Die Erzählung des Verfassungsschutzes

In den Verfassungsschutzberichten und Veröffentlichungen der Ämter für Verfassungsschutz wird häufig angemerkt, dass die Arbeit der Behörden auf dem Diktum der »wehrhaften Demokratie« beruhe und dass man somit eine Lehre aus Weimar gezogen habe.[1] Auch in einer der wenigen (Selbst-)Darstellungen der historischen Entwicklung des Verfassungsschutzes in Niedersachsen wird ausführlich auf diesen Terminus verwiesen.[2] Die Demokratie müsse sich vor ihren eigenen Feinden schützen und dürfe ihren Gegnern nicht, wie in der ersten deutschen Republik, hilflos gegenübertreten. Auch der damalige niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Uwe Schünemann, formulierte in seinem Vorwort des Verfassungsschutzberichts für Niedersachsen 2006: »Die Verfassungsbehörden in Deutschland sind Ausdruck einer wehrhaften Demokratie. Sie verteidigen die freiheitliche demokratische Grundordnung, indem sie Gefahren, die ihr drohen könnten, frühzeitig erkennen. Damit ist der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem des Staates und zur Verteidigung gegen Angriffe auf demokratische Prinzipien unerlässlich.«[3] Und in einem Textbaustein aus den Niedersächsischen Verfassungsschutzberichten, der in abgewandelter Form in Publikationen der Behörde immer wieder auftaucht, heißt es unter der Überschrift Verfassungsschutz und Demokratie: »Im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland wurde nach den Erfahrungen mit der Zerstörung der Weimarer Republik das Prinzip der wehrhaften Demokratie verankert. Das bedeutet, dass der demokratische Staat in der Lage sein soll, sich gegen seine Feinde zu wehren.«[4] Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich auch im aktuellen Verfassungsschutzbericht des Landes Niedersachsens: »Im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland wurde nach den Erfahrungen mit der Zerstörung der Weimarer Republik das Prinzip der wehrhaften Demokratie verankert. […] Da die Verfassungsschutzbehörden im Vorfeld konkreter Gesetzesverstöße tätig werden und frühzeitig verfassungsfeindliche Bestrebungen erkennen sollen, werden sie als ›Frühwarnsystem‹ des demokratischen Rechtsstaates bezeichnet.«[5]

Die Konstituierungsphase der jungen Bundesrepublik im Angesicht des Schreckens des Nationalsozialismus, der auch als Folge des Scheiterns der ersten Demokratie interpretiert worden ist, gilt den Verfassungsschützern als historischer Ort, vom dem aus die Genese des Amtes mit all seinen weitreichenden Befugnissen begründet wird. Weil man sich vor 1933 nicht hinreichend gegen die Republik- respektive Demokratiefeinde gewehrt habe, habe die erste Demokratie keine Überlebenschance gehabt: »Die erklärten Feinde der demokratischen Freiheit waren unter weitgehender Ausnutzung der auch ihnen vorbehaltlos zur Verfügung gestellten Möglichkeiten der demokratischen Verfassung zur Macht gelangt und hatten dann die Demokratie unverzüglich zerstört«[6], heißt es weiter in der Niedersächsischen Verfassungsschutzgeschichte. Dieser Geburtsfehler sei jedoch mit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai 1949 behoben worden. Mit der Ausgestaltung als »wehrhafter Demokratie« hätten die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Basis dafür geschaffen, sämtliche Feinde der Demokratie wirksam bekämpfen zu können. In dieser Logik gelten all jene als Feinde, die darauf abzielen, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verstoßen. Es zeigt sich: Die tradierte Erzählung über die Genese und schließlich auch Legitimation des Verfassungsschutzes ist die gescheiterte Weimarer Republik und die daraus gelernte bittere Lektion, die in der Etablierung einer Wehrhaftigkeit der bundesrepublikanischen Demokratie mündet.

Dies wirkt zunächst einleuchtend, gar zwingend: Wohl kaum jemand möchte in den Generalverdacht geraten, aus der Geschichte – und insbesondere aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Vergangenheit – nicht lernen zu wollen oder gar die gleichen Fehler zu begehen, die seinerzeit den Weg zur nationalsozialistischen Diktatur ebneten. Doch gerade weil der explizite Verweis auf die Defizite der Weimarer Reichsverfassung und damit einhergehend die implizite Benennung von Ursachen für den Erfolg des Nationalsozialismus in Diskussionen beinahe als Totschlagargument funktionieren, lohnt sich ein genauerer Blick auf den historischen Ort, der hier als Signifikant für die Legitimation des Verfassungsschutzes herangezogen wird. Dies gilt umso mehr, als Sebastian Ullrich schon vor zehn Jahren konstatierte, dass Weimar-Vergleiche eher ein »reflexhaftes Überbleibsel der politischen Kultur der alten Bundesrepublik«[7] seien, jedoch gleichzeitig den Rahmen dessen absteckten, was »politisch denkbar und machbar«[8] sei. Auch andere wiesen darauf hin, dass das »Weimar-Argument« Baustein einer Legitimationsstrategie war, um eine »starke« und »abwehrbereite Bonner Demokratie«[9] bzw. einen mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Verfassungsschutz aufzubauen. Da sich der Weimar-Bezug schon immer mit politischen Ordnungs- und Wertvorstellungen vermischt hat[10] und dies keinesfalls exklusiv für die Ämter des Verfassungsschutzes gilt, muss im Folgenden sorgfältig getrennt werden zwischen den zeitgenössischen Debatten – in diesem Fall den Beratungen des Parlamentarischen Rates als verfassungsgebende Versammlung – auf der einen und den sich daraus ergebenden geschichtspolitischen Implikationen auf der anderen Seite.

Der historische Bezugspunkt der Legitimation: der Parlamentarische Rat

Der Parlamentarische Rat war eine von den Länderparlamenten im Jahr 1948 gewählte Versammlung von Abgeordneten, die den Auftrag der Alliierten hatten, eine Verfassung für die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands auszuarbeiten. Und schaut man auf die dort Debattierenden, ist es richtig, dass die Abgeordneten oftmals nach Weimar schielten. Die insgesamt 65 stimmberechtigten Abgeordneten konnten sich unter dem zeitlichem Druck, den die Besatzungsmächte ausübten, in knapp acht Monaten – zwischen September 1948 bis Mai 1949 – auch deswegen auf ein Grundgesetz einigen, weil sie nicht nur stark von bereits bestehenden Kompromissen abkupferten, die bei den verfassungsrechtlichen Debatten seit 1946 um die Länderverfassungen entstanden waren, sondern auch, weil sie Argumente aus den Verfassungsdiskussionen der Weimarer Republik aufgriffen. Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates stellten sich mit ihrer Arbeit auch in die Tradition der Reichsverfassung von 1919 –  zumal viele von den Akteuren bereits verwaltungsrechtliche oder politische Ämter in der Weimarer Republik bekleidet hatten.[11] Schließlich waren zahlreiche Juristen bzw. Staats- und Verfassungsexperten – wie Carlo Schmid, Hermann v. Mangoldt oder Walter Menzel – an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt und mit Wilhelm Heile, Paul Loebe und Helene Weber saßen sogar drei Abgeordnete im Parlamentarischen Rat, die schon in der Weimarer Nationalversammlung an der Genese der Reichsverfassung mitgewirkt hatten.[12] Selbstredend kam in dieser Konstellation und unter dem Eindruck des Nationalsozialismus in den Debatten häufig das Diktum auf, dass man nicht die gleichen Fehler machen dürfe wie in Weimar; die erste demokratische Republik fungierte also überwiegend als Negativfolie.[13]

Die unterschiedliche Bewertung der Defizite der Weimarer Republik durch die Verfassungsgeber

Stärkung der Regierungsverantwortung

Aber die Väter und Mütter des Grundgesetzes schätzten die Fehler der Weimarer Verfassung durchaus unterschiedlich ein. Relativ unstrittig war bspw. die Tatsache, dass die Gewalt des Reichspräsidenten bzw. zukünftigen Bundespräsidenten eingeschränkt werden musste. Eine Machtbeschneidung sollte durch die Abschaffung der direkten Volkswahl und der weitreichenden Notverordnungsbefugnisse erreicht werden. Somit ging die vormalige Handlungsmacht des Reichspräsidenten der Weimarer Republik in der Verfassungskonstruktion der Bundesrepublik Deutschland auf den Bundeskanzler und das Parlament über. Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang mit einem expliziten Verweis auf Weimarer debattiert wurde, ist das konstruktive Misstrauensvotum. Während der Regierungschef in der Weimarer Republik lediglich das explizite Vertrauen, also die Mehrheit des Parlaments, für die Ermächtigung als Regierungschef benötigte, musste ein Anwärter auf die Kanzlerschaft innerhalb einer Legislaturperiode nun gleichzeitig die Mehrheit der Parlamentarier hinter sich bringen, um den Regierungschef ablösen zu können. Da die Konstruktion in der Weimarer Verfassung zu zahlreichen Parlamentsauflösungen und Notverordnungen geführt hatte, war das Ziel des konstruktiven Misstrauensvotums, die Kontinuität der Regierungsarbeit zu sichern. Wichtig war den Parlamentariern demzufolge – insbesondere mit Blick auf Weimar –, die Funktionsfähigkeit des Regierungssystems zu erhöhen.[14] Neben dem konstruktiven Misstrauensvotum, der Kanzlerwahl durch das Parlament (statt per Ernennung durch den Reichspräsidenten wie in der Weimarer Republik) und der reduzierten Funktion des Bundespräsidenten auf ein Repräsentativamt gelten die gestärkte Führungsrolle des Kanzlers und die erschwerte Selbstauflösung des Parlaments als wichtige Reformen zum Zweck der Stabilisierung und Regierungsfähigkeit. Aus ähnlichen Erwägungen verzichteten die Abgeordneten nach der Diskussion auch auf die Festschreibung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz.

Die Feinde der Freiheit

Darüber hinaus wurde mit dem expliziten Verweis auf Weimar viel über die Funktion des Grundrechtskataloges gestritten. Adolf Süsterhenn führte bspw. aus, dass »auch die Weimarer Verfassung […] einen Grundrechtskatalog« kannte, »der aber weitgehend durch den sogenannten Gesetzesvorbehalt seines prinzipiellen Wertes entkleidet war, weil er im Wege der einfachen Gesetzgebung verändert werden konnte«.[15] Dass hier eine stabile und unveränderliche Form gefunden werden sollte, welche die Menschen- und Bürgerrechte schützt, war gleichfalls weitgehend konsensual. Die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat waren sich nach der richtungsweisenden Rede des Vorsitzenden des Grundsatzausschusses, Carlo Schmid, am 8. September 1948 einig, dass »es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.« Und Schmid führte weiter aus: »Ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie missbrauchen wollen, um sie aufzuheben.«[16] Einen Tag später antwortete daraufhin Walter Menzel:

»Der Abgeordnete Schmid hat gestern sehr klar und plastisch dargelegt, daß wir es nicht noch einmal dulden dürfen, die Demokratie durch die Mittel der Demokratie zerstören zu lassen. Dies bedeutet, daß wir eine Bestimmung schaffen müssen, wonach Personen, die es unternehmen, die staatsbürgerlichen Freiheiten zu unterdrücken oder gegen die bestehenden Gesetze Gewalt anzuwenden oder anzudrohen, nicht gewählt werden dürfen.«[17]

Der Umgang mit den Feinden der Demokratie als Lehre aus Weimar führte die Parlamentarier also keinesfalls zu der Schlussfolgerung, dass eine wehrhafte oder streitbare Demokratie mit einem starken Verfassungsschutz aufzubauen sei. Während Menzel betonte, dass es unmöglich gemacht werden solle, Feinde der Demokratie in das Parlament zu wählen, appellierte Schmid im Namen der Menschenwürde an den Mut jedes Einzelnen zur Intoleranz gegenüber jenen, welche die Demokratie abschaffen wollen. Beiden standen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und das Ermächtigungsgesetz vor Augen. In eine ähnliche Richtung gingen auch die Debatten des Parlamentarischen Rates um die Ewigkeitsklausel, also die schließlich im Grundgesetz verankerte Bestandsgarantie für die Unantastbarkeit der Menschenwürde, den Föderalismus, die Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sowie die Demokratie. Hier war man sich einig, eine Barriere errichten zu müssen, wie es der FDP-Abgeordnete Thomas Dehler formulierte, nicht in dem Glauben, dadurch einer Revolution begegnen zu können, »aber doch in dem Willen, einer Revolution die Maske der Legalität zu nehmen«[18]. Der sozialdemokratische Abgeordnete Rudolf Katz entgegnete spitz, dass sich niemand »davon abhalten lassen [wird], einen Staatsstreich durchzuführen, wenn er von diesem Artikel 108 [Ewigkeitsklausel, heutige Zählung Art. 79 GG] hört«, woraufhin sein Parteigenosse Carlo Schmid kurz vor der Verabschiedung des Grundgesetzes am 5. Mai 1949 erwiderte, dass es wohl einen Unterschied mache, »ob jemand gezwungen ist, offen Revolution zu machen oder ob man ihm die Möglichkeit gibt, unter dem Schutz einer Scheinlegalität effektiv Revolution zu machen, ohne sich bekennen zu müssen«[19]. Und auch hier ging es den Verfassungsgebern nicht ausschließlich um potenzielle Verfassungsgegner und »Demokratiefeinde«, sondern auch um möglicherweise irrende Gesetzesgeber. Dem Parlament sollten – viel deutlicher als in Weimar – die Mittel versperrt werden, sich als demokratische Institution selbst preiszugeben. Die Verfassungsväter und -mütter hatten demzufolge eher einen Demokratieschutz gegen Akteure ›von oben‹ als ›von unten‹ vor Augen.

Verfassungsgericht, Wirtschaftsordnung und Dolchstoßlegende – weitere Weimar Bezüge der Bonner Parlamentarier

Neben den Ewigkeitsgarantien wurden durch den Parlamentarischen Rat noch weitere über die Reichsverfassung hinausgehende Elemente in das Grundgesetz eingearbeitet. Die Idee eines richterlichen Wächteramtes über das Grundgesetz war zwar bereits in der Weimarer Republik angedacht, ist aber erst mit der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt worden.[20] Differenzen in der parlamentarischen Beratung, genauer: im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, gab es jedoch in der Debatte über die Auswahl der Richter. So war die von Karlheinz Niclauß als mehrheitsdemokratische Auffassung zusammengefasste Fraktion der Ansicht, dass die Richter als soziale Gruppe wesentlich zur Unterhöhlung der Republik beigetragen hätten und daher bei der Personalauswahl nicht nur ihre fachliche Qualifikation, sondern auch ihre demokratische Zuverlässigkeit überprüft werden sollte. Aufgrund der »zeitgeschichtlichen Erfahrungen« galt das Prüfungs- und Auswahlverfahren einigen Parlamentariern deshalb nicht als Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit, sondern als »Voraussetzung für die Wiedereinführung dieser Unabhängigkeit«.[21]

Nicht nur das Fehlverhalten bestimmter Funktionseliten wie der Richterschaft, der Verantwortungsentzug der Politiker oder die Zweckmäßigkeit der einzelnen Verfassungselemente wurden mit Verweis auf Weimar verhandelt, sondern auch die Ausrichtung der Wirtschaftsordnung nahm in diesem Kontext breiten Raum ein. So sei insbesondere in der Interpretation der sozialdemokratischen Fraktion des Parlamentarischen Rates Weimar auch deshalb gescheitert, weil keine »echte Demokratie« im ökonomischen Bereich verwirklicht worden sei. Weil die Wirtschaft keine Demokratisierung durchlaufen habe, müsse nun mit einer begrenzten Steuerung, Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft und der Überführung bestimmter Betriebe in Gemeindeeigentum über die Verfassung eine Demokratisierung durchgesetzt werden. [22]

Und schließlich stand vielen Parlamentariern die in Bezug auf den Ersten Weltkrieg vor allem in der Weimarer Republik grassierende Erzählung der »Dolchstoßlegende« sinnbildlich vor Augen. Daher wurden insbesondere die Rolle der Alliierten im Verfassungsgebungsprozess und die Folgen ihrer Involviertheit kritisch besprochen. Viele Politiker beklagten, dass das Grundgesetz der Genehmigung der französischen, britischen und amerikanischen Besatzungsmächte bedürfe. Sie befürchteten, unter dieser Konstellation in den Augen des Volkes als Handlager der Besatzer gesehen zu werden. Dies käme einer fatalen Wiederholung der Geschichte gleich und reproduziere einen zentralen Geburtsfehler der Weimarer Republik. Unter dieser Prämisse galt es unbedingt den Eindruck zu vermeiden, als »Handlanger der Alliierten« zu agieren.

Der Exkurs in die Geschichte und auf die Genese des Grundgesetzes zeigt: Die legitimationsspendende Erzählung für die Verfassungsschutzbehörden von der Wehrhaftigkeit der Demokratie als Lehre aus Weimar lässt sich mit Blick auf die Debatten im Parlamentarischen Rat nur bedingt mit der historischen Realität in Einklang bringen. Denn die Perspektiven auf die erste Demokratie und ihre Verfassung waren deutlich vielschichtiger und heterogener, die Vorstellung von der Wehrlosigkeit der Republik spielte lediglich eine untergeordnete Rolle: In der Konsequenz, die man aus den historischen Erfahrungen zog, wurde verstärkt auf einen Schutz der Demokratie durch die Institutionen hingearbeitet, während die Verfolgung potenzieller Verfassungsgegner aus der Bürgerschaft – anders als in der Ausrichtung des Verfassungsschutzes – eine untergeordnete Rolle spielte.

Von der Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung der Argumente der Verfassungsgeber

Die kursorisch dargestellten Debatten im Parlamentarischen Rat müssen gleichfalls in ihre historischen Hintergründe eingebettet werden, um ihre eigene unmittelbare Verwobenheit mit der Vergangenheit deuten zu können. Entsprechend barg die Argumentation der Abgeordneten im Parlamentarischen Rat ihre eigene geschichtspolitische Dimension.

Denn auf die dort vorgetragenen Bezüge zur und Abgrenzung von der ersten Republik, so das hier entfaltete Argument, wird sich noch immer in bedenklicher Einseitigkeit und Verkürzung bezogen, um Legitimität spendende Begründungen für die extensive Beobachtungs- und Klassifizierungstätigkeit der Verfassungsschutzbehörden zu konstruieren.

Die Fraktionen des Parlamentarischen Rates haben zwar unterschiedliche Lehren aus Weimar gezogen, standen aber durch die unmittelbare Bedrohung angesichts der Berlin-Blockade und der damit zusammenhängenden Furcht vor einer kommunistischen Machtausweitung unter einem starken Einigungszwang, der sich in einem antitotalitären Minimalkonsens niederschlug und in der folgenden politischen Praxis der jungen Bundesrepublik eine eindeutig antikommunistische Stoßrichtung entwickelte.[23] Demzufolge ging es in den zeitgenössischen Debatten um das Grundgesetz nicht nur um eine Abgrenzung vom Nationalsozialismus, sondern auch um den sich ausbreitenden und als Bedrohung empfundenen Kommunismus. Die Wendung »Keine Freiheit den Feinden der Freiheit« wurde nicht nur im Rückblick auf die Weimarer Republik ein Diktum, sondern war insbesondere auch durch die aktuellen Erfahrungen in der benachbarten Zone und durch die weltpolitischen Entwicklungen geprägt.[24]

Dieser zeitgenössische Entstehungskontext der wehrhaften Demokratie wird hingegen in aktuellen Bezugnahmen ausgeblendet. Und obwohl der Parlamentarische Rat unter dem Eindruck der Berlin-Blockade stand, ist das Grundgesetz im »großen und ganzen nicht zu einer antikommunistischen Verfassungsordnung ausgebaut worden«[25]. Die Aufgabe der konkreten Umsetzung der antikommunistischen Verfolgung übernahm dann seit 1951 die politische Strafjustiz.[26] Der Clou jedoch ist, dass genau diese historische Entwicklung ausgeblendet wurde und die antikommunistische Ausrichtung insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren zwecks Legitimierung den Verfassungsgebern zugeschoben wurde.

Gleichfalls verschaffte in dieser Zeit die Abgrenzung zu Weimar dem neuen Staat eine wichtige Legitimationsquelle, da man im Kontrast zur schwächlichen Republik gut eine Stärke des neuen Staates suggerieren konnte, die durch die Formel der Wehrhaftigkeit entschieden unterstrichen wurde.[27] Während Weimar so zur Chiffre von Instabilität, Unsicherheit oder politischer Schwäche wurde, konnten sich die politischen Eliten der Bundesrepublik als starker Gegenpol inszenieren.

Doch gerade die politische Elite, der die Verfassungsväter und -mütter angehörten, wies sowohl eine personelle Kontinuität als auch eine entscheidende Diskontinuität auf: An der Verfassungsdiskussion der späten 1940er Jahre waren überwiegend die Indifferenten oder Gegner der ersten Republik beteiligt; ihre entschiedenen Unterstützer haben entweder nicht überlebt oder sind gleichsam ins Exil geflüchtet.[28] Und je düsterer die überlebenden Eliten in den westlichen Besatzungszonen die Situation der Weimarer Republik schilderten und je wirkungsloser sie die Verfassung der ersten Republik darstellten, desto plausibler erschien retrospektiv bspw. ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, umso leichter entschuldbar ihre Tatenlosigkeit.

Überdies war die Zeichnung der schwachen Republik auch stark von nationalsozialistischer Propaganda geprägt, worauf auch schon Theodor Heuss in der Aussprache am 9. September 1948 im Plenum des Parlamentarischen Rates hinwies:

»Heute ist modern geworden, und das ist auch hier ein bißchen durchgeklungen, von der Weimarer Verfassung gering zu reden. Das ist so ein bißchen noch die Suggestion der Hitlerpropaganda (Lebhafte Zurufe: sehr richtig!) in der auch sehr viele von uns noch befangen sind. […] Heute hat man die Angewohnheit zu sagen: Weil der Hitler an die Reihe gekommen ist und von den Paragraphen der Weimarer Verfassung nicht daran gehindert werden konnte, ist die Verfassung schlecht gewesen. So primitiv ist die Motivenreihe des Geschichtsprozesses nicht!«

Für Heuss sei die »vergiftete politische Atmosphäre« viel entscheidender gewesen »als diese oder jene von uns heute nicht als ganz richtig empfundene technische Paragraphenformulierung«.[29]

Das Zerrbild der Verfassungsgeber von Weimar

Wenn die Rechtfertigung der Aufgaben sicherheitspolitischer Institutionen weiterhin mit dem Weimar-Argument aktualisiert wird, muss zur Erhellung der geschichtspolitischen Dimension neben der zeitgenössischen Debatte im Parlamentarischen Rat gleichfalls die Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik in den Blick genommen werden. Ist also die gegenwärtig oft getroffene Einschätzung (die man vermeintlich von den Verfassungsgebern übernimmt), dass die Republik aufgrund ihrer Wehrlosigkeit untergegangen sei, berechtigt? Christoph Gusy legte in mehreren Publikationen ausführlich dar, dass die Verfassung und das kodifizierte Recht der Weimarer Republik im Grunde zahlreiche Möglichkeiten bereithielten, den Republikfeinden Einhalt zu gebieten.[30] Partei- und Vereinigungsverbote waren nicht nur möglich, sondern wurden lokal und auf Länderebene auch praktiziert. Auch das Republikschutzgesetz oder das politische Strafrecht bot Möglichkeiten zur Verfolgung von Hoch- und Landesverrat oder staatsfeindlichen Personen. Gleichfalls sammelte die Politische Polizei in Preußen Material u.a. über die NSDAP zur Vorbereitung eines Verbotsverfahrens, zu welchem es aufgrund der Absetzung der preußischen Regierung (»Preußenschlag«) aber nicht mehr kam.[31] Doch waren es der fehlende politische Wille, der bspw. ein reichsweites Verbot der NSDAP verhinderte,[32] und die juristische Nachsichtigkeit mit politischen Morden von rechts,[33] die den Untergang der Republik ebenfalls vorantrieben. So wurde bspw. der Passus des Hochverrates extensiv auf die KPD und weniger auf die NSDAP angewandt.[34] Daher verwundert es nicht, dass mehrere Autoren zu dem Schluss kommen, dass grundlegende Elemente der Wehrhaftigkeit bereits in der Weimarer Republik angelegt gewesen seien und es an einem einheitlichen Willen der Eliten gemangelt habe, diese Möglichkeiten zum Schutz der demokratischen und republikanischen Ordnung durchzusetzen.

Der aktuelle Konnex der Verfassungsschutzerzählung zwischen den Lehren aus Weimar und der wehrhaften Demokratie reproduziert hingegen eine einseitige Erklärung für das Scheitern der Weimarer Republik und blendet das Versagen der Eliten jeglicher Couleur, das Fehlen eines freiheitlichen demokratischen und republikanischen Grundkonsenses in der Gesellschaft oder die enormen außen- (Versailler Vertrag) und innenpolitischen Belastungen (Inflation) als Hauptursachen aus.

Das Weimarer-Begründungsnarrativ liefert keine hinreichende Legitimation

Bereits vor knapp vierzig Jahren wies Friedrich Karl Fromme auf den Anachronismus im Weimar-Bezug des Verfassungsschutzes hin.[35] Und in der Tat scheint das Prinzip der wehrhaften Demokratie selbst nicht nur einer spezifischen historischen Situation entnommen zu sein, sondern auf Voraussetzungen zu beruhen, welche die geschichtswissenschaftliche, rechtsgeschichtliche und politikwissenschaftliche Forschung schon lange infrage gestellt, ja: sogar widerlegt haben.[36]

Auch wenn gegenwärtig durch den Umbruch der Parteienlandschaft die politisch motivierte Gewalt gegen Geflüchtete und die siebzig- bzw. hundertjährigen Verfassungsjubiläen) eine gewisse punktuelle Reaktivierung des Weimar-Arguments in der öffentlichen Debatte zu beobachten ist,[37] kann grundsätzlicher festgehalten werden, dass im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik die Weimar-Bezüge immer stärker verblassen und selbst das Bundesverfassungsgericht seit den 1970er Jahren in seinen Urteilsbegründungen immer seltener auf die Weimarer Verhältnisse anspielt[38], dass die Verweise eher illustrative Züge annehmen und keine genuine Rechtfertigung mehr liefern. Vor diesem Hintergrund muss schließlich vorsichtig gefragt werden, ob die Persistenz des unzeitgemäßen und in seinen historischen Bezugnahmen schiefen Begründungsnarratives des Verfassungsschutzes (und all jener, die sich dieses Motivs bedienen) nicht ein Hinweis auf das Fehlen anderer Legitimation spendender Wurzeln ist.

[1] Vgl. hierzu exemplarisch Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern, [eingesehen am 31.10.2018]: »Nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung ist es die Aufgabe der Gesellschaft, denjenigen Kräften entgegenzuwirken, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen.« Auch: Verfassungsschutzbericht des Freistaates Thüringen 2004, S. 8, [eingesehen am 31.10.2018]; Verfassungsschutzbericht des Bundes 2012, [eingesehen am 31.10.2018], S. 16 f. Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass auch in Teilen der Rechts- und Verwaltungswissenschaften diese Behauptungen reproduziert werden; vgl. exempl. Thiel, Markus: Zur Einführung: Die ›wehrhafte Demokratie‹ als verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung, in: Ders. (Hg.): Wehrhafte Demokratie. Beiträge über Regelungen zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, Tübingen 2003, S. 1–24, hier S. 2.

[2] Siehe Verfassungsschutz in Niedersachsen (Hg.): Wehrhafte Demokratie, 2. aktual. Aufl., Wolfenbüttel 1981.

[3] Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2006 [eingesehen am 07.11.2018], S. 2.

[4] Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2009 [eingesehen am 07.11.2018], S. 15.

[5] Verfassungsschutzbericht Niedersachsen 2017 [eingesehen am 07.11.2018], S. 7.

[6] Verfassungsschutz in Niedersachsen, S. 17.

[7] Ullrich, Sebastian: Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009, S. 622.

[8] Ebd., S. 19.

[9] Dreyer, Michael: Weimar als wehrhafte Demokratie – ein unterschätztes Vorbild, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen (Hg.): Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt u.a. 2009, S. 161–189, hier S. 188.

[10] Vgl. Ullrich, S. 618.

[11] Vgl. Feldkamp, Michael: Der Parlamentarische Rat 1948–49. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2008, S. 183.

[12] Vgl. Werner, Wolfram: Einleitung, in: Der Parlamentarische Rat 1948&ndahs;1959. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, München 1996, S. VII–XLI, hier S. VII.

[13] Vgl. Gusy, Christoph: Die Weimarer Verfassung und ihre Wirkung auf das Grundgesetz, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt u.a. 2009, S. 27–50, hier S. 49.

[14] Vgl. hierzu Niclauß, Karlheinz: Der Weg zum Grundgesetz, Paderborn u.a. 1998, S. 183–201.

[15] Der Parlamentarische Rat 1948–1959. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, München 1996, S. 56.

[16] Ebd., S. 36.

[17] Ebd., S. 72.

[18] Der Parlamentarische Rat, Akten und Protokoll, Bd. 14.: Hauptausschuss, Teilband 1 und 2, München 2009, S. 1794.

[19] Ebd.

[20] Siehe ebd.

[21] Niclauß, S. 240.

[22] Siehe ebd., S. 28 f.

[23] Vgl. hierzu Ullrich, v.a. S. 292 f.

[24] Vgl. hierzu Fromme, Friedrich Karl: Die Streitbare Demokratie im Bonner Grundgesetz. Ein Verfassungsbegriff, in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Verfassungsschutz und Rechtsstaat. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Köln u.a. 1981, S. 185–218.

[25] Ridder, Helmut: Grundgesetz, Notstand und politisches Strafrecht, in: Deiseroth, Dieter et al. (Hg.): Helmut Ridder: Gesammelte Schriften, Baden-Baden 2010 [urspr. 1965], S. 493–520, hier S. 514.

[26] Vgl. ebd., S. 515.

[27] Vgl. Ullrich, S. 376.

[28] Vgl. Waldhoff, Christian: Folgen – Lehren – Rezeption: Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar, in: Dreier, Horst/Waldhoff, Christian (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 289–315, hier S. 291.

[29] Der Parlamentarische Rat 1948–1959. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, München 1996, S. 104.

[30] Vgl. hierzu am ausführlichsten Gusy, Christoph: Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991.

[31] Vgl. Dreyer, S. 168.

[32] Vgl. Lübbe-Wolff, Gertrude: Das Demokratiekonzept der Weimarer Reichsverfassung, in: Dreier, Horst/Waldhoff, Christian (Hg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, S. 111–149, hier S. 128.

[33] Vgl. ebd., S. 145.

[34] Vgl. Gusy, Wehrlose Republik?, S. 127.

[35] Siehe Fromme, S. 217.

[36] Jüngst detailliert untersucht von Schulz, Sarah: Die freiheitliche demokratische Grundordnung. Ergebnis und Folgen eines historisch-politischen Prozesses, Velbrück 2019.

[37] Siehe Waldhoff, S. 313.

[38] Vgl. Gusy, Weimarer Verfassung, S. 41.