Gibt es einen spezifischen »muslimischen Antisemitismus« oder steht Antisemitismus unter Muslim*innen in keinem engeren Zusammenhang mit ihrer Religion? Die Aktualität der Frage zeigte sich erneut im Mai 2021 nach dem Aufflammen des bewaffneten Konflikts zwischen dem Gazastreifen und Israel im Zuge von anti-israelischen Demonstrationen. Diese wurden vor allem von türkisch- und arabischstämmigen, mehrheitlich muslimischen Menschen getragen. Es kam zu Hassrufen wie »Scheiß Juden!«, in Gelsenkirchen richtete sich eine Kundgebung sogar gegen die örtliche Synagoge – und nicht gegen die Vertretung der israelischen Regierung.[1]

In diesem Beitrag soll zunächst geklärt werden, wie verbreitet Antisemitismus unter Muslim*innen in Deutschland ist und aus welchen Quellen er sich schöpft, um zu eruieren, ob sich ein spezifisch muslimischer Antisemitismus ausmachen lässt.

Abbildung der Gelsenkirchener Synagoge
Bild 1: Die Gelsenkirchener Synagoge wurde im Mai 2021 Ziel eines antisemitischen Protests. (Bild: Daniel Ullrich /Wikimedia Commons 2007, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Neue_Synagoge_Gelsenkirchen.jpg, CC-by-sa-2.0-de).

Unter Antisemitismus sollen hier Vorstellungen verstanden werden, nach denen Jüd*innen pauschal negative Eigenschaften und/oder Handlungen zugeschrieben werden. Der Antisemitismus kann dabei verschiedene Formen annehmen. Im Anschluss an Monika Schwarz-Friesel soll hier zwischen klassischem Antisemitismus, Post-Holocaust-Antisemitismus und anti-israelischem Antisemitismus unterschieden werden. Während beim klassischen Antisemitismus entweder auf religiöse Stereotype wie das der Jüd*innen als Gottesmörder*innen oder auf bereits vor 1945 verbreitete, häufig rassistische Vorstellungen Bezug genommen wird (z. B. Vorwurf des Wuchers oder gar der Weltverschwörung), wird beim Post-Holocaust-Antisemitismus die deutsche Schuld am Holocaust relativiert, mitunter auf Jüd*innen projiziert und/oder Jüd*innen vorgeworfen, das Gedenken an den Holocaust auszunutzen. Beim anti-israelischen Antisemitismus werden vormals Jüd*innen zugeschriebene Attribute wie die des Störenfrieds oder eines Sonderstatus auf Israel bezogen.[2]

Zur Verbreitung des Antisemitismus unter Muslim*innen

Dass es keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gibt, ab wann eine Person als »muslimisch« gilt, erschwert die Beantwortung der hier aufgeworfenen Forschungsfrage.[3] Zwar bietet es sich an, die Selbstzuschreibung von Menschen als Muslim*innen zur Grundlage zu machen, doch nicht alle Erhebungen verfahren nach diesem Prinzip. Dennoch können Befragungen, die die Verbreitung antisemitischer Einstellungen unter Muslim*innen erforschen, einen Anhaltspunkt über das Ausmaß des Problems bieten. Die amerikanische Anti-Defamation League (ADL) etwa kam 2019 bei einer Umfrage unter 503 Befragten in Deutschland zum Ergebnis, dass 15 Prozent der Gesamtbevölkerung antisemitische Einstellungen hegen. Während unter den Konfessionsfreien und Christ*innen 12 bzw. 14 Prozent antisemitische Einstellungen aufzeigten, waren es bei Muslim*innen ganze 49 Prozent.[4] Zwar kann die Validität angesichts des kleinen muslimischen Teilsamples in Zweifel gezogen werden, doch decken sich die Ergebnisse tendenziell mit Erhebungen in anderen westeuropäischen Ländern. Daher muss unter Muslim*innen von einer erhöhten Verbreitung antisemitischer Einstellungen ausgegangen werden.[5] Allerdings sind die Muslim*innen in Deutschland keine homogene Gruppe. So zeigen andere Erhebungen unter Muslim*innen, dass Antisemitismus bei im Nahen Osten geborenen Personen besonders verbreitet ist, unter in Deutschland und auf dem Balkan Geborenen weniger stark oder sogar niedrig ausgeprägt ist.[6] Unter türkischstämmigen Muslim*innen ist das antisemitische Ressentiment zudem schwächer als unter arabischstämmigen Anhänger*innen des Islam.[7]

Antisemitische Einstellungen verbleiben nicht immer auf der Ebene des Meinens, sondern können zu antisemitischen Handlungen motivieren. Antisemitische Vorkommnisse lassen sich einer Online-Umfrage unter in Deutschland lebenden Jüd*innen zufolge zu einem hohen Prozentsatz muslimischen Personen zurechnen. Demnach gingen »48 Prozent der versteckten Andeutungen, 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe«, die sie selbst oder ihr Umfeld erlebten, von Muslim*innen aus.[8] Laut der vom Bundesinnenministeriums herausgegebenen Statistik zur »Politisch motivierten Kriminalität« (PMK) ließen sich hingegen nur 31 der 2351 bundesweit erfassten antisemitischen Straftaten (1,3 Prozent) auf eine »religiöse Ideologie« zurückführen, während 2224 Straftaten dem Bereich »rechts« zugeordnet wurden (94,6 Prozent).[9] Beide Erhebungen sind jedoch mit Vorsicht zu rezipieren: Einerseits war die Online-Befragung von Jüd*innen in Deutschland nicht repräsentativ – und auch Eindrücke von Betroffenen können Verzerrungen unterliegen. Die PMK-Statistik erfasst andererseits nur das Hellfeld, also die den Sicherheitsbehörden bekanntgewordenen Straftaten, und bildet somit weder nicht-angezeigte Straftaten noch nicht justiziable antisemitische Handlungen ab; es bleibt zudem unklar, nach welchen Kriterien die Behörden eine Straftat einem bestimmten ideologischen Hintergrund zurechnen. Auch wäre es falsch, sämtliche von Muslim*innen begangenen antisemitischen Straftaten als Ausfluss einer »religiösen Ideologie« zu verstehen, da sich auch Anhänger*innen des Islam etwa einer rechtsradikalen Ideologie verschreiben können, ohne Bezug auf ihre Religion zu nehmen. Doch bei aller Vorsicht in Bezug auf die Validität der Online-Befragung: Der hohe Anteil an antisemitischen Handlungen, den Jüd*innen Muslim*innen zuschreiben, deutet stark darauf hin, dass das Problem des Antisemitismus unter Muslim*innen jedenfalls kein kleines ist. Um dessen Ursachen zu rekonstruieren, sind sowohl die religiösen Quellen des Islam als auch der Einfluss moderner Ideologien in den Blick zu nehmen.

Antisemitismus und die Quellen des Islam

Lassen sich antisemitische Einstellungen auf die Quellen des Islam, also auf den Koran und die ursprünglich mündlich überlieferten Hadithe des Propheten Mohammed zurückführen? Tatsächlich zeigt sich ein ambivalentes Bild. Insgesamt spielen Jüd*innen und das Verhältnis zu ihnen keine herausgehobene Rolle im Koran und der Sunna, einzelne Bezüge sind jedoch nachzuweisen.[10] Einerseits wird in der 44. Sure des Korans die Errettung der »Kinder Israels« [arab. Banū Isrāʾīl] aus der Knechtschaft in Ägypten erwähnt, die vor anderen Menschen von Gott durch ihr Wissen ausgezeichnet worden seien (Koran 44:32). Es wird sogar erwähnt, dass Gott das »Heilige Land« Moses und seinem Volk versprochen habe (5:20–21). Andererseits wird Jüd*innen vorgeworfen, ihren Bund mit Gott nicht gehalten zu haben, sein Wort verfälscht zu haben, gar zu ihnen entsandte Propheten getötet zu haben (z. B. 4:155), verräterisch zu sein (z. B. 5:13) und Menschen durch Zinsnahme um ihr Geld zu bringen, obwohl Gott ihnen dies verboten hätte (z. B. 5:160–161).[11] Hier tauchen also einige klassische antijüdische Topoi auf, die aus der europäisch-christlichen Geschichte bekannt sind. Die Inhalte ähneln teilweise stark den scharfen Anklagen, die die im Alten Testament enthaltenen Propheten gegen ihr eigenes jüdisches Gemeinwesen ihrer Tage richteten und als frühes Beispiel der Gesellschaftskritik gelten.[12] Jedoch gehen einige eschatologische Hadithe über diese Topoi hinaus und enthalten offenen Judenhass und die Imagination, in der Endzeit werde sogar ein Teil der belebten wie unbelebten Natur auf Seiten der Muslim*innen in den Kampf gegen Jüd*innen einsteigen. So heißt es in einem von Muslim ibn al-Ḥaǧǧāǧ[13] überlieferten, im orthodoxen Islam als authentisch geltenden Hadith: »Die letzte Stunde wird nicht kommen, bis die Muslime die Juden bekämpfen und sie solange töten, bis sich die Juden hinter einem Stein oder einem Baum verstecken und der Stein oder der Baum sagen wird: O Muslim! O Diener Gottes! Hier hinter mir versteckt sich ein Jude, komm und töte ihn! […]«[14]

Textstellen wie diese lassen sich mit den hermeneutischen Mitteln des orthodoxen Islam nicht menschenrechtskompatibel auslegen. Hier ist der liberalen muslimischen Theologin Amina Wadud zuzustimmen, dass Muslim*innen »Nein« zur wörtlichen Bedeutung von Textstellen sagen sollten, wenn diese gegen moderne ethische Grundsätze verstoßen.[15] Dennoch ist festzuhalten, dass die Aussagen der islamischen Quellen zu Jüd*innen stark variieren und sich auch Textstellen für einen respektvollen Umgang mit ihnen anführen lassen. Die antijüdischen Gehalte von Koran und Sunna sind insgesamt nicht stärker ausgeprägt als die der Bibel und standen in der Vormoderne bei der Exegese der religiösen Quellen nicht im Vordergrund. Auch wenn Jüd*innen in vormodernen islamischen Gesellschaften ebenso wenig gleichberechtigt waren wie Christ*innen, waren pogromhafte Verfolgungen eher selten, einen theologisch aufgeladenen Judenhass wie im Christentum gab es nicht.[16] Mit Verweis auf die antijüdischen Gehalte der Quellen des Islam lässt sich die heutige Verbreitung des Antisemitismus unter Muslim*innen somit nicht erklären.

Moderne Quellen des Antisemitismus

Die Ursachen für die starke Verbreitung des Antisemitismus unter Muslim*innen im Nahen Osten sind im Wesentlichen in der Neuzeit zu suchen. Im imperialistischen 19. Jahrhundert, als das schwächelnde Osmanische Reich unter den Einfluss der europäischen Großmächte geriet, kam es zum Transfer antijüdischer Topoi aus Europa in den Nahen Osten. So wurde 1840 im Rahmen der »Damaskusaffäre« im heutigen Syrien eine jüdische Gemeinde durch einen Mob angegriffen; auch die Behörden verhafteten und folterten Jüd*innen, nachdem zuvor ein Jude von einheimischen Christ*innen und dem dortigen französischen Konsul eines Ritualmords bezichtigt worden war. Damit fand die bis dahin unter Muslim*innen weitgehend unbekannte Legende von jüdischen Ritualmorden im Nahen Osten zunehmend Verbreitung.

Aber erst die Revolution des jungtürkischen »Komitees für Einheit und Fortschritt« (İTC) 1908 schuf die Voraussetzung für eine starke Verbreitung antisemitischen Gedankenguts. Die Revolution hatte die kurzzeitige Etablierung einer konstitutionellen Herrschaft und die Abhaltung relativ freier, wenn auch indirekter Parlamentswahlen zur Folge; 1909 musste der vormals absolutistisch herrschende Abdülhamid II. zugunsten des politisch weitgehend einflusslosen Mehmed V. abdanken. Die forcierte Türkisierung in Behörden und Schulwesen sorgte für die Entfremdung der arabischen Bevölkerung von der osmanischen Regierung. Die Gegner*innen der Jungtürken, die die Abschaffung der überkommenen Ordnung und die zeitweilige Wiederherstellung einer liberal-parlamentarischen Ordnung ablehnten, waren für die Behauptung empfänglich, hinter den Umwälzungen stehe eine jüdische Verschwörung.[17] Die Herrschaft des İTC wandte sich jedoch binnen kürzester Zeit ins Autoritäre: Die Wahlen 1912 unterlagen bereits erheblichen Manipulationen.[18] Nach der verheerenden Niederlage in den Balkankriegen und dem einhergehenden Verlust fast aller europäischen Gebiete (1912/13) wurde die Macht 1913 mittels eines Staatsstreiches faktisch in den Händen des Triumvirats aus Kriegsminister Ismail Enver, Marineminister Ahmed Cemal und dem dominierenden Innenminister Mehmed Talaat monopolisiert, die das Land an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg führten und den Genozid an der armenischen und assyrischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches verantworteten.[19]

Die politische Instabilität des späten Osmanischen Reiches, die die Ausbreitung des Antisemitismus begünstigte, hielt in der Türkei auch nach dem Ersten Weltkrieg, dem Befreiungskrieg (1919–1923) und der Gründung der Republik Türkei, die 1923 an Stelle des stark geschrumpften Osmanischen Reiches trat, an. Beispielhaft lässt sich die Verbreitung antisemitischer Stereotype anhand des einflussreichen Journalisten und Gründers der Zeitung »Serbesti«, Mevlanzade Rıfat (1869–1930), nachzeichnen. Rıfat, der zunächst als Gegner des absolutistischen Sultans Abdülhamid II. bekannt wurde, stand phasenweise auch in Opposition zum İTC und verbreitete die These, hinter dem Komitee verberge sich eine jüdisch-freimaurerische Verschwörung. Gleichzeitig gilt er auch als früher Vertreter der kurdischen Nationalbewegung. Seine widersprüchliche politische Biografie führt dazu, dass das Interesse an seiner Person in der Türkei heute konträre politische Strömungen eint und seine wiederaufgelegten Schriften nicht nur in konservativen, sondern auch in linken kurdischen Kreisen auf Interesse stoßen – eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Antisemitismus nehmen allerdings weder konservative noch linke Intellektuelle vor.[20]

In den letzten Jahren ging die Verbreitung antisemitischer Topoi vor allem auf die AKP-Regierung unter Führung von Recep Tayyip Erdoğan zurück, der 2013 seine Macht von der zivilgesellschaftlich getragenen Gezi-Park-Bewegung herausgefordert sah und diese (mit kaum verhülltem Antisemitismus) als Werkzeug einer »Zinslobby« diffamierte.[21] Angesichts des Rückhalts, den Erdoğan bei einem Teil türkischstämmigen Community in Deutschland genießt, ist klar, dass er zur Verbreitung des Antisemitismus in der Bundesrepublik beiträgt.[22] Dem Historiker Rıfat Bali zufolge ist Antisemitismus in der Türkei ein »normalisiertes und traditionelles Phänomen«[23], das von den verschiedensten politischen Gruppen – auch des säkularen Spektrums – verbreitet wird.[24] Daher überrascht es auch nicht, dass sich Erdoğan bis heute selbst antisemitischen Beleidigungen seiner Gegner*innen ausgesetzt sieht.[25]

In vielen arabischen Staaten ist der Antisemitismus im Diskurs noch verbreiteter als in der Türkei. Antisemitische und anti-israelische Topoi sind vielfach untrennbar miteinander verwoben. Angesichts von fehlender Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der gesamten arabischen Welt ist eine Kritik antisemitischer Vorurteile nahezu unmöglich. Historisch trugen bereits in der ersten Hälfte der 1940er Jahre arabischsprachige Rundfunksender aus Deutschland zur Verbreitung antisemitischer Propaganda bei.[26] Dennoch dürfte die Rolle der NS-Propaganda für die Herausbildung des arabischen Antisemitismus eher gering gewesen sein, denn erst ab der Staatsgründung Israels 1948 spielten antisemitische Diskurse eine dominante Rolle in der arabischen Öffentlichkeit.[27] Zur Popularisierung antisemitischen Denkens im Spektrum des politischen Islam trug maßgeblich Sayyid Quṭb (1906–1966) bei, der wohl prominenteste Denker der ägyptischen Muslimbrüder. Er sah hinter dem Aufkommen materialistischer Anschauungen, deren maßgebliche Vertreter mit Marx, Durkheim und Freud allesamt Juden gewesen seien, eine jüdische Verschwörung, die sich schließlich vor allem der Bekämpfung des Islam als letzte wirklich lebendige Religion der Menschheit zugewandt habe.[28] Die primäre Ursache des Niedergangs der islamischen Welt sah er aber nicht in Verschwörungen anti-islamischer Kräfte, sondern in der selbstverschuldeten Abkehr der Muslim*innen vom wahren Islam und ihrem vermeintlichen Rückfall in die heidnische Unwissenheit (Ǧāhilīya). Daher spielt der Antisemitismus in Quṭbs Denken eine wichtige, aber keine zentrale Rolle.

Angesichts der Tatsache, dass die Gruppe syrischstämmiger Muslim*innen mittlerweile nach der türkischstämmigen Community die zweitgrößte Gruppe von Anhänger*innen des Islam in Deutschland stellt, sind die Verhältnisse in Syrien von besonderem Interesse. Das seit 1970 herrschende Assad-Regime, das sich als säkulares Bollwerk gegen den politischen Islam inszeniert, lässt Antisemitismus staatlich fördern. So veröffentlichte Mustafa Tlas, von 1972 bis 2004 Verteidigungsminister Syriens, 1983 das Buch »Faṭīr Ṣihyūn« [Brot Zions], in dem er die Ritualmordlegende wiederholt, Jüd*innen würden aus Kinderblut Teig für Matzen backen.[29] Der arabisch-israelische Konflikt ist ein zentrales Thema in syrischen Schulen, im Unterricht wird ein stereotypes Feindbild Israel vermittelt.[30] Somit überrascht es nicht, dass 2016 bei einer qualitativen Erhebung unter syrischen Geflüchteten in Berlin nicht nur die Verbreitung klassischer antijüdischer Klischees (Assoziation von Jüd*innen mit Reichtum, Geiz, Macht, Schläue und Rücksichtslosigkeit) festgestellt wurden, sondern auch häufig eine kategorische Ablehnung Israels. Der jüdische Staat wird dabei bisweilen – antisemitisch aufgeladen – als »künstlicher« Staat verstanden. Doch laut den Antisemitismusforscherinnen Arnold und König haben die im Krieg gewonnenen Erfahrungen das stereotype Feindbild Israel teilweise abgeschwächt, da Israel humanitäre Hilfe für einige Syrer*innen leistet. Zudem erscheinen nun vielen Syrer*innen die Verbündeten des Assad-Regimes, der Iran und die libanesische Hisbollah, als maßgebliche Feinde der eigenen Bevölkerung.[31] Das Bild syrischer Geflüchteter von Jüd*innen und Israel ist somit nicht statisch – und es ist gut möglich, dass sich ihre antisemitischen Ressentiments seit ihrer Ankunft in Deutschland abgeschwächt haben.

Es wäre ohnehin ein Fehlschluss, die Verbreitung antisemitischer Vorurteile unter Muslim*innen in Deutschland ausschließlich als Folge ausländischer Diskurse zu lesen. In hohem Maße dürften sie sich aus den antisemitischen Ressentiments, die in der deutschen Gesellschaft nach wie vor zirkulieren, speisen. Gerade türkischstämmige Muslim*innen der dritten Generation werden primär durch die deutsche Wirklichkeit geprägt, während für viele Syrer*innen, die erst vor wenigen Jahren in der Bundesrepublik angekommen sind, die Sozialisation in der arabischen Diktatur noch nachwirkt.

Fazit

Empirische Erhebungen zeigen, dass Antisemitismus unter Muslim*innen in Deutschland ausgeprägter ist als in der Gesamtbevölkerung. Tatsächlich finden sich antijüdische Inhalte auch in den Quellen des Islam – diese spielen aber quantitativ eine kleine Rolle und führten anders als im mittelalterlichen Europa nicht zur Herausbildung eines ausgeprägten religiösen Hasses auf Jüd*innen. Auch hängt die Verbreitung des Antisemitismus unter Muslim*innen sehr stark von ihrem Geburtsort ab, was dagegenspricht, die Quellen des Islam selbst als primäre Ursache antijüdischer Ressentiments zu verstehen. Es zeigte sich vielmehr, dass der Antisemitismus in der Türkei und der arabischen Welt, insbesondere in Syrien, sowohl in der Strömung des politischen Islam als auch im säkularen Lager verbreitet ist. Daher ist davon auszugehen, dass sich die Diskurse dort auf Muslim*innen in Deutschland auswirken. Auch der arabisch-israelische Konflikt hat die Verbreitung des Antisemitismus zwar begünstigt – er ist aber bei weitem nicht die einzige Ursache für die Herausbildung irrationaler Vorurteile über Jüd*innen. Nennenswerte konkrete Erfahrungen mit Jüd*innen und Israel haben die meisten Muslim*innen nicht gemacht.

Der Begriff des »muslimischen Antisemitismus« ist abzulehnen, stattdessen sollte vom »Antisemitismus unter Muslim*innen« respektive vom Antisemitismus innerhalb der türkisch- und arabischstämmigen Communitys gesprochen werden. Diese umfassen natürlich auch Nicht-Muslim*innen. Dies wird der Tatsache gerecht, dass der Antisemitismus dieser Gruppen sich aus den verschiedensten Quellen speist. Dessen Bekämpfung setzt eine kritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen des Nahen Ostens und der Türkei voraus. Einen Beitrag hierzu leisten könnte etwa ein Geschichtsunterricht, der nicht ausschließlich auf Deutschland und Europa fokussiert, sondern ebenso die für die deutsche (Post-)Migrationsgesellschaft wichtige Geschichte Westasiens auch jenseits des arabisch-israelischen Konflikts in den Blick nimmt, um Mythenbildungen vorzubeugen.

Literatur:

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[1] Johann, Klaus: Gelsenkirchen: Arrest für 20-Jährige wegen Volksverhetzung, in: WAZ.de, 06.01.2022, URL: https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/gelsenkirchen-arrest-fuer-20-jaehrige-wegen-volksverhetzung-id234248823.html [eingesehen am 21.01.2022].

[2] Schwarz-Friesel, Monika/Reinharz, Jehuda: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 26 sowie S. 58–105. Die drei Kategorien beziehen sich ursprünglich auf Stereotype in tausenden Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die Israelische Botschaft in Berlin, die im Rahmen einer umfangreichen Korpusanalyse ausgewertet wurden.

[3] Arnold, Sina/König, Jana: Antisemitismus im Kontext von Willkommens- und Ablehnungskultur. Einstellungen Geflüchteter zu Juden, Israel und dem Holocaust, in: Schüler-Springorum, Stefanie (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 26, Berlin 2017, S. 303–326, hier S. 305.

[4] Anti-Defamation League: Germany, ohne Datum, URL: https://global100.adl.org/country/germany/2019, [eingesehen am 31.01.2022]; zum Sample siehe URL: Anti-Defamation League: 2019 survey update, ohne Datum, URL: https://global100.adl.org/about/2019 [eingesehen am 31.01.2022].

[5] Jikeli, Günther: Muslimischer Antisemitismus in Europa. Aktuelle Ergebnisse der empirischen Forschung, in: Grimm, Marc/Kahmann, Bodo (Hrsg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin 2020, S. 113–133, hier: S. 120–125.

[6] Berek, Mathias: Importierter Antisemitismus? Zum Zusammenhang von Migration, Islam und Antisemitismus in Deutschland, in: Schüler-Springorum, Stefanie (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 26, Berlin 2017, S. 327–360, hier S. 343.

[7] Frindte, Wolfgang et al: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland, Hg. vom Bundesministerium des Innern, Berlin 2011, S. 230.

[8] Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Berlin 2017, URL: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/expertenkreis-antisemitismus/expertenbericht-antisemitismus-in-deutschland.html;jsessionid=765645D816ADF19BD3B61D2B2C5C01A8.2_cid287 [eingesehen am 31.01.2022], S. 109.

[9] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.): Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2020. Bundesweite Fallzahlen, 04.05.2021, URL: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2021/05/pmk-2020-bundesweite-fallzahlen.pdf?__blob=publicationFile&v=4 [eingesehen am 31.01.2022].

[10] Dennoch gibt es zu viele Verse, die sich auf Jüd*innen beziehen bzw. beziehen lassen, als dass hier auf alle Textstellen des Koran eingegangen werden könnte.

[11] Kiefer, Michael: Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, S. 27–36.

[12] So heißt es etwa bei Hosea 4,1–2 in der Übersetzung der Lutherbibel: »Höret, ihr Israeliten, des Herren Wort! […] [E]s gibt keine Treue, keine Liebe und keine Erkenntnis Gottes im Lande, [2] sondern Fluchen und Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen haben überhandgenommen, und eine Blutschuld kommt nach der andern.« Zur jüdischen Prophetie als Sozialkritik siehe bspw. Nurmi, Janne: Die Ethik unter dem Druck des Alltags. Die Impulse der gesellschaftlichen Änderungen und Situationen zu der sozialkritischen Prophetie in Juda im 8. Jh. v. Chr, Åbo 2004.

[13] Die Hadith-Sammlung von Muslim ibn al-Ḥaǧǧāǧ (gest. 875), bezeichnet als »Ṣaḥīḥ Muslim«, gilt im sunnitischen Islam als zweitwichtigste Zusammenstellung authentischer Hadithe vom Propheten Mohammed.

[14] Ṣaḥīḥ Muslim, Buch 54, Hadith 103, URL: https://sunnah.com/muslim:2922 [eingesehen am 01.02.2022] (eigene Übersetzung).

[15] Hamidi, Malika: »Inequality between men and women is contrary to Islam«, in: Qantara.de, 20.07.2021, URL: https://en.qantara.de/content/amina-waduds-quran-and-woman-revisited-inequality-between-men-and-women-is-contrary-to-islam [eingesehen am 01.02.2022].

[16] Kiefer, S. 27–36.

[17] Ebd., S. 49–57; Kayalı, Hasan: Elections and the Electoral Process in the Ottoman Empire, 1876–1919, in: International Journal of Middle East Studies, Jg. 27 (1995), H. 3, S. 265–286, hier S. 268–271.

[18] Ebd., S. 273.

[19] Reinkowski, Maurus: Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart, München 2021, S.74–94.

[20] Yetkin, Eren Yildirim: Imperialer Wahn und Untergangsfantasien zum Antisemitismus der konservativ-nationalistischen Szene in der Türkei, in: Schüler-Springorum, Stefanie (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 27, Berlin 2018, S. 204–228, hier S. 204–213 sowie Herzog, Christoph: Beobachtungen zu Verschwörungstheorien in der Türkei, in: Behzadi, Lale et al. (Hrsg.): Bamberger Orientstudien, Bamberg 2014, S. 415–455, hier S. 429 f.

[21] Yetkin, S. 205.

[22] Hild, Marvin: Zwischen Schein und Sein. Wie sich niedersächsische DITIB-Funktionäre in sozialen Medien äußern, in: Demokratie-Dialog, H. 9/2021, S. 43–51.

[23] Bali, Rıfat: Toplu Makaleler – II. Türkiye’de Antisemitizm ve Komplo Kültürü, Istanbul 2013, S. 24 f., zitiert nach Yetkin: Wahn, S. 206.

[24] Ebd., S. 208.

[25] O. V: Calling Erdogan a Jew is insulting and damaging to his prestige and honor, his lawyer says, in: Stockholm Center for Freedom, 05.11.2021, URL: https://stockholmcf.org/calling-erdogan-a-jew-is-insulting-and-damaging-to-his-prestige-and-honor-his-lawyer-says/ [eingesehen am 03.02.2022].

[26] Henning, Philipp: Strategischer Hasstransfer in der arabischsprachigen Rundfunkpropaganda NS-Deutschlands, in: Schüler-Springorum, Stefanie (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 29, Berlin 2020, S. 231–257.

[27] Ebd., S. 254–257.

[28] Carré, Olivier: Mysticism and politics. A critical reading of Fî Zilâl al-Qur’ân by Sayyid Qutb (1906–1966), Leiden 2003, S. 116 f.

[29] Kiefer, S. 43.

[30] Sheff, Marcus: Assad’s school curriculum: Love for Russia, hate for Jews, 14.07.2018, in: Jerusalem Post, URL: https://www.jpost.com/opinion/assads-school-curriculum-love-for-russia-hate-for-jews-562509 [eingesehen am 18.02.2022].

[31] Arnold/König, S. 306–313. In der Studie wurden neben Syrer*innen auch Geflüchtete aus dem Irak und Afghanistan befragt.