Diese Vorüberlegungen werfen die dringliche Frage auf, wer eigentlich zum Schutz der Demokratie vor diesen Gefahren berufen ist, oder ob die Demokratie sich nicht als »streitbare Demokratie« selbst zu schützen vermag. Genau diese Problematik wurde jüngst wieder anlässlich des NPD-Verbotsverfahrens thematisiert. Heribert Prantl interpretierte die Zurückweisung des Antrags des Bundesrates durch den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts im Januar 2017, die NPD als »verfassungsfeindlich« einzustufen und somit aufzulösen, beispielsweise als Ausdruck einer »wehrlosen« oder »naiven« Demokratie.[8] Demgegenüber stellten die obersten Richter in ihren Leitsätzen fest, dass das Parteienverbot als Kern der »wehrhaften Demokratie« nicht als »Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot« missbraucht werden dürfe, sondern einzig und allein dann verhängt werden solle, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung in Gefahr sei.[9] In einer Art Minimaldefinition legten die Karlsruher Richter hierfür drei Kriterien fest: die Garantie der Menschwürde; das Demokratieprinzip, also freie und gleiche Wahlen; und die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilnahme aller am Willensbildungsprozess sowie die Rechtsstaatlichkeit. Gleichzeitig betonten sie jedoch, dass Verfassungsschutz – verstanden als Auseinandersetzung und Kampf gegen die Aushöhlung und Zerstörung der freiheitlich demokratischen Grundordnung – die Aufgabe aller Bürger sein sollte und daher als eine Art Selbstverpflichtung zu gelten habe, da die Verteidigung der Freiheit, Gleichheit, Rechtssicherheit und Menschenwürde weder an die legislative Instanz delegiert noch inhaltlich durch diese gefüllt oder festgelegt werden könne. Gleichzeitig ist jedoch, wie es der Staatsrechtler Christoph Gusy prägnant zusammenfasst, der »Anspruch auf Identifikation«, die der freiheitlich demokratischen Grundordnung gleichsam innewohnt, zurückzuweisen, damit nicht die Sicherung des Staates oder die »Staatsverwirklichung« an erste Stelle trete, sondern die Debatte, Aushandlung und Konkretisierung demokratischer Werte und Verfahrensweisen.[10] Daher müssen stigmatisierende Zuschreibungen und die damit einhergehende Ausschließung aus dem politischen Diskurs in der öffentlichen Auseinandersetzung das letzte Mittel der Wahl sein und entsprechende Begrifflichkeiten sollten in der Wissenschaft (als eher klassifizierende und weniger erklärende Zugänge) ebenso zurückhaltend verwendet werden.

Gerade die Debatte über den Begriff des »Extremismus« trägt diesbezüglich einen erheblichen Ballast mit sich, den es abzuwerfen gilt: Im Zuge der Forschungen wird man die erklärende Substanz der bisherigen Zuordnungskategorien überprüfen müssen, gegebenenfalls alternative Bezeichnungen anzubieten haben. Auf der Basis empirischer Grundlagenforschung neue Begrifflichkeiten zu formulieren, welche die teils schablonenhaft verwandten kategorialen Zuordnungen ersetzen, ist daher auch ein Ziel der Forschungsstelle.

Forschungsfragen und methodische Herangehensweisen

Auf diesem – freilich weiten und steinigen – Weg erscheint uns ein Methodendogmatismus hinderlich. Vielmehr wollen wir neugierig sein und bleiben. Wir wollen nicht – zumindest nicht ausschließlich – die eingetretenen Pfade des Faches nachlaufen, sondern ohne methodisches Korsett die Zugänge wählen, die jeweils am besten geeignet erscheinen; denn letztlich bewährt sich ein wissenschaftlicher Ansatz allein »im Forschungsprozess und in der Darstellung«[11]. Dabei kann und darf es auch widersprüchlich zugehen. Man muss nicht an Zugriffen, Perspektiven und Ergebnissen dauerhaft festkleben; sie sind revidierbar, mehr noch: Man sollte sich im Forschungsvorgang immer wieder auch gegenüber seiner selbst platzieren, als Akt der Selbstsubversion gleichsam. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden Überlegungen, methodische Zugänge und Perspektiven der Geschichts-, Kultur- und Sprachwissenschaften, auch der politischen Soziologie und Psychologie, stets neben politikwissenschaftlichen Ansätzen nutzbar gemacht. Die Forschungsstelle steht somit mit Blick auf die wissenschaftliche Praxis und die Wahl analytischer Ansätze und Methoden in der Tradition des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, an dem die Forschungsstelle auch organisatorisch angesiedelt ist.

Ihr Schwerpunkt liegt in der Analyse aktueller »demokratiefeindlicher« Tendenzen in modernen Gesellschaften insbesondere unter der Berücksichtigung der lokalen Bedingungen des Bundeslandes Niedersachsen. Hierbei sind in einem umfassenden historisch-längsschnittartigen Zugriff ideologische, personelle und organisatorische Zusammenhänge ebenso zu berücksichtigen wie Mentalitäten, Deutungsmuster und Einstellungen der entsprechenden Akteure und Bewegungen. Im Zentrum steht die Erforschung aktueller Ausprägungen politischer Gewalt und Militanz, von Dissidenz, Radikalismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit innovativen, ertragreichen Methoden, um Entstehungszusammenhänge, Entwicklungsverläufe, Zerfalls- oder Progressionsprozesse analysieren und erklären zu können. Es sollen sich wandelnde Gesellschaftsentwürfe, Selbstverständnisse und Demokratiekonzepte unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure ebenso berücksichtigt werden wie die in der Forschungsstelle zu untersuchenden Analysebereiche: schwerpunktmäßig die Extreme Rechte, die Radikale Linke und religiös motivierte politische Gewalt, jeweils in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit. Das bedeutet, politische Ideen und Ideensysteme (Ideologien), politische Weltbilder und Ordnungsideen, sowie etablierte Institutionen der Organisation des politischen Willens (Parteien, Großorganisationen, gesellschaftliche Bewegungen) und militante Akteure und radikale Bewegungen sollen multiperspektivisch erforscht werden.

Dafür halten wir – zunächst – den Ansatz und die Prämissen der qualitativ-empirischen oder auch integrativen politischen Kulturforschung für vielversprechend. Diese Art der politischen Kulturforschung trieb anfangs die Suche nach Erklärungsfaktoren für die Stabilität beziehungsweise Fragilität demokratischer Regime um, wobei die alleinige Erklärungskraft ökonomischer und institutioneller Faktoren oder die Rolle der Eliten für unzureichend erklärt wurde. Mit der politischen Kulturforschung wird in der Politikwissenschaft seit den 1950er Jahren – neben den Strukturen und dem Institutionengeflecht – den Einstellungen und Deutungen der Bürger eine zentrale Relevanz für das Bestehen und die Ausgestaltung von Demokratie zugeschrieben. Diese Binsenweisheit bestreitet mittlerweile kaum noch jemand. Uneinigkeit besteht in der Forschung allerdings nach wie vor in der Methodik der politischen Kulturforschung, oder genauer in der Frage, was eigentlich politische Kultur konkret umfasst und wie diese erhoben, beschrieben und analysiert werden kann.[12]

Das Instrument der klassischen vergleichenden politischen Kulturforschung, die auf die Arbeiten von Gabriel Almond und Sidney Verba zurückgeht, ist die Surveyforschung. Mit Hilfe von Umfragen wird die individuelle Einstellung der Bürger gegenüber politischen Institutionen oder die Zufriedenheit mit der Demokratie als Idee und ihrer Performanz erhoben. Doch ist in einem solchen Verständnis der Begriff der politischen Kultur – so die Kritiker – unzulässig auf die Werte und Einstellungen der Individuen in Bezug auf die politischen Objekte verengt worden. Deswegen arbeitete Karl Rohe seit den 1980er Jahren systematisch an einer Erweiterung der »empirischen politischen Kulturforschung«, wie er sie nannte[13], und forderte, dass die politische Kultur stets in ihrem »subjektiven und objektiven Doppelcharakter« analysiert werden müsse, sie also »Ideensystem und gleichzeitig Zeichen- und Symbolsystem« sei. Ihm ging es darum, auch die »ästhetisch fassbare und bewertbare Form und Ausdrucksgestalt« der politischen Kultur zu untersuchen, wobei die Form, also die »Ausdrucksseite«, niemals nur allein als Zugang zur »Inhaltsseite« zu sehen sei, sondern einen besonderen »Eigenwert« besitze.[14]

Rohe unterschied zum einen die »politische Soziokultur« oder auch »politische Sozialkultur«, also die »mehr oder weniger unbewussten Denk-, Rede- und Handlungsgewohnheiten«, und zum anderen die »politische Deutungskultur«, eine Art Metakultur, auch »Weltbild« genannt oder »politischer Sinn«, wie es Rohe an anderer Stelle formuliert.[15] Und dieser »Sinn« werde dann durch »politisches Reden und politisches Handeln sichtbar und sinnenfällig gemacht oder auch in Frage gestellt«.[16] Gerade weil die politische Soziokultur »essentiell auf ständige symbolische Verdeutlichung« angewiesen sei, erweitert Rohe mit seiner Konzeption das Ziel der politischen Kulturforschung: »[W]er in einer politischen Gesellschaft für wen auf welche Weise was für politische Deutungsangebote macht und machen kann, oder noch grundlegender: ob überhaupt eine hinreichende symbolische Verdeutlichung der politischen Basiskonzepte und Basisregeln eines politischen Gemeinwesens erfolgt«, sei die Kardinalfrage der Subdisziplin. Rohe ergänzte die klassischen Konzeptionen der politischen Kulturforschung überdies durch die Annahme, dass politische Kultur nicht als »vorgefundenes Resultat, sondern […] stets auch als Prozeß begriffen werden« müsse, was konsequenterweise in der »Analyse von politisch-kultureller Praxis« mündet.

Wir gehen davon aus, dass in einer streitbaren Demokratie mehrere politische Deutungskulturen und auch Soziokulturen miteinander ringen. Gerade dort, wo unterschiedliche politische Kulturen sich aneinander reiben, sich gegeneinander abgrenzen, sich auseinandersetzen, sich Vereinnahmungen widersetzen oder um Kompromisse kämpfen, ist der Forschungsgegenstand von FoDEx zu verorten. Ausprägungen dieser unterschiedlichen politischen Soziokulturen im Bereich der Extremen Rechten, der Radikalen Linken und der religiös-fundamentalistischen Gewalt sowie deren Praktiken und Symbole sind zu erfassen und zu analysieren. Andererseits sind auch deren politische Deutungskulturen, also die politischen Ordnungsideen und -konzepte, sowie die Ideensysteme zu untersuchen, weil sie Antrieb und Rechtfertigung des politischen Handelns sind, politische Vorgänge erklären und erstrebenswerte Ziele festlegen. Diese Ideologien finden sich im Gegensatz zur politischen Soziokultur in verschriftlichen Konzepten, Doktrinen und Grundrissen.[17]

Auch wenn in den vergangenen Jahren zahlreiche Arbeiten über politische Mythen, Symbole, Bilder und Methapern oder Diskurskulturen entstanden sind, fristet dieser Zugang insbesondere in der Politikwissenschaft ein Nischendasein. Dem Zugriff werden etwa aus der empirischen politischen Kulturforschung konzeptionelle Überdehnung und mangelnde Operationalisierung vorgeworfen. Wir gehen jedoch davon aus, dass durch die konsequente Umsetzung eines qualitativ-empirischen Forschungsdesigns mit leitfadengestützten und narrativ-biografischen Interviews, Gruppendiskussionen, systematischen Vor-Ort-Beobachtungen der Alltagspraktiken und einer Analyse der verwendeten Sprache und Bilder, auch der politischen Debatten in internetbasierten sozialen Netzwerken, durch die zielgerichtete Untersuchung von bewegungsförmigen politischen Akteuren, sowie der Ausdeutung politischer Schriften, theoretischer Entwürfe und konzeptioneller Maximen, umfassend die politische Kultur (eines Milieus oder einer Subkultur) erfasst werden kann. Wo es möglich und sinnvoll erscheint, sollen diese Erhebungsformen durch die Umfrageforschung ergänzt werden, beispielsweise durch die Auswertung vorhandener Daten zur Identifizierung einer »Mehrheitskultur«, die sich den oppositionellen »Minderheitskulturen« gegenüber sieht, oder eigenen Demonstrationsbefragungen,[18] wie sie bereits mehrfach am Institut für Demokratieforschung durchgeführt wurden.