Aufgaben und Struktur

Der NSU-Komplex und die damit verbundenen gravierenden Versäumnisse der Staatsschutzbehörden haben mit Blick auf den Rechtsextremismus zu einem grundlegenden Umdenken geführt. Seither arbeiten zahlreiche Länder und der Bund an einer Reform insbesondere der Verfassungsschutzämter. Namentlich das Land Niedersachsen strebt seit 2013 in diesem Bereich eine umfassende Umstrukturierung an, mit dem Ziel, mehr Transparenz und eine begriffliche ebenso wie politisch-praktische Neuorientierung bei der Betrachtung »verfassungsfeindlicher Bestrebungen« in der Gesellschaft zu erreichen. Mit der Einrichtung der »Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen« (FoDEx) an der Universität Göttingen nimmt das Land Niedersachsen in diesem Zusammenhang eine bundesweite Vorreiterrolle ein.

Die Forschungs- und Dokumentationsstelle widmet sich – kurz und bündig gesprochen – drei zentralen Aufgaben: erstens der wissenschaftlichen Erforschung und Bewertung oft als solche bezeichneter »antidemokratischer bzw. demokratiegefährdender Tendenzen« in der Gesellschaft in den Bereichen Rechtsextremismus, religiöser Extremismus und linke Militanz, für die das Göttinger Institut für Demokratieforschung verantwortlich ist. Zweitens der Sammlung und Akquise, der systematischen Aufbereitung und öffentlichen Bereitstellung jener Materialien und Quellen, welche die Forschungskontexte betreffen und die unter anderem vom Landesverfassungsschutz zur Archivierung bereitgestellt werden. Der Ort dieser Dokumentation ist die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SUB). Drittens schließlich setzt sich FoDEx explizit und dezidiert die Aufgabe, die aus dem Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie in die gesellschaftlichen Debatten einzuspeisen.

Völlig unzweifelhaft ist dabei, dass die Wissenschaftler und Archivare der Forschungs- und Dokumentationsstelle in ihrer Arbeit frei und unabhängig sind. Jedwede Einflussnahme, etwa durch den Verfassungsschutz, aber auch durch das Innenministerium oder andere Regierungsinstitutionen und Behörden, ist ausgeschlossen. Über die Festlegung der Forschungsfragen, das methodische Vorgehen, über die Schwerpunkte der Analysen und Dokumentationen sowie auch die Veröffentlichungen entscheidet das FoDEx-Team autonom. Die Arbeit und die Berichte des Verfassungsschutzes, die in der Vergangenheit stark von einer Verdachtsberichterstattung geprägt waren, werden ebenfalls in die wissenschaftliche Untersuchung einbezogen und, ebenso wie die »Staatsschutzaufgaben« anderer Sicherheitsbehörden, kritisch analysiert. Dies gilt sowohl für die gegenwärtige Arbeit und aktuelle Darstellungslogiken als auch für historisch gewachsene Semantiken, Theoriekonzepte und Deutungsmuster – und umfasst das Verhältnis der Institution zu anderen Einrichtungen der Legislative, Exekutive und Judikative, personelle Kontinuitäten sowie diskussionswürdige Praktiken des Verfassungsschutzes. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wer in verschiedenen Zeiten als »Beobachtungsobjekt« eingestuft wurde, sondern auch, unter welchen Bedingungen diese Typisierungen zustande kamen, an welche gesellschaftspolitischen Debatten sie anknüpften, welchen Normen sie gegebenenfalls zuwiderliefen.

Verortung und Perspektiven

Dabei will sich die Forschungsstelle nicht an die überkommene und von Staatsschutzbehörden jahrzehntelang zum Teil unkritisch verwendete Begrifflichkeit des »Extremismus« anlehnen oder das Blickfeld allein auf die Analyse »demokratiefeindlicher« Bestrebungen und Akteure einengen, da dies den notwendigen Freiraum beschränken würde, neben den individuellen Ursachen und Bedingungsfaktoren die gesellschaftlichen Rahmenbedingen für extreme Einstellungen und daraus abgeleitete Kollektivaktionen und Individualhandlungen zu betrachten.

Damit geht einher, dass wir politische Gewalt und Militanz, Dissidenz und Radikalismus ganz grundsätzlich nicht als Kehrseite der Demokratie denken, sondern als deren Begleiterscheinungen, als Phänomene gesellschaftspolitischer Transformationsprozesse. Wir begreifen Demokratie als Gesellschaftsform der permanenten Veränderung, als Aushandlungsmodus und Diskursort, an dem die kontroversen Interessen sehr verschiedener Gruppen zusammenstoßen, miteinander ringen, um Meinungsführerschaft streiten.[1] Vor allem ist Demokratie nicht selbstverständlich, sondern ein komplizierter Mechanismus der Willensbildung. Selbstverständlich ist hier nichts, erst recht nicht unveränderlich und unhinterfragbar ewig während verbindlich; die Vielfalt der Positionen und Meinungen stets aufs Neue und immer bloß temporär abzubilden, macht Politik vielmehr ungemein mühselig und kompliziert. Demokratieforschung beschäftigt sich deswegen naheliegender Weise auch mit ihren Problemen, Defiziten und Deformationen, entsprechend auch: mit den Gefährdungen und Grenzen der Demokratie.

Die Analyse dieser Gefährdungen und Grenzen soll in die aktuellen Debatten der politischen Wissenschaft und gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Krise der Demokratie eingebettet werden.[2] Denn Demokratie ist auch ganz ohne potenzielle »Gefährder« keine statische Selbstverständlichkeit, sondern durchaus Legitimationskrisen ausgesetzt.[3] Nicht nur stehen das Parlament und die Bundesregierung regelmäßig – und das nicht nur bei Sympathisanten von Pegida, AfD und Co. – auf den hinteren Plätzen von Beliebtheitsumfragen. Moderne Demokratien entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten zudem – so jedenfalls ein in der Bevölkerung weitverbreiteter Eindruck – zu unnahbaren Verhandlungsdemokratien in verschlossenen Räumen mit den informellen Strukturen einer Oligarchie. Demokratie ist für viele Bürger daher aktuell kein verheißungsvolles Versprechen mehr – und auch die Politik verzichtet oftmals gerne auf die Wähler, offeriert vollendete Tatsachen, kleidet sie in das Autoritätsgewand unzweifelhafter Sachrationalität und entzieht sich so der öffentlichen Debatte. Deshalb warnte Franz Walter bereits 2012 davor, dass solche Entwicklungen dazu führen könnten, die »Legitimationswurzeln der Demokratie aus[zutrocknen], deren innerer Ethos sich mehr und mehr mindert«[4].

Das heißt, eine Demokratie ist fragil und muss aktiv geschaffen und permanent gestaltet werden, sie braucht sinnstiftende Begründungen, die nicht per se existieren, sondern in vielschichtigen und auch divergierenden Prozessen erzeugt werden müssen. Oft sind dabei gerade Konflikte der Geburtsort von politischen Zielen, Normen und programmatischem Sinngehalt insgesamt, auch: von Demokratie. Nichts treibt die Wahlbeteiligung – so lässt sich vor dem Hintergrund der Landtagswahlen des Jahres 2016 ebenso wie mit Blick auf zeitgenössische Entwicklungen im europäischen Ausland konstatieren – so sehr in die Höhe wie eine scharf geführte, auch die Wahlbürger elektrisierende und umtreibende Auseinandersetzung. Große Konfliktkonstellationen sind die Folie, auf der die Akteure Begriffe prägen, Argumente schärfen, Feindbilder schaffen und eben dadurch die Demokratie, wenn man so will, vitalisieren, wobei sie darauf zu achten haben, für die Bürger auch neue Beteiligungsformen jenseits der Parteien zu offerieren. »Anderenfalls werden sich Politik und Gesellschaften noch weiter entkoppeln, [und es wird] bald heißen: Es gibt Demokratie. Aber kaum noch jemand will dabei in den vorgegebenen Strukturen mitmachen.«[5]

Gerade im Postulat des Mitmachens schwang zuletzt das Versprechen, ja beinahe die Verheißung mit, ein belebender Jungbrunnen der Demokratie zu sein. Auch, weil viele davon ausgehen, dass Angebote zur Teilhabe im demokratischen Diskurs und am politischen Prozess dem Mitgliederschwund in Parteien, Gewerkschaften und anderen herkömmlichen Übersetzungsagenturen und Repräsentanten des »Volkswillens« begegnen können. In der Debatte wird jedoch oftmals vergessen oder nur zögerlich angemerkt, dass ein »Zuwachs an plebiszitären Möglichkeiten« auch die Demokratiekrise verschärfen könnte, statt zu deren Lösung beizutragen. Herfried Münkler entwickelte sogar den Gedanken, ob mit einem Zuwachs an Demokratie die Gefährdung von Demokratien einhergehe.[6] Partizipation erscheint somit keineswegs als Zauberformel und Patentlösung zur Stabilisierung von Demokratie, die in ihren Repräsentationssystemen langwierig, debattenintensiv und kompromissdurchwirkt ist.

Und in diesen Debatten können eben auch Gruppen laut vernehmbar ihre Interessen artikulieren, die keineswegs notwendig in einer harmonischen Erfüllung des Gemeinwohls aufgehen müssen, ohne dass deshalb demokratieunerträgliche Egoisten zu schelten oder gar auszugrenzen wären. Doch beugt man sich dem Automatismus, solche Akteure einfach als »Demokratiegefährder« abzukanzeln, könnte am Ende die Stunde der veritablen kalten Tabubrecher und Demokratie sprengenden Anheizer der kochenden Volksseele, mithin der in der Tat gefährlichen Radikalpopulisten, wirklich schlagen. Denn: »Die Zivilgesellschaft ist nicht allein ein Gewächshaus für löbliche Tugenden der Liberalität, Toleranz und Humanität. Zur Zivilgesellschaft gehören auch pathologische Ängste und Aggressionen, soziale und ethnische Ausgrenzung und Verdrängungsbemühungen, Zynismus und Verachtung gegenüber dem demokratischen Prozess. Die Verbände selbst der politisch extrem Rechten stehen nicht außerhalb der Zivilgesellschaft, sondern füllen deren dunkle, schmutzige Seiten.« [7]

Diese Vorüberlegungen werfen die dringliche Frage auf, wer eigentlich zum Schutz der Demokratie vor diesen Gefahren berufen ist, oder ob die Demokratie sich nicht als »streitbare Demokratie« selbst zu schützen vermag. Genau diese Problematik wurde jüngst wieder anlässlich des NPD-Verbotsverfahrens thematisiert. Heribert Prantl interpretierte die Zurückweisung des Antrags des Bundesrates durch den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts im Januar 2017, die NPD als »verfassungsfeindlich« einzustufen und somit aufzulösen, beispielsweise als Ausdruck einer »wehrlosen« oder »naiven« Demokratie.[8] Demgegenüber stellten die obersten Richter in ihren Leitsätzen fest, dass das Parteienverbot als Kern der »wehrhaften Demokratie« nicht als »Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot« missbraucht werden dürfe, sondern einzig und allein dann verhängt werden solle, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung in Gefahr sei.[9] In einer Art Minimaldefinition legten die Karlsruher Richter hierfür drei Kriterien fest: die Garantie der Menschwürde; das Demokratieprinzip, also freie und gleiche Wahlen; und die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilnahme aller am Willensbildungsprozess sowie die Rechtsstaatlichkeit. Gleichzeitig betonten sie jedoch, dass Verfassungsschutz – verstanden als Auseinandersetzung und Kampf gegen die Aushöhlung und Zerstörung der freiheitlich demokratischen Grundordnung – die Aufgabe aller Bürger sein sollte und daher als eine Art Selbstverpflichtung zu gelten habe, da die Verteidigung der Freiheit, Gleichheit, Rechtssicherheit und Menschenwürde weder an die legislative Instanz delegiert noch inhaltlich durch diese gefüllt oder festgelegt werden könne. Gleichzeitig ist jedoch, wie es der Staatsrechtler Christoph Gusy prägnant zusammenfasst, der »Anspruch auf Identifikation«, die der freiheitlich demokratischen Grundordnung gleichsam innewohnt, zurückzuweisen, damit nicht die Sicherung des Staates oder die »Staatsverwirklichung« an erste Stelle trete, sondern die Debatte, Aushandlung und Konkretisierung demokratischer Werte und Verfahrensweisen.[10] Daher müssen stigmatisierende Zuschreibungen und die damit einhergehende Ausschließung aus dem politischen Diskurs in der öffentlichen Auseinandersetzung das letzte Mittel der Wahl sein und entsprechende Begrifflichkeiten sollten in der Wissenschaft (als eher klassifizierende und weniger erklärende Zugänge) ebenso zurückhaltend verwendet werden.

Gerade die Debatte über den Begriff des »Extremismus« trägt diesbezüglich einen erheblichen Ballast mit sich, den es abzuwerfen gilt: Im Zuge der Forschungen wird man die erklärende Substanz der bisherigen Zuordnungskategorien überprüfen müssen, gegebenenfalls alternative Bezeichnungen anzubieten haben. Auf der Basis empirischer Grundlagenforschung neue Begrifflichkeiten zu formulieren, welche die teils schablonenhaft verwandten kategorialen Zuordnungen ersetzen, ist daher auch ein Ziel der Forschungsstelle.

Forschungsfragen und methodische Herangehensweisen

Auf diesem – freilich weiten und steinigen – Weg erscheint uns ein Methodendogmatismus hinderlich. Vielmehr wollen wir neugierig sein und bleiben. Wir wollen nicht – zumindest nicht ausschließlich – die eingetretenen Pfade des Faches nachlaufen, sondern ohne methodisches Korsett die Zugänge wählen, die jeweils am besten geeignet erscheinen; denn letztlich bewährt sich ein wissenschaftlicher Ansatz allein »im Forschungsprozess und in der Darstellung«[11]. Dabei kann und darf es auch widersprüchlich zugehen. Man muss nicht an Zugriffen, Perspektiven und Ergebnissen dauerhaft festkleben; sie sind revidierbar, mehr noch: Man sollte sich im Forschungsvorgang immer wieder auch gegenüber seiner selbst platzieren, als Akt der Selbstsubversion gleichsam. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden Überlegungen, methodische Zugänge und Perspektiven der Geschichts-, Kultur- und Sprachwissenschaften, auch der politischen Soziologie und Psychologie, stets neben politikwissenschaftlichen Ansätzen nutzbar gemacht. Die Forschungsstelle steht somit mit Blick auf die wissenschaftliche Praxis und die Wahl analytischer Ansätze und Methoden in der Tradition des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, an dem die Forschungsstelle auch organisatorisch angesiedelt ist.

Ihr Schwerpunkt liegt in der Analyse aktueller »demokratiefeindlicher« Tendenzen in modernen Gesellschaften insbesondere unter der Berücksichtigung der lokalen Bedingungen des Bundeslandes Niedersachsen. Hierbei sind in einem umfassenden historisch-längsschnittartigen Zugriff ideologische, personelle und organisatorische Zusammenhänge ebenso zu berücksichtigen wie Mentalitäten, Deutungsmuster und Einstellungen der entsprechenden Akteure und Bewegungen. Im Zentrum steht die Erforschung aktueller Ausprägungen politischer Gewalt und Militanz, von Dissidenz, Radikalismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit innovativen, ertragreichen Methoden, um Entstehungszusammenhänge, Entwicklungsverläufe, Zerfalls- oder Progressionsprozesse analysieren und erklären zu können. Es sollen sich wandelnde Gesellschaftsentwürfe, Selbstverständnisse und Demokratiekonzepte unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure ebenso berücksichtigt werden wie die in der Forschungsstelle zu untersuchenden Analysebereiche: schwerpunktmäßig die Extreme Rechte, die Radikale Linke und religiös motivierte politische Gewalt, jeweils in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit. Das bedeutet, politische Ideen und Ideensysteme (Ideologien), politische Weltbilder und Ordnungsideen, sowie etablierte Institutionen der Organisation des politischen Willens (Parteien, Großorganisationen, gesellschaftliche Bewegungen) und militante Akteure und radikale Bewegungen sollen multiperspektivisch erforscht werden.

Dafür halten wir – zunächst – den Ansatz und die Prämissen der qualitativ-empirischen oder auch integrativen politischen Kulturforschung für vielversprechend. Diese Art der politischen Kulturforschung trieb anfangs die Suche nach Erklärungsfaktoren für die Stabilität beziehungsweise Fragilität demokratischer Regime um, wobei die alleinige Erklärungskraft ökonomischer und institutioneller Faktoren oder die Rolle der Eliten für unzureichend erklärt wurde. Mit der politischen Kulturforschung wird in der Politikwissenschaft seit den 1950er Jahren – neben den Strukturen und dem Institutionengeflecht – den Einstellungen und Deutungen der Bürger eine zentrale Relevanz für das Bestehen und die Ausgestaltung von Demokratie zugeschrieben. Diese Binsenweisheit bestreitet mittlerweile kaum noch jemand. Uneinigkeit besteht in der Forschung allerdings nach wie vor in der Methodik der politischen Kulturforschung, oder genauer in der Frage, was eigentlich politische Kultur konkret umfasst und wie diese erhoben, beschrieben und analysiert werden kann.[12]

Das Instrument der klassischen vergleichenden politischen Kulturforschung, die auf die Arbeiten von Gabriel Almond und Sidney Verba zurückgeht, ist die Surveyforschung. Mit Hilfe von Umfragen wird die individuelle Einstellung der Bürger gegenüber politischen Institutionen oder die Zufriedenheit mit der Demokratie als Idee und ihrer Performanz erhoben. Doch ist in einem solchen Verständnis der Begriff der politischen Kultur – so die Kritiker – unzulässig auf die Werte und Einstellungen der Individuen in Bezug auf die politischen Objekte verengt worden. Deswegen arbeitete Karl Rohe seit den 1980er Jahren systematisch an einer Erweiterung der »empirischen politischen Kulturforschung«, wie er sie nannte[13], und forderte, dass die politische Kultur stets in ihrem »subjektiven und objektiven Doppelcharakter« analysiert werden müsse, sie also »Ideensystem und gleichzeitig Zeichen- und Symbolsystem« sei. Ihm ging es darum, auch die »ästhetisch fassbare und bewertbare Form und Ausdrucksgestalt« der politischen Kultur zu untersuchen, wobei die Form, also die »Ausdrucksseite«, niemals nur allein als Zugang zur »Inhaltsseite« zu sehen sei, sondern einen besonderen »Eigenwert« besitze.[14]

Rohe unterschied zum einen die »politische Soziokultur« oder auch »politische Sozialkultur«, also die »mehr oder weniger unbewussten Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten«, und zum anderen die »politische Deutungskultur«, eine Art Metakultur, auch »Weltbild« genannt oder »politischer Sinn«, wie es Rohe an anderer Stelle formuliert.[15] Und dieser »Sinn« werde dann durch »politisches Reden und politisches Handeln sichtbar und sinnenfällig gemacht oder auch in Frage gestellt«.[16] Gerade weil die politische Soziokultur »essentiell auf ständige symbolische Verdeutlichung« angewiesen sei, erweitert Rohe mit seiner Konzeption das Ziel der politischen Kulturforschung: »[W]er in einer politischen Gesellschaft für wen auf welche Weise was für politische Deutungsangebote macht und machen kann, oder noch grundlegender: ob überhaupt eine hinreichende symbolische Verdeutlichung der politischen Basiskonzepte und Basisregeln eines politischen Gemeinwesens erfolgt«, sei die Kardinalfrage der Subdisziplin. Rohe ergänzte die klassischen Konzeptionen der politischen Kulturforschung überdies durch die Annahme, dass politische Kultur nicht als »vorgefundenes Resultat, sondern […] stets auch als Prozeß begriffen werden« müsse, was konsequenterweise in der »Analyse von politisch-kultureller Praxis« mündet.

Wir gehen davon aus, dass in einer streitbaren Demokratie mehrere politische Deutungskulturen und auch Soziokulturen miteinander ringen. Gerade dort, wo unterschiedliche politische Kulturen sich aneinander reiben, sich gegeneinander abgrenzen, sich auseinandersetzen, sich Vereinnahmungen widersetzen oder um Kompromisse kämpfen, ist der Forschungsgegenstand von FoDEx zu verorten. Ausprägungen dieser unterschiedlichen politischen Soziokulturen im Bereich der Extremen Rechten, der Radikalen Linken und der religiös-fundamentalistischen Gewalt sowie deren Praktiken und Symbole sind zu erfassen und zu analysieren. Andererseits sind auch deren politische Deutungskulturen, also die politischen Ordnungsideen und -konzepte, sowie die Ideensysteme zu untersuchen, weil sie Antrieb und Rechtfertigung des politischen Handelns sind, politische Vorgänge erklären und erstrebenswerte Ziele festlegen. Diese Ideologien finden sich im Gegensatz zur politischen Soziokultur in verschriftlichen Konzepten, Doktrinen und Grundrissen.[17]

Auch wenn in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeiten über politische Mythen, Symbole, Bilder und Methapern oder Diskurskulturen entstanden sind, fristet dieser Zugang insbesondere in der Politikwissenschaft ein Nischendasein. Dem Zugriff werden etwa aus der empirischen politischen Kulturforschung konzeptionelle Überdehnung und mangelnde Operationalisierung vorgeworfen. Wir gehen jedoch davon aus, dass durch die konsequente Umsetzung eines qualitativ-empirischen Forschungsdesigns mit leitfadengestützten und narrativ-biografischen Interviews, Gruppendiskussionen, systematischen Vor-Ort-Beobachtungen der Alltagspraktiken und einer Analyse der verwendeten Sprache und Bilder, auch der politischen Debatten in internetbasierten sozialen Netzwerken, durch die zielgerichtete Untersuchung von bewegungsförmigen politischen Akteuren, sowie der Ausdeutung politischer Schriften, theoretischer Entwürfe und konzeptioneller Maximen, umfassend die politische Kultur (eines Milieus oder einer Subkultur) erfasst werden kann. Wo es möglich und sinnvoll erscheint, sollen diese Erhebungsformen durch die Umfrageforschung ergänzt werden, beispielsweise durch die Auswertung vorhandener Daten zur Identifizierung einer »Mehrheitskultur«, die sich den oppositionellen »Minderheitskulturen« gegenüber sieht, oder eigenen Demonstrationsbefragungen,[18] wie sie bereits mehrfach am Institut für Demokratieforschung durchgeführt wurden.

Forschungspragmatisch resultiert aus diesen Vorüberlegungen unter anderem die selbstgesetzte Aufgabe, in vergleichenden Fallanalysen konkrete Gruppen und Ereignisse in ihrer lokalen Bedingtheit zu untersuchen, um im Rahmen definierter lokaler Strukturen wie unter einem Brennglas Entwicklungen von Einstellungsmustern, Konjunkturen »antidemokratischer« Tendenzen und Anknüpfungsmöglichkeiten radikalisierten Gedankengutes wissenschaftlich erforschen zu können. Im Zentrum des bisherigen Forschungsdesigns stehen entsprechend lokale Milieustudien als Kristallisationen, ohne dass darüber regionale und überregionale Entwicklungen vernachlässigt werden würden. Kulturelle Besonderheiten, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Wandlungsprozesse und sowohl individuelle als auch kollektive Mentalitäten sollen durch einen flexibel komponierten Methodenmix erfasst werden. Indem sich der Blick auf die langen Linien von Entstehungsbedingungen und Ausdrucksformen richtet, wird der historische Wurzelgrund gegenwärtiger politisch-kultureller Phänomene erfasst, wodurch sich etwa bei der Untersuchung von Anhängerprofilen, Agitationsweisen und Artikulationsformen der verbreitete Alarmismus aktualitätsfixierter Gegenwartsdiagnosen relativieren kann. Militanz, Radikalisierungen und »antidemokratische« Widerstandsbewegungen – ob partei- oder protestförmig, spontan oder organisiert – entwickeln sich stets im Rahmen eines spezifischen historisch gewachsenen gesellschaftlichen Kontextes, der für die wissenschaftliche Beurteilung unbedingt Berücksichtigung finden muss.

Schließlich: Wissenschaft ist dazu verpflichtet, permanent mit ihren Herangehensweisen und Ergebnissen in den Diskurs und Austausch zu treten, kurzum: durch das Säurebad kritischer Infragestellung hindurchzugehen. Hier wird die Forschungsstelle nicht nur für die Diskussion in der Wissenschaft selbst offen sein, sondern auch für Fragen und Impulse aus der interessierten Öffentlichkeit. Die Ansiedlung der Forschungsstelle am Institut für Demokratieforschung garantiert eine enorme Transparenz; auch, weil dort seit mehreren Jahren Forschungsarbeit als öffentliche Wissenschaft praktiziert, d.h. die Kommentierung und Intervention in aktuelle gesellschaftliche Debatten betrieben wird.

Darüber hinaus wird an der Forschungsstelle eine Plattform zum wissenschaftlichen Dialog und zur Förderung der politischen Bildung geschaffen, indem explizit Mittel für ein Gastwissenschaftler-Programm, für Symposien und für die Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung gestellt werden.

Zuletzt: Es gibt viele junge, interessante Wissenschaftler und Praktiker, die sich ebenfalls mit diesem Forschungsbereich beschäftigen, die sich nicht im Elfenbeinturm verschanzen, sondern ins Feld gehen, die sich für ihren Gegenstand begeistern, die neugierig und leidenschaftlich sind; mit diesen Leuten möchten wir zusammenarbeiten und sie sind herzlich eingeladen, in der vorliegenden Schriftenreihe Beiträge aus ihren Arbeitsfeldern zu publizieren.

[1] Vgl. hierzu Nolte, Paul: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2011, S. 288.

[2] Hier soll nicht die breite und tiefergehende Debatte zur Krise der Demokratie umfassend rezipiert, sondern nur der Rahmen angedeutet werden, in dem sich die Arbeit der Forschungsstelle verortet.

[3] Vgl. auch Walter, Franz: Tücken der Demokratisierung der Demokratie, in: Hensel, Alexander/Kallinich, Daniela/Rahlf, Katharina (Hrsg.): Gesellschaftliche Verunsicherung und politischer Protest. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2011, Stuttgart 2012, S. 38–40.

[4] Walter, Franz: Die Akzeptanz des Staates schwindet, in: Frankfurter Rundschau, 22.06.2012.

[5] Walter, Franz: Niedrige Wahlbeteiligung – alles halb so wild?, in: Hensel, Alexander u.a. (Hrsg.): Politische Kultur in der Krise. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2013, Stuttgart 2014, S. 339–342.

[6] Münkler, Herfried: Wagnis Demokratisierung. Wenn die Hoffnung zum Debakel wird?, in: Theater heute, März 2010, S. 35–39, hier S. 36, zitiert nach: Walter: Tücken der Demokratisierung der Demokratie.

[7] Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015, S. 194.

[8] Prantl, Heribert: Braun bleibt, in: Süddeutsche Zeitung, 18.01.2017.

[9] Urteil des Bundesverfassungsgerichtes BVerFG, Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017, URL: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/01/bs20170117_2bvb000113.html [eingesehen am 29.08.2017].

[10] Gusy, Christoph: Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991, insbesondere S. 370.

[11] Wehler, Hans-Ulrich: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 9.

[12] Vgl. allgemein und übersichtlich zum Thema Pickel, Susanne/Pickel, Gert: Politische Kultur- und Demokratieforschung: Grundbegriffe, Theorien, Methoden; eine Einführung, Wiesbaden 2006.

[13] Vgl. hierzu Rohe, Karl: Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Niedermayer, Oskar/Beyme, Klaus von (Hrsg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21.

[14] Ebd., hier S. 7.

[15] Rohe, Karl: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift, Jg. 132 (1990), H. 250, S. 321–346, hier S. 337.

[16] Rohe, Karl: Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung Politischer Kultur-Forschung, in: Berg-Schlosser, Dirk/Schissler, Jakob (Hrsg.): Politische Kultur in Deutschland. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 18, Wiesbaden 1987, S. 39–48, hier S. 42.

[17] Vgl. hierzu auch Rohe, Karl: Politik. Begriffe und Wirklichkeit, Stuttgart 1978, S. 50–61.

[18] Vgl. zu den Begriffen der »Mehrheits- und Minderheitskultur« sowie den Möglichkeiten der Ergänzung der »Extremismusforschung« mit den Werkzeugen der politischen Kulturforschung auch Jaschke, Hans-Gerd: Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit, Opladen 1991.