.

Die erste Hürde hierfür nahm die Stadt schon 1964 durch die im »Göttingen-Gesetz«[2] geregelten Eingemeindungen[3], wodurch sie mit nun annähernd 110.000 Einwohnern sozusagen ad hoc zur Großstadt wurde. Um dem engagierten Großstadt-Unterfangen auch den äußerlichen zeittypischen Putz mit City-Center, Konsumtempeln und urbanem Chic zu verleihen, schien den Göttinger Stadtplanungsverantwortlichen eine unausweichliche Notwendigkeit zu sein, gut erhaltene historische Altbausubstanz niederzureißen, »um mittels einer ambitiösen Architektur städtebauliche Akzente zu setzen«[4]. So wurden, urteilte der Göttinger Schriftsteller Guntram Vesper mit parabolisch-kritischem Blick auf das Göttinger Sanierungsgebaren, dem Stadtkern »die schönen Fachwerkhäuser ausgebrochen wie einem alten Gebiß die mürben Zähne«[5], denn »Parkhaus, Warenhaus, Ärztehaus, Apartmenthaus sind zeitgemäßere Nutzungsformen zentraler Grundstücke«[6].

Baugröße und Stil der neuen betonrigorosen Zweckbauten orientierten sich ebenso wenig an der historisch gewachsenen Struktur der Stadt wie an der Traufhöhe etwa des frühneuzeitlichen Nachbarhauses. Und um einer zunehmend individuell automobilisierten Gesellschaft gerecht zu werden, waren neue Ringstraßen und Asphaltschneisen gewissermaßen obligatorisch. Die Abriss-Dimension wird noch greifbarer durch die Tatsache, dass die vom Bombenkrieg des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschont gebliebene Stadt bis in die 1970er Jahre einen Verlust von historischer Bausubstanz zu verzeichnen hatte, der sich durchaus vergleichen lässt mit Städten, die im Krieg weniger glimpflich davon gekommenen waren.[7] Maliziös gewendet: Flächenbombardement war keineswegs eine notwendige Bedingung für Flächensanierung.

Das »Göttinger Modell«

Dass der Göttinger Häuserkampf erst ab etwa Mitte der 1970er Jahre Fahrt aufnahm, lag nicht zuletzt am sogenannten Göttinger Modell (GöMo), das 1970 von Stadt, privaten Hausbesitzern und Studentenwerk ersonnen wurde, um der grassierenden Wohnungsnot beizukommen, und gegen das sich erst verhältnismäßig spät Widerstand formierte. Das Modell sah vor, dass die Stadt überwiegend für den Abriss bestimmte Häuser aus privater Hand aufkaufte und bis zu deren endgültiger Bestimmung durch das Studentenwerk an Studenten vermieten ließ.[8] Diese Vermietung unter Vorbehalt stieß natürlich auf wenig Gegenliebe bei studentischen Mietern und dem AStA, in deren Urteil diese Vermietpraxis nichts anderes war als »ein wichtiges Mittel der verantwortlichen Wohnraumzerstörer […], ihre schmutzige Stadtplanung unter den Teppich zu kehren«[9]. Außerdem habe es gehörig Missmut unter den ehemaligen nichtstudentischen Bewohnern geschürt – meist Arbeiter und Migranten, denen gerade wegen des vermeintlich bevorstehenden Hausabrisses gekündigt worden war und die nun gänzlich irritiert die Neueinziehenden beobachten konnten.[10]

Aber auch die einziehenden Studenten waren weitgehend rechtlose Mieter, die jederzeit der Kündigung ihres »Mietvertrages« harren mussten. Das Studentenwerk »verpasste [ihnen] einen ›Mietvertrag‹, in dem sämtliche Gesetze des Mieterschutzes (außer dreimonatiger Kündigungsfrist) aufgehoben«[11] wurden. Im Dezember 1974 heißt es in einer von der »Zelle Wirtschaftswissenschaften des Kommunistischen Studentenbundes (KSB) Göttingen« vorgeschlagenen und von der Vollversammlung der Wirtschaftswissenschaften verabschiedeten »Resolution der Bewohner des Göttinger Modells«, dass »die systematische Zerstörung von billigem und gutem Wohnraum in Göttingen […] allein den Interessen der großen Kaufhaus-, Bank- und Versicherungskapitalisten« diene und es sei »ausschließlich als Mittel gedacht, die Pläne zur Wohnraumzerstörung reibungslos durchzusetzen«.[12]

Eine kohärente studentische Position gab es bei der Kritik am »Göttinger Modell« allerdings nicht, wie ein RCDS-Flugblatt belegt, das sich »Pro GöMo – contra AStA« aussprach.[13] Das Göttinger Tageblatt – zu jener Zeit einer fehlenden kritisch-journalistischen Distanz gegenüber den beteiligten Akteuren aus der lokalen Politik- und Wirtschaftsprominenz nicht ganz unverdächtig[14] – hingegen bescheinigte allen Beteiligten eine erfolgreiche Zusammenarbeit.[15] Durch solche dem journalistischen Vexierspiegel entsprungene unkritische Berichterstattung machte es sich natürlich zur beliebten Angriffsfläche der zu jener Zeit überaus vielfältigen, blühenden Göttinger Alternativpresse.[16]

Vom »Göttinger Modell« betroffen waren auch die etwa achtzig Bewohner (Studenten, Familien, darunter griechische und pakistanische Migranten) der Häuser 2, 4 und 4a am Kreuzbergring. Ihnen wurde »vorsorglich« seitens der Universität gekündigt, die diese Häuser vor Jahren aufgekauft und sie bis zum Abriss – zugunsten von Universitätsneubauten, einer Straßenverbreiterung im Kreuzungsbereich und Grünflächen – dem Studentenwerk überlassen hatte.[17] Nachdem dieser »krasse Fall« von geplanter »Wohnraumzerstörung« bekannt geworden war, weigerten sich die Bewohner, der Kündigung Folge zu leisten und gründeten 1974 die »Mieterinitiative Kreuzbergring«[18], die im Häuserkampf der 1970er Jahre eine führende Rolle einnehmen sollte. Von solchen Mieterinitiativen[19] und vom AStA wurde der Göttinger Häuserkampf während der 1970er Jahre hauptsächlich getragen. Mit ihnen solidarisierten sich linksalternative Parteien und lokale Wählergruppen sowie Teile der SPD.

Allerdings kam es auch zu ungewollten Versuchen parteipolitischer Vereinnahmung. So veröffentlichte etwa die Mieterinitiative »Holtenser Berg« im März 1973 eine Erklärung, in der sie sich nachdrücklich und mit »Bedauern« gegen den in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck einer Politisierung durch die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) wendet.[20] Obwohl es keine untypische Strategie ist, durch Kooperation mit einer Bürgerinitiative ein Konfliktfeld zu politisieren, haben im bundesrepublikanischen Gesamtkontext »solche Infiltrations- und Instrumentalisierungsversuche durch [marxistisch-leninistische] ML-Gruppen, kommunistische Kaderorganisationen oder linksradikale Parteien nur geringen Erfolg«[21] gehabt. Gerade gegen Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre sei es besonders in Hinblick auf die zunehmende linke Militanz kein seltenes Phänomen gewesen, dass sich Bürgerinitiativen »immer wieder dem typischen Prozeß der Ausnutzung oder Manipulierung durch militante Gruppen, die aus der praktisch-pragmatischen Begründung die ideologisch bestimmte Rechtfertigung für Sammel- und Massenbewegungen zu machen suchten«[22], erwehren mussten. Wie die Spontis im Frankfurter Westend[23], dem ersten Epizentrum des bundesrepublikanischen Häuserkampfes zwischen 1970 und 1974, entdeckten im Verlauf der 1970er Jahre auch die »Mastodonten der Rebellion«[24] den – wie es im gut marxistischen Duktus heißt – »Reproduktionsbereich« für sich. Das heißt, auch die K-Gruppen, neben den Spontis weiteres bedeutendes »Zerfallsprodukt« des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und andere linke Kaderparteien versuchten nun nach der Enttäuschung über das nicht revolutionierbare Subjekt im »Produktionsbereich« und damit dem Scheitern der Arbeiteraufklärung, das Konfliktfeld Häuserkampf über das linksalternative Milieu zu besetzen.

Die Stadt als Bühne diverser neuer sozialer Bewegungen (Ökologie, Anti-Atom, Frieden usw.) wurde nun selbst zum Objekt einer neuen städtischen sozialen Bewegung.[25] Im Falle Göttingens nicht voraussetzungslos – denn es sei erinnert an die sich 1968 gegen den Reitstallabriss erhebenden Proteststimmen.[26] Obwohl letztlich nicht erfolgreich, kann man dieses Ereignis durchaus als ersten Häuserkampf Göttingens interpretieren, verfügte es doch über die typischen Ingredienzen: Besetzung, Behinderung der Abrissarbeiten, Räumung durch die Polizei.[27] Zum Wandel lokaler politischer (Protest-)Kultur, zu einer »Politisierung des städtischen Lebensfeldes«[28] trug natürlich nicht zuletzt die Studentenbewegung mit ihrem internationalen (Vietnamkrieg etc.) und nationalen (Notstandsgesetzgebung etc.) Protestengagement bei – wenngleich Göttingen im bundesweiten Vergleich ein relativ ruhiger südniedersächsischer Außenposten dieses Protests blieb. Das Bewegungs-Fernab der Provinz wird anschaulich etwa durch die Erinnerung des damaligen Göttinger SDS-Mitglieds Erwin Ratzke, wonach die ganze Wucht der Außerparlamentarischen Opposition Göttingen einigermaßen plötzlich erwischt, während man noch 1967 überwiegend »still vor sich hin adorniert«[29] habe. Gleichwohl erschien vielen protestbewegten Studenten jener (und auch unserer) Zeit das kommunalpolitisches Kleinklein[30] womöglich als etwas »zu popelig«[31], als provinzielle Quisquilien in Anbetracht der größere Aufregung versprechenden, existenzielleren Tragweiten nationaler und internationaler Konfliktlagen.

Die unmittelbare politische Bedeutung des Häuserkampfes liegt sicherlich darin, dass infrage gestellt wird, worauf sich unsere Gesellschaft wesentlich gründet: Eigentum. Gegen dessen widerrechtliche Aneignung, das offenkundige Widersprechen und Zuwiderhandeln gegen diese zentrale gesellschaftskonstituierende- und garantierende Prämisse, reagiert der Rechtsstaat üblicherweise mit allen ihm zu Gebote stehenden Abwehr- und Sanktionsmechanismen. Im Grunde aber sind es der Möglichkeiten nur zwei, Hausbesetzungen zu beenden: a) Räumung (mit/ohne Gewalt) oder b) Überführung in einen legalen vertraglich abgesicherten Rechtszustand. Da die juristische Legitimierung der Hausbesetzung aber abhängig ist von ihrer sozialen, ist das erste Ziel des Häuserkampfes zur Bewahrung/Erlangung von dringend benötigtem Wohnraum/Freiraum, den politischen und sozialen Begründungszusammenhang der Hausbesetzung öffentlich so zu rechtfertigen, dass die Zivilgesellschaft mobilisiert und Druck auf die politischen und juristischen Instanzen ausgeübt wird.

Häuserkampf um das Reitstallviertel

Sechs Jahre nach den Reitstallprotesten erreichte besonders der studentische Unmut über die Göttinger Stadtplanungs- und Wohnungspolitik eine neue Qualität nicht nur aufgrund des »Göttinger Modells«, sondern auch im Hinblick auf die städtischen (Abriss-)Pläne für das an den Reitstall angrenzende Wohnviertel. Dabei wirkte sicherlich protestmotivierend, dass der Reitstall schließlich nicht, wie noch zur Rechtfertigung seines Abrisses angekündigt, einem neuen Rathaus weichen musste, sondern – nach mehrjährigem Parkplatz-Intermezzo – einem 1973 errichten »Einkaufsbunker«[32]. Gemäß dem städtischen Planungsrahmen, »Großstadtbetriebsformen auch in der Innenstadt«[33] zu ermöglichen, und wohl auch aufgrund der chronisch klammen Stadtkasse erhielt der Oetker-Konzern den Zuschlag, ein Hertie-Kaufhaus zu errichten. In der gegenöffentlichen Rezeption der linksalternativen Göttinger Stadtzeitung stellte man lakonisch fest, dass »das neue Rathaus verdammt nach Hertie«[34] aussehe. Dies war keine lokale Ausnahme, denn das nicht nur aus heutiger Sicht bausündige Fait accompli war ein zeittypisches Stadtplanungsprodukt der 1960er und 1970er Jahre und damit nur ein weiteres Beispiel für immer größer gewordene Gegensätze: »Hier das absolute Rekordjahr im Wohnungsbau – 1973 –, dort riesige Flächensanierungen in den Städten, bei denen Verwaltungen und kapitalstarke Sanierungsträger zusammenarbeiten; hier die Profiteure, die am Ausverkauf der Städte und an der Spekulation verdienen, dort […] die wachsenden Proteste der Bevölkerung gegen die Kommerzialisierung alter innenstädtischer Wohngebiete.«[35]

Die Proteststimmung der Göttinger Häuserkämpfer stieg rasant, als spätestens ab 1974 das bereits 1970 ausgearbeitete städtische Planungsleitbild »Große Lösung« publik wurde, das vorsah, das nördlich des Hertie-Kaufhauses zwischen Weender Straße, Reitstallstraße, Leinekanal und Altstadtwall gelegene historische Reitstallviertel abzureißen, um ein weiteres Kaufhaus samt Parkplatz mit 600 Stellplätzen zu errichten. Der Oetker-Konzern hatte schon in der Vergangenheit sukzessive die Grundstücke bzw. Häuser (Weender Str. 77, 79 und 87 und Reitstallstr. 2) aufgekauft. Auch über eines seiner Tochterunternehmen – die Dortmunder Actien-Brauerei – erwarb er zwei Häuser (Weender Str. 81 und 83). Diejenigen Eigentümer, die nicht verkaufen wollten, seien unter Druck gesetzt und Mieter, die nicht schnell genug auszogen, durch Abdrehen von Gas und Strom schikaniert worden.[36] Die Göttinger Stadtzeitung sah in den intransparenten Verhandlungen zwischen Stadtverwaltung und Investor in kreativ-provokanter Übertreibung ein »Monopoly für Politiker und Finanzbosse« und inszenierte in einer monochromen Fotomontage die Verantwortlichen als vornehm saturierte Herren in jovialen Paten-Posen über das Brettspiel der Verhandlungsmasse gebeugt.[37]

Gegen das rücksichtslose Vorgehen, gegen die gemeinsame Zermürbungsstrategie von Investor und Stadtverwaltung formierte sich die Reitstallviertelinitiative (RVI), die – von Sympathiebekundungen aus Teilen der Göttinger Bevölkerung unterstützt – mittels Unterschriftenlisten, Eingaben und Appellen an den Stadtrat, Stadtteilversammlungen, Initiativen usw. die Stadt vom Abrissvorhaben abzubringen suchte. Als aber alle moderaten und legalen Wege des Protests ausgeschöpft und ohne Erfolg geblieben waren, wurde am 7. Dezember 1974 das Haus Weender Str. 77 von »30 Leuten« der RVI besetzt. »Wir haben dieses Haus besetzt, um billigen Wohnraum vor der Zerstörung zu retten«, las man auf einem großen Transparent, das die Häuserkampfer an der Fassade angebracht hatten.[38] Allein, drei Tage später, am Morgen des 10. Dezember, wurde das Haus von »120 Polizisten gewaltsam geräumt«[39] – wobei die Häuserkämpfer lediglich den untereinander verabredeten passiven Widerstand leisteten und sich heraustragen ließen. In der »Häuserkampf-Dokumentation« heißt es, dies sei das »erste gewaltsame Ende einer Hausbesetzung in Göttingen« gewesen.[40] Das Boulevard- und Anzeigenblatt Göttinger Blick hingegen lavierte: »Im allgemeinen bemühten sich die Polizisten um korrekte Behandlung der jungen Leute, doch griffen sie teilweise auch ziemlich hart zu.«[41] Was dann passierte, fasste ein Polizeioberrat salopp zusammen: »Es klappte wie am Schnürchen. Während die letzten Leute noch aus dem Haus gebracht wurden, rückten die Baufirmen an, um das Haus unbewohnbar zu machen.«[42] Dies hieß nichts anderes als die Zerstörung sämtlicher Sanitär- und Versorgungsanlagen des Hauses. Jeglichem »Instandbesetzen« sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Dem Vorwurf der Häuserkämpfer, so einer »Zweckentfremdung des Wohnraums« – zumal ohne Genehmigung – Vorschub geleistet zu haben, entgegnete Stadtbaurat Herbert Wiltenstein unbeteiligt, dass dies doch »Sache des Hauseigentümers« sei.[43] Auch die Antwort des Göttinger Dezernenten für Recht, Sicherheit und Ordnung, Hans Winters, veranschaulicht den Grad des amtlich vorherrschenden Verständnisses für die Hausbesetzung: »Selbst wenn der Eigentümer formell eine Genehmigung gebraucht hätte, könnte man ihm sein Verhalten rechtlich kaum zum Vorwurf machen, da er ja durch die Hausbesetzung praktisch zu seinem Schritt gezwungen worden sei.«[44]

Indes: Für die Göttinger Häuserkampfbewegung war die Räumung dennoch ein Erfolg. Nun formierte sich breiter Bürgerprotest und an der unmittelbar auf die Räumung folgenden Demonstration mit – je nach Quelle – ca. 2.000 (Blick)–3.000 (»Häuserkampf-Dokumentation«) Teilnehmenden, beteiligten sich auch Göttinger Geschäftsleute und Gewerbetreibende.[45] Im Falle des Reitstallabrisses gut sechs Jahre zuvor hatten die lokalen Wirtschaftsvertreter – Einzelhandelsverband, Kreishandwerkerschaft, Handelsausschuss der Industrie- und Handelskammer – noch aufseiten der Abrissbefürworter gestanden. Der breite Protestwiderhall in der Göttinger Bevölkerung zwang die Stadt, eine »vorsichtigere Gangart«[46] einzulegen und im Falle des Reitstallviertels auf die »kleine Lösung« (Totalabriss und Mischbebauung) umzuschwenken, was wiederum einen Keil zwischen die Stadtverwaltung und den auf der »großen Lösung« beharrenden Investor Oetker trieb; Letzterer war aufgrund der lokalen Renitenz ohnehin immer weniger gewillt, sein Bauvorhaben weiterzuverfolgen.

[1] Zitat im Titel aus o.V.: »Reitstallviertel: Totaler Abriß im nächsten Jahr?«, Göttinger Stadtzeitung, Oktober 1979, S. 14. Der Begriff »Häuserkampf« wird hier jenem der »Hausbesetzung« vorgezogen, da sich in ihm das Prozessuale des konfliktreichen, teils auch gewaltförmigen komplexen Wechselspiels der Akteure wiederfindet.

[2] Eigentlich: »Gesetz über die Neugliederung des Landreises und der Stadt Göttingen«, das sich heute als Sonderregelung in §16 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes (NKomVG) wiederfindet.

[3] Göttingen wurde einerseits um die Gemeinden Geismar, Grone, Nikolausberg und Weende erweitert, aber andererseits selbst in den gleichnamigen Landkreis Göttingen integriert, wobei sie kommunalverwaltungsrechtlich ihren Status als kreisfreie Stadt weitestgehend behielt – was tatsächlich ein in seiner »Kompromißhaftigkeit juristisches Unikum« war. Vgl. Trittel, Günter J.: Göttingens Entwicklung seit 1948, in: Thadden, Rudolf v./Trittel, Günter J. (Hg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, Göttingen 1999, S. 291–356, hier S. 319.

[4] Härtel, Maren Christine: Göttingen im Aufbruch zur Moderne. Architektur und Stadtentwicklung (1866–1989), in: Thadden, Rudolf v./Trittel, Günter J. (Hg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, Göttingen 1999, S. 761–817, hier S. 797.

[5] Vesper, Guntram: Nördlich der Liebe und südlich des Hasses, München 1979, S. 16.

[6] Ebd., S. 17.

[7] Vgl. Härtel: Göttingen im Aufbruch zur Moderne, S. 797.

[8] Vgl. Trittin und Bewohnerkollektiv Altes Klinikum: Häuserkampf in Göttingen. Dokumentation. Stadtsanierung-Uniausbau-Wohnsituation, Göttingen 1980, S. 28 f. Zu den jüngsten Auseinandersetzungen zwischen linksalternativen Wohnprojekten und dem Göttinger Studentenwerk als Träger der Häuser vgl. etwa die Ereignisse um die Häuser Goßlerstraße 17/A sowie Rote Straße 1–5/Burgstraße 52.

[9] Trittin: Häuserkampf in Göttingen, S. 28.

[10] Vgl. ebd.

[11] Ebd.

[12] StaG, o.V.: »Resolution der Bewohner des ›Göttinger Modells‹«, Flugschrift (FS) 10 B 403 bzw. FS 10 B 400.

[13] Vgl. STaG, o.V.: »Pro GöMo – contra AStA«, Flugblatt des RCDS, FS 10 B 400-9.

[14] Vgl. Matysiak, Stefan (Hg.): Von braunen Wurzeln und großer Einfalt: Südniedersächsische Medien in Geschichte und Gegenwart, Norderstedt 2014, S. 123–141.

[15] Vgl. o.V.: »Die Zusammenarbeit mit Studentenwerk war erfolgreich«, in: Göttinger Tageblatt, 09.02.1974.

[16] Vgl. etwa die göttinger nachrichten (gn) des AStA und die Göttinger Stadtzeitung (erschien zwischen 1977–85 in monatlicher Auflage von ca. 1.000 Exemplaren; die »Lieblingsfeinde der GöSZies« waren nach eigener Auskunft: Kurt Busch, Oberstadtdirektor (1968–80), SPD; Göttinger Blick, ein Boulevardblatt; Göttinger Tageblatt; Otto Knoke, leitender Polizist, später Polizeichef (1992–96); Rolf Vieten, Oberstadtdirektor (1980–87), FDP; Gerd Rinck, Oberbürgermeister (1982–86), CDU; u.a., vgl. goettinger stadtinfo [eingesehen am 16.05.2019].

[17] Vgl. o.V.: »Weitere Wohnraumvernichtung in Göttingen geplant«, in: Mieterzeitung. Kreuzbergring 2,4 + 4a, Nr. 1, 05.06.1974 [eingesehen am 29.05.2019].

[18] URL: http://kreuzbergring.blogsport.de [eingesehen am 29.05.2019].

[19] Mit der gemeinsamen zeitung (gz) hatten die Initiativen »Mieterinitiative Kreuzbergring«, »Initiative gegen den Ostring« sowie »Bewohnerinitiative nördliche Innenstadt« (Nachfolgerin der »Reitstallviertelinitiative«) seit Februar 1975 auch ein gemeinsames publizistisches Organ – wobei dies nicht bedeute, dass man sich »organisatorisch zu einer Initiative zusammengeschlossen hätte«. Vgl. o.V.: »Editorial«, in: gemeinsame zeitung der Mieterinitiativen gegen Wohnraumzerstörung in Göttingen, Nr. I, 18.02.1975, FS, o.S.

[20] Vgl. o.V.: »Bedauern über Politisierung, Vertrauensleute gegen DKP«, in: Göttinger Allgemeine, 18.03.1974.

[21] Reichardt, Sven: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 558.

[22] Bracher, Karl Dietrich: Politik und Zeitgeist. Tendenzen der siebziger Jahre, in: Ders. et al. (Hg.): Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt, Stuttgart 1986, S. 283–403, hier S. 377.

[23] Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Die Frankfurter Sponti-Szene. Eine Subkultur als politische Versuchsanordnung, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 44 (2004), S. 105–112, hier S. 106; Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft, S. 506 ff.

[24] Spengler, Tilman: Der Bauch der Avantgarde, in: Ders. et al. (Hg.): Kursbuch 65. Der große Bruch – Revolte 81, Berlin 1981, S. 179–188, hier S. 187.

[25] Vgl. Mayer, Margit, Städtische soziale Bewegungen, in: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt 2008, S. 293–318.

[26] Vgl. Nentwig, Teresa: Der Abriss des Reitstalls, in: Dies./Walter, Franz (Hg.): Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2015, S. 178–204; Girod, Sonja: Protest und Revolte. Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Göttingen 2012, S. 242–258.

[27] Vgl. Gottschalk, Carola: Gebaute Geschichte – Versteinerter Fortschritt, in: Duwe, Kornelia (Hg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 119–125, hier S. 124.

[28] Schott, Dieter: Die Geschichte der Bundesrepublik als Stadtgeschichte erzählen. Schlaglichter aus der Perspektive der Stadt, in: Bajohr, Frank et al. (Hg.): Mehr als eine Erzählung: zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik Deutschland: Festschrift für Axel Schildt, Göttingen 2016, S. 159–174, hier S. 166.

[29] Ratzke, Erwin: »1968« – Studentenbewegung in Göttingen, in: Duwe, Kornelia (Hg.): Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 212–220, hier S. 213.

[30] Vgl. Dahms, Hans-Joachim: Die Universität Göttingen 1918–1989: Vom »Goldenen Zeitalter« der Zwanziger Jahre bis zur »Verwaltung des Mangels« in der Gegenwart, in: Thadden, Rudolf v./Trittel, Günter J. (Hg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, Göttingen 1999, S. 395–456, hier S. 447 ff.

[31] Ratzke: »1968« – Studentenbewegung in Göttingen, S. 217.

[32] Trittin: Dokumentation, S. 19.

[33] GöttPlaAufbau, 20/1974, hier zit. nach Härtel: Göttingen im Aufbruch zur Moderne, S. 798.

[34] O.V.: »Reitstallviertel: Totaler Abriß im nächsten Jahr?«, in: Göttinger Stadtzeitung, Oktober 79, S. 14.

[35] Flagge, Ingeborg: Zwischen Leitbild und Wirklichkeit, in: Dies. (Hg.): Geschichte des Wohnens. Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 807–948, hier S. 860.

[36] Vgl. Trittin: Dokumentation, S. 19 ff.

[37] Vgl. Schwab, Gert: »Stadtplanung – Monopoly für Politiker und Finanzbosse?«, in: Göttinger Stadtzeitung, Juni 77, S. 6–9.

[38] Vgl. Trittin: Dokumentation, S. 20.

[39] Schwab: »Stadtplanung – Monopoly für Politiker und Finanzbosse?«, S. 8.

[40] Trittin: Dokumentation, S. 22.

[41] Stengel, Eckhard: »Polizei wollte nicht auf die schwarze Liste«, in: Göttinger Blick, 12.12.1974.

[42] O.V.: »Aktion am Dienstagfrüh ohne Zwischenfälle: Polizeiaufgebot räumt besetztes Haus. 43 Jugendliche festgenommen – Gestern abend 3000 bei Demonstration«, in: Göttinger Anzeiger, 11.12.1974.

[43] Stengel: »Polizei wollte nicht auf die schwarze Liste«.

[44] Ebd.

[45] Vgl. o.V.: »Aktion am Dienstagfrüh ohne Zwischenfälle: Polizeiaufgebot räumt besetztes Haus. 43 Jugendliche festgenommen – Gestern abend 3000 bei Demonstration«, in: Göttinger Anzeiger, 11.12.1974.

[46] Trittin: Dokumentation, S. 25.