Im Zuge der Proteste gegen den G20-Gipfel wurde das niedersächsische Göttingen schnell als logistisches Zentrum und »Hochburg des politischen und religiösen Extremismus mit hohem Gewaltpotential«[1] ausgemacht. Bundesweit wurden 22 Objekte durchsucht, um gegen »Linksextreme« vorzugehen. Der Vorwurf: Die Beschuldigten seien Teil einer Gruppe gewesen, die während des G20-Gipfels am 7. Juli 2017 Steine und andere Gegenstände auf PolizistInnen warfen – wobei bereits die bloße Anwesenheit in einer solchen Gruppe ausreiche, um sich mitschuldig zu machen.[2] Göttingen – das zeigten die Fahndungsaktionen abermals – steht auch im ausgehenden zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im Fokus der Sicherheitsbehörden als ein Hort staatsgefährdender linker Umtriebe.

Linke Hochburg

Für eine unaufgeregt differenzierte Einordnung der Verhältnisse in der Universitätsstadt aber lohnt es sich, jenseits eines gegenwartsfixierten Alarmismus einen Blick auf die Stadtgeschichte zu werfen. Als Hochphase der Göttinger autonomen Szene werden gemeinhin die späten 1980er Jahre angesehen, mit Ausläufern in die darauffolgende Dekade hinein. Dreißig Jahre nach dem Tod Kornelia »Conny« Wessmanns bietet es sich an, exemplarisch die Göttinger Situation im Jahr 1989 zu beleuchten.

Seit Mitte der 1980er Jahre war Göttingen, das spätestens durch den Nachruf des »Göttinger Mescaleros«[3] auf den durch die Rote Armee Fraktion (RAF) ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback deutschlandweit als vermeintliche Hochburg der radikalen Linken identifiziert worden war, geprägt von Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremen, AntifaschistInnen und der Polizei. Zeitgleich hatte sich in den 1970er und 1980er Jahren eine starke HausbesetzerInnen-Szene etabliert.[4] Innerhalb dieser Szene spielte auch das »damals relativ neue Phänomen der Autonomen eine wichtige Rolle«,[5] die durch militantes Gebaren, Schwarze Blöcke oder sogenannte Scherbendemos – also Demonstrationen, bei denen planvoll Sachschäden verursacht und vorzugsweise Schaufensterscheiben eingeworfen werden – bundesweit Aufmerksamkeit erregten.[6]

Alles in allem ließ sich, so der damalige Landtagsabgeordnete Jürgen Trittin, in Göttingen »eine entfaltete linke Struktur«[7] finden, die jedoch, zumindest in ihren radikalen Ausprägungen, massiv durch die Göttinger Polizei bekämpft wurde. Deren wenig zimperliche Maßnahmen am Rande und bisweilen auch jenseits der rechtsstaatlichen Legalität kamen bspw. in der »Spudok«-Affäre zum Ausdruck, mit der eine unrechtmäßige Sammlung von Daten mutmaßlicher Szenemitglieder gemeint ist;[8] oder bei der JuZi-Razzia am 1. Dezember 1986, als die Personalien von über 400 Personen festgestellt wurden, die sich zu diesem Zeitpunkt im »Jugendzentrum Innenstadt« aufhielten. Die bei dieser Gelegenheit angewandte Taktik des »Göttinger Kessel wurde zu einem Symbol und Bezugspunkt der radikalen linken Kritik in Deutschland und trug dazu bei, den Charakter Göttingens als Hochburg der linken Szene in Niedersachsen festzuschreiben«[9].

Links gegen rechts

Obwohl es Ende der 1980er Jahre also durchaus eine entwickelte linksradikale Szene in Göttingen gab, die sich durch Bündnispolitik auch in das gemäßigte, bürgerliche Spektrum hinein zu vernetzen suchte, blieben Stadt wie Umland politisch – im wahrsten Sinne des Wortes – umkämpft. Denn: Auch der politische Gegner war überaus präsent. So gab es zum Ende des Jahrzehnts ein verstärktes rechtsextremistisches Engagement in der Region, das sich zwischen 1987 und 1989 in einer Verdreifachung rechtsextremistisch motivierter Straftaten von jährlich 25 auf 83 niederschlug,[10] weshalb Südniedersachsen nicht zu Unrecht – wenn auch angesichts gleichlautender Diagnosen zur militanten Linken vielleicht paradox anmutend – als eine Hochburg des Rechtsextremismus angesehen wurde.

Auch parteiförmig war die extreme Rechte durch die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die Deutsche Volksunion (DVU) und die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) im Göttinger Raum vertreten.[11] Der niedersächsische Landesvorsitzende der FAP, Karl Polacek, scharte in seinem Wohnhaus in Mackenrode, das als faschistisches Schulungszentrum und Kommandozentrale fungierte, gewaltbereite Skinheads um sich, die ihren Aktionsradius bis nach Göttingen ausweiteten.[12] Ein Antifaschist erinnert sich: »Die damalige Situation war von permanenten faschistischen Überfällen gezeichnet. Alle Menschen, die nicht in das Weltbild der Nazis passen, ob Schwule, Lesben, AusländerInnen, Linke, Behinderte oder Obdachlose, konnten sich in Göttingen und Umgebung nicht frei von Angst bewegen. Zusätzlich gab es Überfälle auf Wohnhäuser, Autos und das JuZI.«[13]

Göttingen war also geprägt von Auseinandersetzungen mit aus dem Umland in die Stadt reisenden Nazis und dagegen mobilisierenden antifaschistischen Zusammenhängen, die Wochenende für Wochenende »in Alarmbereitschaft« verbrachten und sich per Telefonketten unterrichteten, ob und wo rechtsextremistische Aktivitäten zu erwarten waren, um zu mobilisieren und so zumindest die Innenstadt »nazifrei« zu halten.[14] Der Kampf um den öffentlichen Raum wurde folglich erbittert geführt. Innerhalb der Stadtgesellschaft empfanden sich die entsprechenden Gruppen jedoch als isoliert: »Heute sind Aufrufe zur Zivilcourage Bestandteil jeder Sonntagsrede. Wir waren damals damit die Exoten und sind mit der Aufforderung, gegen Rechts einzugreifen, in der Stadt auf wirklich breite Ablehnung gestoßen.«[15]

Begleitet wurden die Auseinandersetzungen von einer Göttinger Polizei, die damals teilweise – wie mitgeschnittene Funksprüche von Polizisten im Einsatz belegen[16] – den antifaschistischen Zusammenhängen ausgesprochen kritisch gegenüberstand und Zusammenstöße mit Rechtextremisten zum Anlass nahm, um Erstere zukünftig »hautnah zu beobachten«[17]. Hierfür wurden insbesondere die nicht-uniformierten Zivilen Streifenkommandos (ZSK) eingesetzt, die durch Überwachung von Szene-Treffpunkten und Personenkontrollen das autonome Spektrum beleuchten und die Mitglieder identifizierbar machen sollten.[18]

Größere antifaschistische Aktionen im Göttinger Umland gab es etwa am 17. Februar 1989 in Northeim gegen die dortige NPD-Jahreshauptversammlung, bei der es ein breites Bündnis mit der Stadtgesellschaft gab, was der gesamten Demonstration einen »schnarchig langweiligen Spaziergangcharakter«[19] verlieh; oder am 25. März 1989 in Dassel, wo es einer Demonstration gelang, ein Skinheadtreffen zu verhindern.[20] Auch gegen eine Veranstaltung der NPD im Rahmen des Europawahlkampfes in Göttingen am 13. Mai, bei der es zu teils gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam, wurde protestiert. Obwohl der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu einer konkurrierenden Gegenveranstaltung »in sicherer Distanz«[21] zur NPD-Veranstaltung aufrief, fanden sich hier 2.000 DemonstrationsteilnehmerInnen ein. Zugleich offenbart dieses Beispiel die Spaltung im Kampf gegen den Rechtsextremismus in die Autonomen einerseits, die einen Führungsanspruch vertraten,[22] und den DGB sowie weitere »staatstragende« linke Kräfte andererseits.[23]

Die radikale Linke erweckte im Jahr 1989 also einen durchaus handlungsfähigen Eindruck; daher frohlockte ein Autonomer, nachdem es gelungen war, eine DVU-Veranstaltung im Rahmen des Europawahlkampfes zu verhindern: »Im Klartext heißt das, die DVU hat Angst vor uns. Das heißt weiterhin, wir haben die Faschos durch die bloße Androhung unserer Militanz hier und heute zurückgedrängt.«[24] Freilich: Innerhalb der Szene waren diese Erfolge nicht unumstritten. Stein des Anstoßes war die ungeklärte Organisationsfrage, die – bis heute ungelöst – schon damals heftig diskutiert wurde und wenige Jahre später in der sogenannten Heinz-Schenk-Debatte[25] kulminieren sollte. Aufgrund fehlender Organisationsstrukturen, so wurde moniert, seien die Aktionen beliebig geworden, was dazu geführt habe, dass zu Anlässen mobilisiert worden sei, »die im Kalender als nächstes liegen«[26]. Daraus resultiere eine Kampagnenpolitik, die sich an aktuellen politischen Reizthemen orientiere und schnell vergessen werde, da dadurch kein »zukunftsorientiertes Eigenes« entstehe.[27]

Der Tod Conny Wessmanns

Den tragischen Höhepunkt des Jahres bildete sicherlich der Tod der Studentin Conny Wessmann, die am 17. November 1989 bei einer polizeilichen Maßnahme im Alter von nur 24 Jahren verstarb. Die Minuten vor dem Ereignis lassen sich lückenlos rekonstruieren.[28] Gegen 20:50 Uhr kam es vor der Göttinger Kneipe »Apex« zu einer Konfrontation zwischen AntifaschistInnen und einer Gruppe Skinheads, in deren Verlauf zwei Skinheads verletzt wurden. Die übrigen Rechtsextremen wurden durch die Polizei zur Bushaltestelle Gothaer Haus gebracht, von wo aus sie die Stadt verließen. Kurze Zeit später traf eine weitere Gruppe AntifaschistInnen am »Apex« ein, zu der auch Conny Wessmann gehörte. Nachdem dieselben jedoch festgestellt hatten, dass die Situation bereits aufgelöst worden war, verließen sie den Ort des Geschehens. Dabei bemerkten sie, dass sie von der Polizei verfolgt wurden: »Da es öfters vorkommt, daß nach Auseinandersetzungen mit Neo-Nazis auch Unbeteiligte von der Polizei verfolgt, belästigt und mitgenommen werden, wurde den AntifaschistInnen klar, daß sie sich in einer bedrohlichen Situation befanden.«[29]

Die Gruppe, die zwischen Gericht und Finanzamt hindurch Richtung Campusgelände zu flüchten versuchte, wurde auf Höhe des Iduna-Zentrums von einer Gruppe PolizistInnen aufgehalten und flüchtete weiter in Richtung der Weender Landstraße. Beim Versuch, die Straße zu überqueren, wurde Conny Wessmann von einem Auto mit hoher Geschwindigkeit erfasst und durch die Luft geschleudert – ein Notarztwagen konnte Minuten später lediglich ihren Tod feststellen. Später wurde bekannt, dass dem Einsatz ein Funkspruch vorausgegangen war, demnach die Gruppe ruhig »platt gemacht« werden könne.[30]

Insbesondere solche »Sprüche«, die zunächst noch durch den damaligen Polizeichef Lothar Will als »flapsig« abgetan wurden, erregten öffentlich die Gemüter, da sie Ausdruck des in der Polizei tradierten »Feindbildes kriminelle antifaschistische Linke« seien,[31] das der »Aggressionsbereitschaft gegenüber Autonomen«[32] zugrunde liege, wie selbst der konservative Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) bemerkte.

Wessmanns Tod fiel in eine politisch bewegte Zeit, da lediglich acht Tage zuvor die Mauer gefallen war: »Später schrieben Göttinger Antifas, dass sie dieses Ereignis vor allem so interpretiert hätten, dass es ›die Herrschenden von der Verpflichtung enthob, sich als die bessere Hälfte der Welt zu präsentieren‹.«[33] Noch am Abend folgten erste Reaktionen. Zunächst brannten vor dem JuZi auf der Bürgerstraße einige Barrikaden, bevor eine Mahnwache mit 200–300 TeilnehmerInnen an jenem Ort durchgeführt wurde, an dem Conny Wessmann ums Leben gekommen war, um »[d]ie erstmal viel sinnvollere Aktion, nämlich mit möglichst vielen Leuten zur Weender Landstraße zu gehen, um uns diese Straße mit einer Mahnwache für unsere Trauer, Wut und auch politischen Vermittlung der Umstände, die zum politischen Mord an Conny führten, zu nehmen […].«[34] In Hamburg, Bielefeld und Westberlin kam es ebenfalls zu teils gewaltsamen Demonstrationen.[35] Auch am Folgetag gab es eine Demonstration mit einer beeindruckenden TeilnehmerInnenzahl von rund 2.000 Protestierenden. Nach einer erneuten Mahnwache an der Weender Landstraße kam es zu einer »Scherbendemo«, bevor am Abend erneut eine Mahnwache abgehalten wurde, die durch die Polizei unter dem Einsatz von Schlagstöcken geräumt wurde.

Die Redebeiträge sahen die Schuld am Tod Conny Wessmanns eindeutig bei der Polizei, die konsequent den »Terror der Faschisten«[36] schützen würde. In autonomen Kreisen etablierte sich schnell die Sprachregelung, dass der Vorfall als Mord zu bewerten sei, der damit in eine Reihe mit Olaf Ritzmann (Hamburg, 1980), Klaus-Jürgen Rattay (West-Berlin, 1981) und Günter Sare (Frankfurt am Main, 1985), die allesamt bei Polizeieinsätzen starben, gestellt werden könne.[37] Dabei sei der Einsatz typisch für das Vorgehen der ZSKs gewesen: »[W]ir nennen ihn mörderisch. Mord nicht im Sinne einer bewußten Tötungsabsicht, aber als Kalkül einer Einsatztaktik, die Tote in Kauf nimmt. Denn Menschenjagden ohne Rücksicht auf das Leben und die Gesundheit, von Verhältnis- und Rechtmäßigkeit ganz zu schweigen, eingeleitet mit einem Halali über Funk, sind mörderische Methoden.«[38]

Natürlich strahlte der Vorfall auch in den universitären Betrieb sowie das studentische Leben aus. So verabschiedete die Uni-Vollversammlung eine Resolution, in der gefordert wurde, polizeiliche Praktiken kritisch zu hinterfragen, da diese in ihrer »Repressionspolitik gegen linke Fundamentalopposition«[39] unverhältnismäßig seien: »Die Polizei, gerade auch in Göttingen, ist mehr und mehr zu einem Instrument der Unterdrückung geworden. Der Polizeiangriff vom Freitag zeigt das überdeutlich. Hier wird eine Polizeistrategie sichtbar, die physische Verletzungen beabsichtigt und den Tod dabei billigend in Kauf nimmt.«[40]

… und seine mobilisierende Wirkung

Insgesamt zeitigte der Tod Cornelia Wessmanns »einen großen Integrationseffekt«[41] – was sich auch eine Woche später, am 25. November 1989, zeigte, als zu einer Großdemonstration 20.000 TeilnehmerInnen mit einem in dieser Größe in Göttingen noch nie dagewesenen Schwarzen Block mit 2.500 bis 3.000 Autonomen mobilisiert wurde.[42] Auch auf dieser Demonstration kam es zu Zusammenstößen zwischen Autonomen und Polizei, die Rede war sogar von einer »Straßenschlacht«.[43] Der Tod Conny Wessmanns verstärkte auch in der Göttinger Stadtgesellschaft das Bedürfnis, gegen den »Terror« der Rechtsextremen vorzugehen; seither »bestand bei vielen Menschen ein wirkliches Interesse, gegen solche Zustände vorzugehen. In dieser Zeit gründeten sich neue Gruppen, wie z.B. die BürgerInnen gegen Rechtsextremismus, viele jüngere Leute engagierten sich in der Antifa.«[44] Widerstand regte sich zudem gegen die einseitige Berichterstattung über die Geschehnisse, die zu Wessmanns Tod geführt hatten, sowie gegen die Polizei, die sich mit dem Vorwurf konfrontiert sah, rechte Gewalt zu ignorieren.[45]

Dadurch und durch das anhaltende Gedenken an ihren Tod – zunächst gab es wöchentliche, bald monatliche Mahnwachen – wurde Conny Wessmann zu einer Ikone der Göttinger autonomen Bewegung.[46] Jedoch sorgte die Kooperation, die in breit angelegten Bündnisdemonstrationen ihren Ausdruck fand, wiederum für Kritik innerhalb des autonomen Spektrums, deren Argumente ebenso wiederkehrend und klassisch sind wie der Hader über bloße Kampagnenpolitik und mangelnde Organisiertheit. Konkret wurde kritisiert, dass trotz – oder gerade: wegen – der Mobilisierung 7.000 Protestierender anlässlich des ersten Jahrestages von Wessmanns Tod die Vermittlung von genuin autonomen, politischen Positionen nicht mehr gelungen und somit der Widerstand insgesamt geschwächt worden sei: »Er besitzt nämlich keine politische Ausstrahlungskraft mehr, wenn er nur noch unter den gleichen Parolen und mit den gleichen Mitteln auftritt wie die bürgerlichen Kräfte, die natürlich unter diesen Parolen viel wirkungsvoller agieren können.«[47]

Autonomer Widerstand werde, so die Befürchtung, von »staatstragenden AntifaschistInnen« vereinnahmt,[48] die monatlichen Mahnwachen besäßen kaum inhaltliche Bedeutung und würden lediglich als Ritual wahrgenommen.[49] Auswärtige Gruppen von aus Berlin angereisten Autonomen hatten sich schon über den in weiten Teilen friedlichen Ablauf der Demonstration vom 25. November 1989 und über die angebliche Unvermittelbarkeit von zerstörten Geschäften und eingeschmissenen Scheiben im Innenstadtbereich gewundert. Militanz, die tatsächlich stattfand, wirkte in ihren Augen mit der Polizei abgesprochen und folglich inszeniert; insgesamt seien die Möglichkeiten des Protestrepertoires nicht annähernd ausgeschöpft worden.[50]

Inszenierungskritik und Organisationsfrage

In einem anderen, ebenfalls aus der Hauptstadt stammenden Dokument, das mutmaßlich aus der Feder desselben Autors stammt, heißt es: »Wir sind davon ausgegangen, daß es eine gute Demo wird, daß es einen großen autonomen Block geben wird, daß GenossInnen aus vielen Städten kommen werden. Und daß all dies zusammengenommen den Bullen ernsthafte Schwierigkeiten bereiten wird, weil eine militärische Konfrontation mit uns eine politische Niederlage für sie bedeuten kann, auch wenn sie uns einmachen. […] An diesem Punkt haben wir uns über das Ziel der Demo gewundert. Ihre politische Funktion schien darauf begrenzt, der Bevölkerung gegenüber Wut und Trauer zu artikulieren […]. Es ist auch fragwürdig, was ihr für euch in Gö als ›politisch sinnvoll‹ definiert habt, also ob die kaputten Scheiben von Banken und Kaufhäusern tatsächlich nicht verstanden werden. Wenn das in dieser Situation nach dem Mord und nach der Aufklärungsarbeit danach nicht vermittelbar ist, wann dann?«[51]

Im Vordergrund der Kritik stand also die Inszenierung des autonomen Protestes, der – aus Sicht der Großstadt-Autonomen – im Göttinger Fall voll und ganz darauf ausgelegt war, ein Signal an die Göttinger Bevölkerung zu senden. Statt politische Gelegenheitsfenster wahrzunehmen, habe es ein »Stillhalte-Angebot«[52] gegeben, auf militante Aktionen in Kleingruppen zu verzichten, obwohl es allein zahlenmäßig selten eine derart gute Möglichkeit dazu gegeben habe.

Jedoch: Auch die Berliner Autonomen betonten, dass sich die Aktionen an den politischen Gegebenheiten vor Ort orientieren müssten. Und in ihrer einseitigen Emphase der Tat – im Wunsch nach Konfrontation mit der Polizei als Repräsentantin des gesamten staatlichen Repressionsapparates sowie der Sehnsucht nach demolierten Geschäftsfassaden, die gleichsam stellvertretend für das globale kapitalistische System stünden – schienen sie zu übersehen, dass diese Aktionen vor allem eines sind: symbolisch.

Und eine Antwort auf das Standardproblem autonomen Agierens, das die Aktivisten selbst in diesen im Vergleich zu heute regelrecht goldenen Jahren des Autonomismus in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre umtrieb, lieferte die geharnischte Berliner Kritik auch nicht. Gemeint ist das generelle Unbehagen angesichts eines erratischen Hangelns »von einer Kampagne zur nächsten«, die diagnostizierte schiere »Kurzlebigkeit« der strategischen Handlungsperspektiven, der damit verbundene Mangel an »zukunftsorientiertem Eigenen« und das Fehlen einer »gründlichen inhaltlichen Auseinandersetzung« mit den eigenen Irrtümern und Erfolgen, um aus den erworbenen Erfahrungen für die Zukunft zu lernen und sich nicht ziellos im Kreis zu drehen. Das als »wichtigste Frage für den autonomen Widerstand in der Zukunft« identifizierte Organisationsmanko ließ sich durch punktuell erfolgreiche, momenthaft Endorphine freisetzende Schlachten mit dem politischen Gegner, wie sie von den Berlinern erhofft wurden, jedenfalls nicht beheben.[53]

Doch vielleicht hielten Teile der Autonomen mit ihrer Forderung nach Zukunftsorientierung in der Organisationsdebatte rhetorisch an etwas fest, das sie zur Begründung militanten Handelns tatsächlich längst schon entbehren konnten. In einer klugen Analyse stellte zumindest Claus Leggewie im zeitlichen Zusammenhang mit den hier betrachteten Ereignissen die These auf, dass beide Gruppen – AntifaschistInnen wie Rechtsextreme – in ihrer jeweils eigenen extremen Normalität gefangen und in ihrer wechselseitigen Hassbeziehung zugleich aufeinander angewiesen seien. Die menschenverachtende Ideologie der Neo-Nazis, die sich im Göttingen der 1980er Jahre in ihren völkischen und rassischen Spielarten nicht nur gegen AusländerInnen oder Homosexuelle, sondern auch gegen Andersdenkende und zunehmend auch gegen linke Strukturen wie das JuZi und die hier verkehrenden Personen richtete, provozierte die Reaktionen der Autonomen:[54] »Und je mehr die Gegner der Faschisten zur militanten Bürgerwehr, zu Selbstjustiz übenden Kontaktbereichsmilizen verkommen, umso mehr verfallen sie der negativen Faszination durch einen Gegner, den sie militärisch niederzuhalten trachten, aber politisch zur eigenen Rechtfertigung dringender denn je brauchen.«[55]

[1] So Sebastian Bronmann (CDU), zit. nach Bielefeld, Britta: Razzia: Kritik und Zustimmung, in: Göttinger Tageblatt, 09.12.2017, [eingesehen am 13.02.2019].

[2] Vgl. Brakemeier, Michael/Bielefeld, Britta: Polizei durchsucht Wohnungen der Göttinger linken Szene, in: Göttinger Tageblatt, 06.12.2017, [eingesehen am 13.02.2019].

[3] Ein Göttinger Mescalero: Buback – ein Nachruf, [eingesehen am 08.02.2019].

[4] Vgl. Strauß, Daniel: Wohnraum kontra Aktionsraum. Der Häuserkampf in Göttingen, in: Sabine Horn et al. (Hrsg.): Protest vor Ort. Die 80er Jahre in Bremen und Göttingen, Essen 2012, S. 251–288.

[5] Hoeft, Christoph/Rugenstein, Jonas: »Göttingen Bullenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt.« Die JuZI-Razzia vom Dezember 1986 und ihre Folgen, in: Walter, Franz/Nentwig, Teresa (Hg.): Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2016, S. 250–261, hier S. 251.

[6] Vgl. ebd.

[7] O.V.: Haß, Haß, Haß. In der alten Universitätsstadt Göttingen eskaliert die Gewalt – 1986 ist dort wie 1968, in: Der Spiegel, 08.12.1986, [eingesehen am 08.02.2019].

[8] Vgl. Barell, Niklas: Überwachung in Deutschland, in: Telepolis, 03.02.2000, [eingesehen am 08.02.2019].

[9] Hoeft/Rugenstein, S. 259.

[10] Vgl. Nieradzik, Lukasz: Göttinger Autonome und ihre Gegner. Zur Konstruktion und Identität und Alterität am Beispiel der Proteste in den 80er Jahren, Göttingen 2008, S. 107.

[11] Vgl. ebd., S. 110.

[12] Vgl. Nentwig, Teresa: »Conny heute von den Bullen ermordet«. Der Tod von Kornelia »Conny« Wessmann am 17. November 1989, in: Walter, Franz/Nentwig, Teresa (Hg.): Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2016, S. 262–270, hier S. 262.

[13] O.V.: Ein Angriff auf die Antifa-Selbsthilfe. Interview mit einem Angeklagten aus dem Mackenrode-Verfahren, in: nadir.org, [eingesehen am 08.02.2019]

[14] O.V.: Plötzlich waren wir die Gejagten, in: Antifaschistisches Infoblatt, 13.10.2002, [zuletzt eingesehen am 11.02.2019].

[15] Ebd.

[16] So ein wörtlicher Ausspruch aus dem Funkverkehr der Göttinger Polizei: »Kleines Loch hacken, reinschmeißen«, in: Antifaschistische Linke International: Medienbericht 1991: Freund und Helfer?, [eingesehen am 08.02.2019].

[17] Ebd.

[18] Vgl. Nieradzik, S. 128.

[19] Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen (Hg.): Dokumentation Antifaschistischer Widerstand in Südniedersachsen 1989. Erklärungen, Dokumente, Berichte, Plakate, Presse, Fotos, Göttingen 1990, S. 11.

[20] Vgl. o.V.: Skinhead-Treffen verhindert, in: die tageszeitung, 28.03.1989, [eingesehen am 11.02.2019].

[21] Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 51.

[22] Vgl. Nieradzik, S. 121.

[23] Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 44.

[24] Ebd., S. 74,

[25] Die Bezeichnung »Heinz-Schenk-Debatte« verweist auf einen in den 1970er und 1980er Jahren bekannten singenden Showmaster und ist von einem Pseudonym abgeleitet, das an der Debatte Beteiligte für ihre Beiträge benutzten.

[26] Ebd., S. 16.

[27] Vgl. Autonomer Widerstand 1990/1991. Region Südniedersachsen, Göttingen 1991, S. 4.

[28] Vgl. hier und im Folgenden Dokumentation: Conny ist tot. Wandelt Wut und Trauer in Widerstand. Dokumentation, Zeitungsartikel, Flugblätter (1989), [eingesehen am 08.02.2019].

[29] Ebd.

[30] Vgl. Girod, Sonja: Protest und Revolte – Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Göttingen 2012, S. 267.

[31] Die Grünen. Göttingen/Kommunistischer Bund/Gruppe Göttingen: Neofaschisten, Feindbilder, Menschenjagd, Polizeitradition, in: Stadtarchiv Göttingen, Akte FS 11 B 404.

[32] RCDS-Göttingen: RCDS-Info: Conny, in: Stadtarchiv Göttingen, Akte FS 11 B 404.

[33] Jakob, Christian: Kein Heldentod, in: taz.de, 13.11.2009, [eingesehen am 08.02.2019].

[34] Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 130.

[35] Vgl. Barke, Jörn: Vor 25 Jahren stirbt Conny W., in: Göttinger Tageblatt, 16.11.2014, [eingesehen am 13.02.2019].

[36] Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 141.

[37] Vgl. ebd., S. 235.

[38] Ebd., S. 244.

[39] Fachschaft-Basisgruppe-Geschichte: Zum Tod von Conny, in: Stadtarchiv Göttingen, Akte FS 11 B 404.

[40] Resolution verabschiedet am 23.11.1989 von der Uni-Vollversammlung, in: Stadtarchiv Göttingen, Akte FS 11 B 404.

[41] Nieradzik, S. 127.

[42] Vgl. Nentwig, S. 262.

[43] Vgl. Barke, Jörn: Vor 25 Jahren stirbt Conny W., in: Göttinger Tageblatt, 16.11.2014, [eingesehen am 13.02.2019].

[44] O.V.: Ein Angriff auf die Antifa-Selbsthilfe. Interview mit einem Angeklagten aus dem Mackenrode-Verfahren, in: nadir.org, [eingesehen am 13.02.2019].

[45] Vgl. Maier, Sören: Eine Narbe im Asphalt, in: jungle.world, 12.11.2009, [eingesehen am 13.02.2019].

[46] Vgl. Nentwig, S. 265.

[47] Autonomer Widerstand 1990/1991, S. 38.

[48] Vgl. ebd., S. 76.

[49] Vgl. ebd., S. 31.

[50] Vgl. Beitrag eines Westberliner Autonomen in der Dokumentation vom 25.11.1989, in: Stadtarchiv Göttingen, Akte C 5 Nr. 522.

[51] Irgendjemandsonstwerwasweißich: Liebe Genossinnen und Genossen, in: Stadtarchiv Göttingen, Akte C 5 Nr. 522.

[52] Ebd.

[53] Autonomer Widerstand 1990/1991, S. 4.

[54] Vgl. Leggewie, Claus: Die Republikaner. Ein Phantom nimmt Gestalt an, Berlin 1990, S. 167.

[55] Ebd., S. 168.