Aufgaben und Struktur

Der NSU-Komplex und die damit verbundenen gravierenden Versäumnisse der Staatsschutzbehörden haben mit Blick auf den Rechtsextremismus zu einem grundlegenden Umdenken geführt. Seither arbeiten zahlreiche Länder und der Bund an einer Reform insbesondere der Verfassungsschutzämter. Namentlich das Land Niedersachsen strebt seit 2013 in diesem Bereich eine umfassende Umstrukturierung an, mit dem Ziel, mehr Transparenz und eine begriffliche ebenso wie politisch-praktische Neuorientierung bei der Betrachtung »verfassungsfeindlicher Bestrebungen« in der Gesellschaft zu erreichen. Mit der Einrichtung der »Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen« (FoDEx) an der Universität Göttingen nimmt das Land Niedersachsen in diesem Zusammenhang eine bundesweite Vorreiterrolle ein.

Die Forschungs- und Dokumentationsstelle widmet sich – kurz und bündig gesprochen – drei zentralen Aufgaben: erstens der wissenschaftlichen Erforschung und Bewertung oft als solche bezeichneter »antidemokratischer bzw. demokratiegefährdender Tendenzen« in der Gesellschaft in den Bereichen Rechtsextremismus, religiöser Extremismus und linke Militanz, für die das Göttinger Institut für Demokratieforschung verantwortlich ist. Zweitens der Sammlung und Akquise, der systematischen Aufbereitung und öffentlichen Bereitstellung jener Materialien und Quellen, welche die Forschungskontexte betreffen und die unter anderem vom Landesverfassungsschutz zur Archivierung bereitgestellt werden. Der Ort dieser Dokumentation ist die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SUB). Drittens schließlich setzt sich FoDEx explizit und dezidiert die Aufgabe, die aus dem Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie in die gesellschaftlichen Debatten einzuspeisen.

Völlig unzweifelhaft ist dabei, dass die Wissenschaftler und Archivare der Forschungs- und Dokumentationsstelle in ihrer Arbeit frei und unabhängig sind. Jedwede Einflussnahme, etwa durch den Verfassungsschutz, aber auch durch das Innenministerium oder andere Regierungsinstitutionen und Behörden, ist ausgeschlossen. Über die Festlegung der Forschungsfragen, das methodische Vorgehen, über die Schwerpunkte der Analysen und Dokumentationen sowie auch die Veröffentlichungen entscheidet das FoDEx-Team autonom. Die Arbeit und die Berichte des Verfassungsschutzes, die in der Vergangenheit stark von einer Verdachtsberichterstattung geprägt waren, werden ebenfalls in die wissenschaftliche Untersuchung einbezogen und, ebenso wie die »Staatsschutzaufgaben« anderer Sicherheitsbehörden, kritisch analysiert. Dies gilt sowohl für die gegenwärtige Arbeit und aktuelle Darstellungslogiken als auch für historisch gewachsene Semantiken, Theoriekonzepte und Deutungsmuster – und umfasst das Verhältnis der Institution zu anderen Einrichtungen der Legislative, Exekutive und Judikative, personelle Kontinuitäten sowie diskussionswürdige Praktiken des Verfassungsschutzes. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wer in verschiedenen Zeiten als »Beobachtungsobjekt« eingestuft wurde, sondern auch, unter welchen Bedingungen diese Typisierungen zustande kamen, an welche gesellschaftspolitischen Debatten sie anknüpften, welchen Normen sie gegebenenfalls zuwiderliefen.

Verortung und Perspektiven

Dabei will sich die Forschungsstelle nicht an die überkommene und von Staatsschutzbehörden jahrzehntelang zum Teil unkritisch verwendete Begrifflichkeit des »Extremismus« anlehnen oder das Blickfeld allein auf die Analyse »demokratiefeindlicher« Bestrebungen und Akteure einengen, da dies den notwendigen Freiraum beschränken würde, neben den individuellen Ursachen und Bedingungsfaktoren die gesellschaftlichen Rahmenbedingen für extreme Einstellungen und daraus abgeleitete Kollektivaktionen und Individualhandlungen zu betrachten.

Damit geht einher, dass wir politische Gewalt und Militanz, Dissidenz und Radikalismus ganz grundsätzlich nicht als Kehrseite der Demokratie denken, sondern als deren Begleiterscheinungen, als Phänomene gesellschaftspolitischer Transformationsprozesse. Wir begreifen Demokratie als Gesellschaftsform der permanenten Veränderung, als Aushandlungsmodus und Diskursort, an dem die kontroversen Interessen sehr verschiedener Gruppen zusammenstoßen, miteinander ringen, um Meinungsführerschaft streiten.[1] Vor allem ist Demokratie nicht selbstverständlich, sondern ein komplizierter Mechanismus der Willensbildung. Selbstverständlich ist hier nichts, erst recht nicht unveränderlich und unhinterfragbar ewig während verbindlich; die Vielfalt der Positionen und Meinungen stets aufs Neue und immer bloß temporär abzubilden, macht Politik vielmehr ungemein mühselig und kompliziert. Demokratieforschung beschäftigt sich deswegen naheliegender Weise auch mit ihren Problemen, Defiziten und Deformationen, entsprechend auch: mit den Gefährdungen und Grenzen der Demokratie.

Die Analyse dieser Gefährdungen und Grenzen soll in die aktuellen Debatten der politischen Wissenschaft und gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Krise der Demokratie eingebettet werden.[2] Denn Demokratie ist auch ganz ohne potenzielle »Gefährder« keine statische Selbstverständlichkeit, sondern durchaus Legitimationskrisen ausgesetzt.[3] Nicht nur stehen das Parlament und die Bundesregierung regelmäßig – und das nicht nur bei Sympathisanten von Pegida, AfD und Co. – auf den hinteren Plätzen von Beliebtheitsumfragen. Moderne Demokratien entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten zudem – so jedenfalls ein in der Bevölkerung weitverbreiteter Eindruck – zu unnahbaren Verhandlungsdemokratien in verschlossenen Räumen mit den informellen Strukturen einer Oligarchie. Demokratie ist für viele Bürger daher aktuell kein verheißungsvolles Versprechen mehr – und auch die Politik verzichtet oftmals gerne auf die Wähler, offeriert vollendete Tatsachen, kleidet sie in das Autoritätsgewand unzweifelhafter Sachrationalität und entzieht sich so der öffentlichen Debatte. Deshalb warnte Franz Walter bereits 2012 davor, dass solche Entwicklungen dazu führen könnten, die »Legitimationswurzeln der Demokratie aus[zutrocknen], deren innerer Ethos sich mehr und mehr mindert«[4].

Das heißt, eine Demokratie ist fragil und muss aktiv geschaffen und permanent gestaltet werden, sie braucht sinnstiftende Begründungen, die nicht per se existieren, sondern in vielschichtigen und auch divergierenden Prozessen erzeugt werden müssen. Oft sind dabei gerade Konflikte der Geburtsort von politischen Zielen, Normen und programmatischem Sinngehalt insgesamt, auch: von Demokratie. Nichts treibt die Wahlbeteiligung – so lässt sich vor dem Hintergrund der Landtagswahlen des Jahres 2016 ebenso wie mit Blick auf zeitgenössische Entwicklungen im europäischen Ausland konstatieren – so sehr in die Höhe wie eine scharf geführte, auch die Wahlbürger elektrisierende und umtreibende Auseinandersetzung. Große Konfliktkonstellationen sind die Folie, auf der die Akteure Begriffe prägen, Argumente schärfen, Feindbilder schaffen und eben dadurch die Demokratie, wenn man so will, vitalisieren, wobei sie darauf zu achten haben, für die Bürger auch neue Beteiligungsformen jenseits der Parteien zu offerieren. »Anderenfalls werden sich Politik und Gesellschaften noch weiter entkoppeln, [und es wird] bald heißen: Es gibt Demokratie. Aber kaum noch jemand will dabei in den vorgegebenen Strukturen mitmachen.«[5]

Gerade im Postulat des Mitmachens schwang zuletzt das Versprechen, ja beinahe die Verheißung mit, ein belebender Jungbrunnen der Demokratie zu sein. Auch, weil viele davon ausgehen, dass Angebote zur Teilhabe im demokratischen Diskurs und am politischen Prozess dem Mitgliederschwund in Parteien, Gewerkschaften und anderen herkömmlichen Übersetzungsagenturen und Repräsentanten des »Volkswillens« begegnen können. In der Debatte wird jedoch oftmals vergessen oder nur zögerlich angemerkt, dass ein »Zuwachs an plebiszitären Möglichkeiten« auch die Demokratiekrise verschärfen könnte, statt zu deren Lösung beizutragen. Herfried Münkler entwickelte sogar den Gedanken, ob mit einem Zuwachs an Demokratie die Gefährdung von Demokratien einhergehe.[6] Partizipation erscheint somit keineswegs als Zauberformel und Patentlösung zur Stabilisierung von Demokratie, die in ihren Repräsentationssystemen langwierig, debattenintensiv und kompromissdurchwirkt ist.

Und in diesen Debatten können eben auch Gruppen laut vernehmbar ihre Interessen artikulieren, die keineswegs notwendig in einer harmonischen Erfüllung des Gemeinwohls aufgehen müssen, ohne dass deshalb demokratieunerträgliche Egoisten zu schelten oder gar auszugrenzen wären. Doch beugt man sich dem Automatismus, solche Akteure einfach als »Demokratiegefährder« abzukanzeln, könnte am Ende die Stunde der veritablen kalten Tabubrecher und Demokratie sprengenden Anheizer der kochenden Volksseele, mithin der in der Tat gefährlichen Radikalpopulisten, wirklich schlagen. Denn: »Die Zivilgesellschaft ist nicht allein ein Gewächshaus für löbliche Tugenden der Liberalität, Toleranz und Humanität. Zur Zivilgesellschaft gehören auch pathologische Ängste und Aggressionen, soziale und ethnische Ausgrenzung und Verdrängungsbemühungen, Zynismus und Verachtung gegenüber dem demokratischen Prozess. Die Verbände selbst der politisch extrem Rechten stehen nicht außerhalb der Zivilgesellschaft, sondern füllen deren dunkle, schmutzige Seiten.« [7]