In der Präambel dieser Forschungskodizes wird ebenso darauf verwiesen, dass es immer eine Güterabwägung geben muss zwischen Forschungsfreiheit und Erkenntnisgewinn auf der einen und Datenschutzanliegen sowie den Rechten der Forschungspartner auf der anderen Seite. Dies bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Letztere nicht einfach mit einem lapidaren Verweis auf ein Nicht-beforscht-werden-wollen und auf die existierenden Richtlinien einseitig Rechte einfordern können. Denn wenn es danach ginge, würde jeder Beteiligte einer politischen Hinterzimmervereinbarung, jeder Parteivorstand, jeder Pharmakonzern, der seine Praktiken lieber verschleiern möchte, auch jede Konzernzentrale darauf pochen wollen, dass ihre Person, ihre Institution, ihre Gruppe ein Recht darauf habe, von der wissenschaftlichen Untersuchung ausgenommen zu werden. Und überhaupt: Warum sollten zivilgesellschaftliche und politische Eliten sowie Akteure, die in der Öffentlichkeit agieren oder deren Handeln womöglich maßgeblichen gesellschaftlichen Werten und Praktiken zuwiderläuft, nicht beforscht werden? Warum sollte jemand das Recht haben, sich der öffentlichen Auseinandersetzung und kritischen Betrachtung zu entziehen? Unter den entsprechenden Voraussetzungen – eben keine einzelnen Personen an den Pranger zu stellen, den Forschungsprozess transparent und nachvollziehbar zu gestalten, die Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung verantwortungsbewusst umzusetzen – darf, so meinen wir, nichts der Kritik entzogen werden, ist nichts sakrosankt.

Mit dem Dogma, dass Forschung lediglich mit einer informierten und aktiven Einwilligung der Befragten durchführbar sei, verunmöglicht man in weiten Teilen Forschung über Gesellschaft. Wie soll zum Beispiel das informierte Einverständnis von Hooligans eingeholt werden, deren Verhalten man während eines Fußballspiels erforschen möchte? Wie sollen bei einer Massenveranstaltung, deren Formationen, Symbole und Rituale man untersucht, die Anwesenden über das Projekt informiert und deren Einwilligung erlangt werden? Wer soll bspw. bei einer nüchternen organisationssoziologischen Untersuchung einer Partei die Zustimmung des Parteivorstandes, der Mitglieder etc. beschaffen? Was ist mit der Untersuchung von Lebensläufen oder Gruppenbiografien Verstorbener? Biografien über Karl Marx oder Wilhelm II., Martin Luther oder Jeanne D’Arc wären perdu, da ein post festum eingeholtes Einverständnis nicht vorliegt. Diese Aufzählung zeigt überdeutlich die Absurdität des Dogmas auf, welches strikt angewendet die Genese von Wissen einschränken würde. Überdies befördert eine solche Argumentation das Eindringen von »Nutzen« und »Risiko« in den Forschungsprozess, ist reduktionistisch und epistemologisch problematisch.

Und schließlich muss – freilich argumentativ auf einer anderen Ebene – angemerkt werden: In Zeiten, in denen (nicht nur) linke Aktivisten verstärkt das Internet und soziale Medien nutzen, um ihre Standpunkte zu verbreiten, über Termine zu informieren, aber vor allem um ihre Aktionen zu dokumentieren, mit denen wiederum neue Anhänger gewonnen werden sollen, ist die Angst vor dem analog agierenden Forscher schon etwas possierlich. Denn im Netz löst sich die so vehement eingeforderte Anonymität ohnehin zunehmend auf. IP-Adressen und Standortdaten machen eine Nutzer- und Anwenderidentifizierung so leicht wie nie und selbst Entpixelungen von Bildern und Videos sind auf dem heimischen PC für technische Laien kein Hexenwerk mehr. Wer sich dem Internet andient bzw. sich Facebook und Twitter als Transformationsmedium bedient, braucht sich vor Forschern nicht zu fürchten. Immerhin sind wir nicht nur an rechtliche Regelungen gebunden, sondern speichern die (wohlgemerkt analog gesammelten) Daten auf heimischen Forschungsservern und nicht in Irland oder anderen nahezu rechtsfreien Räumen.

Oft entstehen die Probleme jedoch nicht bei der Datenerhebung, sondern bei der Publikation der Forschungsergebnisse, insbesondere dann, wenn kleinräumige Einheiten erkundet wurden. In diesem Zusammenhang kollidiert die Forderung nach Transparenz und Nachprüfbarkeit – die selbstverständlich immer wieder zu Recht an die Wissenschaft gestellt wird – mit dem Recht auf Anonymisierung sowie dem Schutz der Privatsphäre der Betroffenen. Dem soll mit einem reflexivem Prozess zwischen Forschern und Forschungspartnern begegnet werden, das heißt, dass die Ergebnisse der Forschung an die beforschten Partner zurückgespielt werden und der Forscher offen für Kritik, Ergänzungen oder Ähnliches durch die Forschungspartner ist. Genau dies ist ein Anliegen der Forschungsstelle in der Forschungstradition des Göttinger Institutes für Demokratieforschung. Eines unserer Gründungsanliegen war und bleibt die Öffnung hin zur interessierten Öffentlichkeit, der die Ergebnisse nicht nur in einer handhabbaren Form jenseits des Fachaufsatzes vermittelt, sondern die insbesondere in die Diskussion der Ergebnisse einbezogen werden soll. Dieser Prozess ermöglicht den Forschungspartnern bzw. den Akteuren im beforschten Feld schließlich deutlich weitergehende Mitsprachemöglichkeiten als die reflexhafte Bezugnahme auf die »Ethik-Kodizes«.

Schließlich sind diese Regelungen, die durch sogenannte Ethik-Kommissionen festgelegt werden, auch immer ein Machtinstrument, das bestehende Herrschaftsprozesse und Machtgleichgewichte absichert, ja: Wissenschaft reguliert. Etablierte Professoren und andere Interessengruppen (und diese vertreten oftmals – wie das Beispiel der Stammzellenforschung zeigt – handfeste Lobbyinteressen) beraten hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der randständigen Einbeziehung des akademischen Mittelbaus über Standards und Methoden des Fachs. So weitet das innerhalb der Wissenschaft agierende Kontrollorgan seine Macht beständig aus – nicht nur, weil solche Kommissionen als Stabsstellen an beinahe allen Universitäten etabliert werden, sondern weil Veröffentlichungen in (internationalen) Zeitschriften oder die Einwerbung von Drittmitteln mehr und mehr an die Zertifizierung einer »ethischen« Lauterbarkeit gebunden werden. Diese Prozesse der Institutionalisierung und Formalisierung stehen einem individuellen und verantwortungsbewussten Reflexionsprozess der Wissenschaftler jedoch eher im Wege, als ihn zu ermöglichen.

Zuletzt: Die Diskussion innerhalb der Fachöffentlichkeit über die Frage der »Ethik-Kodizes« verläuft überdies keinesfalls so eindeutig, wie es die oben zitierten A.L.I.-Autoren suggerieren. Insbesondere qualitativ arbeitende Forscher kritisieren die Nicht-Anwendbarkeit für ihren Forschungsprozess, da hier Standards und Formate der quantitativen Forschung den qualitativen Zugängen übergestülpt und diese somit erheblich erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht werden. So ist bspw. gerade das theoretical sampling – also wenn sich das Forschungsdesign im Prozess verändert – mit der informierten Einwilligung keinesfalls zu vereinbaren.

Doch bleiben all dies für uns eher theoretische Erwägungen, denn, nochmal: Wir sind gar nicht an personenbezogenen Daten interessiert, sondern an der Erforschung von Diskursen, Deutungsmustern und Handlungen im öffentlichen Raum. Das Sprechen mit Akteuren, die Analyse von produzierten Texten, Bildern, Videos oder Ähnlichem ist nicht das Gleiche, wie jemanden zu überwachen oder zu bespitzeln. Überdies – und das soll provokativ am Ende angemerkt werden: Wenn es keine durch die Wissenschaftsgemeinschaft und Öffentlichkeit kontrollierte Forschung gibt, die über Linke Militanz, die extreme Rechte oder religiös motivierte Gewalt in der Bundesrepublik Wissen produziert, heißt das nicht, dass niemand über diese Gruppen berichten würde. Journalisten, Akteure aus den Zusammenhängen zum Zwecke der Selbstvermarktung, Agenten und V-Männer des Staats- und Verfassungsschutzes – sie alle stellen Wissen oder Informationen bereit, erzählen Geschichten oder verbreiten (Fake) News in einer interessengeleiteten, intransparenten und motivational nicht nachvollziehbaren Weise. Auch wenn wir als Forschende keinesfalls behaupten wollen, völlig »neutral« und »objektiv« zu arbeiten, so sind unsere Prinzipien, Beispiele und Argumentationsstränge doch einsehbar, nachvollziehbar und öffentlich kritisierbar. Gerade weil wir nach einer (nicht nach der) »Wahrheit« streben, indem wir Deutungen anbieten, Fragen und Thesen formulieren, schaffen wir zwar keine unumstößlichen »Fakten«, bieten aber doch Orientierung. In Zeiten, in denen die »Krise der Demokratie« beschworen wird, ist nicht nur unsere Forschung über »demokratiegefährdende« Bestrebungen umso wichtiger, sondern auch ein selbstbewusstes Eintreten für die eigenen Forschungsansätze und Methoden und eine konstruktive und nicht polemische Diskussion ihrer Grenzen. Wer im theoretischen Elfenbeinturm verbleibt, mag unangreifbarer sein, aber in manchen Forschungsfeldern umso weiter von gesellschaftsrelevanten Erkenntnissen entfernt.

[1] Vgl. exemplarisch: Volpers, Simon/Wiedener, Rune: Wissenschaftliche Neubetrachtung des Extremismusbegriffs, in: Neues Deutschland Online, 22.02.2017, URL: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1042563.wissenschaftliche-neubetrachtung-des-extremismusbegriffs.html [eingesehen am 03.03.2018]; o. V.: Limo-Broschüre: Tatvorwurf: gemeinschaftlich begangene Politische Verfolgung gegen Links, URL: https://www.inventati.org/ali/pictures/2017/solidaritaet/limo-kampagne/broschure/limo-broschure-web.pdf [eingesehen am 14.02.2018]; Pressemitteilung des Allgemeinen Studierendenausschusses, Universität Göttingen: Verfassungsschutz und Wissenschaft – ein Kommentar, 17.02.2017, URL: https://asta.uni-goettingen.de/wp-content/uploads/2017/02/2017_02_17-Verfassungschutz-und-Wissenschaft.pdf [eingesehen am 14.02.2018].

[2] O. V.: Limo-Broschüre: Tatvorwurf: gemeinschaftlich begangene Politische Verfolgung gegen Links, URL: https://www.inventati.org/ali/pictures/2017/solidaritaet/limo-kampagne/broschure/limo-broschure-web.pdf [eingesehen am 14.02.2018].

[3] Vgl. Maio, Giovanni: Medizinhistorische Überlegungen zur Medizinethik 1900–1950: Das Humanexperiment in Frankreich und Deutschland, in: Frewert, Andreas/Neumann, Josef N. (Hrsg.): Medizingeschichte und Medizinethik. Kontroversen und Begründungsansätze 1990–1950, Frankfurt a. M. 2001, S. 374–382.

[4] Ebd., S. 382.

[5] Stand Juni 2017. URL: http://www.soziologie.de/fileadmin/user_upload/ DGS_Redaktion_BE_FM/DGSallgemein/Ethik-Kodex_2017-06-10.pdf [eingesehen am 14.02.2018]

[6] Vgl. hierzu Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) §3, Satz 1.

[7] Vgl. Trittel, Katharina u.a.: Demokratie-Dialog. Die Arbeit des Instituts für Demokratieforschung im Rahmen der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen, in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2017), H. 1, S. 2–9.

[8] Die Seite www.fodex-online.de befindet sich noch im Aufbau.