Die Diagnose, der zufolge die islamische Welt in einer Krise steckt, ist nicht neu. Nicht wenige Autor*innen haben sich daran versucht, deren Ursachen zu analysieren. Bernard Lewis legte 2002 kurz nach dem 11. September 2001 sein Buch »What went wrong?« (deutscher Titel: »Der Untergang des Morgenlandes«) vor, in dem er erklärte, dass für einen Beobachter, der »in Theorie und Praxis westlicher Freiheit geschult« sei, »viele der Schwierigkeiten der islamischen Welt auf […] diesen Mangel an Freiheit zurückzuführen«[1] seien, und meinte damit die Freiheit in den Sphären der Forschung, der Wirtschaft und der Politik. Die Verknüpfung politischer und religiöser Macht sei allerdings schon in der Entstehungszeit des Islam angelegt – Mohammed sei »sein eigener Konstantin«[2] gewesen. Muslim*innen (und Jüd*innen) sollten erwägen, die ursprünglich christliche Idee der Säkularisierung zu übernehmen, um die klerikale Macht zugunsten der Freiheit einzudämmen.[3]

Dan Diner verwies in seinem geschichtsphilosophischen Werk »Versiegelte Zeit – Über den Stillstand in der islamischen Welt« von 2005 darauf, dass der islamisch geprägten Welt über Jahrhunderte die Wirkung des Buchdruckes fehlte, dessen Ausbreitung über Jahrhunderte aus religiösen Gründen verhindert wurde. Nur im Westen habe er seit Beginn der Neuzeit das sakrale Wort einerseits ubiquitär verfügbar gemacht, aber andererseits durch dessen persönliche Aneignung die »Individualisierung des Verhältnisses zu Gott« ermöglicht, »die Kirche mit Vorstellungen von einer beschleunigten Zeit« ausgesöhnt und so seine Wirkung »als trojanisches Pferd der Moderne«[4] entfaltet. Vor allem aber fehle in der islamischen Zivilisation die Vorstellung, dass die Geschichte der Welt auf ein »Telos« zulaufe und Fortschritt möglich sei.[5] Für Muslim*innen stehe anstelle der Geschichte das Gesetz »im Zentrum allen Trachtens und Handelns«, und dessen »peinliche Einhaltung« halte die Zeit gewissermaßen auf und verhindere einen Fortschrittsgedanken, da stattdessen stets die Vergangenheit, in der vermeintlich das Gesetz vollständig eingehalten worden sei, als Fixpunkt gemeinschaftlichen Strebens stehe.[6]

Buchcover von Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, C.H. Beck 2020
Abbildung 1. Koopmans, Ruud: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020. Mit freundlicher Genehmigung des C. H. Beck Verlags.
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Dieser Diskurs ließe sich leicht als westliche Elfenbeinturm-Debatte abtun. Doch auch in islamisch geprägten Ländern selbst wird die Lage der eigenen Gesellschaften oft als krisenhaft empfunden und die Krise lässt sich auch empirisch belegen. So gibt es in der Rangliste der fünfzehn leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt mit Indonesien (Platz 15) nur ein einziges Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung.[7] Während das Durchschnittseinkommen mehrheitlich muslimischer Länder 1970 66 Prozent des Niveaus betrug, das damals die Staaten mit nicht-muslimischer Mehrheitsbevölkerung erreichten, erreichten islamisch geprägte Staaten 2015 nur noch 47 Prozent des Niveaus der Vergleichsgruppe.[8] Im Fragile State Index hingegen, der die politische Instabilität verschiedener Staaten misst, werden die drei ersten Plätze mit Jemen, Somalia und Syrien von muslimisch geprägten Ländern eingenommen.[9] Das ist kein Ausreißer: 2015 fanden 16 der 30 weltweit geführten bewaffneten Konflikte in mehrheitlich islamisch geprägten Ländern statt (S. 130).

Seit 2020 liegt in deutscher Übersetzung Ruud Koopmans’ Analyse der Krise der islamischen Welt vor, die sich für ihn in ihrem Demokratiedefizit (Kap. 2), den herrschenden Einschränkungen der Menschenrechte (Kap. 3), der steigenden Zahl an religiös motivierten Kriegen, bewaffneten Konflikten und Terroranschlägen (Kap. 4) sowie der insgesamt stagnierenden Entwicklung ihrer Wirtschaft zeigt (Kap. 5). Aber auch die Probleme bei der Integration muslimischer Einwanderer*innen in westlichen Gesellschaften sind seiner Auffassung nach mit den Problemen der islamischen Welt verknüpft und werden in seine Analyse einbezogen (Kap. 6).

Was ist Fundamentalismus?

Was aber ist laut Koopmans die Ursache dieser Probleme? Der Autor positioniert sich zwischen zwei von ihm skizzierten Extrempositionen, die beide eine »Essenz« des Islam und seiner Quellen ausmachten. Beide gingen davon aus, dass die Religion entweder inhärent »intolerant und gewalttätig« und damit für die Krise verantwortlich oder im Gegenteil »tolerant und friedlich« (S. 228) sei und deshalb mit der gegenwärtigen Krise nichts zu tun habe. Es sei müßig, theologische Debatten zu führen und der Frage nach dem »wahren« Islam nachzugehen, da die Quellen des Islam – ebenso wie die des Christentums – unterschiedlich interpretierbar seien und historisch gleichermaßen für die Legitimation von »Wohl- und Gräueltaten« herangezogen worden seien (S. 45). Vielmehr müsse dem »real existierenden Islam« (S. 45) und dessen Wirkungen nachgegangen werden, also den Interpretationen, die in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich wirkmächtig gewesen seien. Diese Überlegungen führen ihn zu der These, dass der Durchbruch des islamischen Fundamentalismus seit den 1970er Jahren der Hauptgrund für die Rückständigkeit der islamischen Welt sei. Vor allem von den beiden autoritären Regimen Iran und Saudi-Arabien sei – dank ihrer Einnahmen aus den Ölverkäufen – der religiöse Fundamentalismus in den letzten Jahrzehnten unter Muslim*innen weltweit verbreitet worden (S. 30), wodurch er sich auch in anderen islamischen Ländern zur hegemonialen religiösen Bewegung habe ausbreiten können.

Unklar bleibt jedoch, was genau Koopmans unter Fundamentalismus versteht und wie genau er diese Strömung von anderen Formen der Religion abgrenzt. Allerdings findet sich im Buch durchaus ein Definitionsversuch. So verweist der Autor auf die kanadischen Psychologen Altemeyer und Hunsberger, die den Begriff wie folgt definieren: »By ‹fundamentalism’ we mean the belief that there is one set of religious teachings that clearly contains the fundamental, basic, intrinsic, essential, inerrant truth about humanity and deity; that this essential truth is fundamentally opposed by forces of evil which must be vigorously fought; that this truth must be followed today according to the fundamental, unchangeable practices of the past; and that those who believe and follow these fundamental teachings have a special relationship with the deity.”[10]

Für Koopmans ist klar, dass nicht alle traditionellen Gläubigen fundamentalistisch sind, da Fundamentalist*innen auch bestimmte religiöse Traditionen – wie etwa die unter manchen Muslim*innen verbreitete Heiligenverehrung – ablehnten. »Auch die strikte Einhaltung der [tradierten, Anm. d. Verf.] Regeln einer Religion, zum Beispiel in Bezug auf Bekleidungs- und Ernährungsvorschriften« sei zunächst eine »Orthodoxie« und werde »erst dann fundamentalistisch, wenn die eigene Auffassung der Religion als die einzig wahre und zulässige angesehen wird, die anderen auferlegt werden kann« (S. 34). Doch diese – vermeintliche – Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Fundamentalismus überzeugt nicht, da eine Orthodoxie sich gerade dadurch definiert, dass nur ein bestimmter Satz von Lehren als die einzig wahren religiösen Auffassungen verstanden werden. Das gilt selbst dann, wenn innerhalb einer orthodoxen Tradition zumindest bei Detailfragen ein gewisser Pluralismus akzeptierter Varianten herrscht, was sich etwa im Nebeneinander der vier kanonischen Rechtsschulen innerhalb des orthodoxen sunnitischen Islam zeigt. Da in der islamischen Geschichte politische und religiöse Macht zumeist eng verschränkt waren, wurden mitunter orthodoxe Interpretationen des Islam auch Menschen auferlegt, die die diesen zugrundeliegenden Überzeugungen nicht teilten. So waren etwa im Osmanischen Reich auch Alevit*innen der hanafitischen sunnitischen Rechtsprechung unterworfen, da sie vom Staat nicht als eigene Religionsgemeinschaft anerkannt wurden. Gleichzeitig waren jüdische und christliche Minderheiten zwar gegenüber der Mehrheit benachteiligt, aber offiziell als Gemeinschaften akzeptiert und konnten in bestimmten Bereichen, etwa Familien- und Erbangelegenheiten, ihren eigenen Gesetzen folgen. Die islamische Orthodoxie konnte somit einerseits gegenüber bestimmten Andersgläubigen Toleranz walten lassen, setzte aber die eigene Auffassung gegenüber Anhänger*innen heterodoxer Strömungen des Islam bzw. aus dem Islam hervorgegangene Glaubensgemeinschaften durch, da sie durch die religiöse Nähe als Bedrohung für die Integrität des sunnitischen Islam wahrgenommen wurden. Die von Koopmans vorgenommene Abgrenzung zwischen Orthodoxie und Fundamentalismus bleibt somit unklar – dies ist eine zentrale konzeptionelle Schwäche des Buches.[11]

An manchen Stellen verwischt die bereits schwache Unterscheidung zusätzlich, da Koopmans mit »Fundamentalismus« tatsächlich den orthodoxen Islam zu meinen scheint. So fordert er etwa zur Überwindung des Fundamentalismus eine »Reformbewegung«, die »sich ohne Wenn und Aber von der fundamentalistischen Idee distanziert, der Koran enthalte die wortwörtliche Willensäußerung Gottes, die unabhängig von Zeit und Ort zu befolgen ist« (S. 250). Tatsächlich aber ist die Idee, dass der Koran das seit Anbeginn der Zeiten existierende unveränderliche (und Willensbekundungen enthaltende) Wort Gottes ist, keine neue Idee fundamentalistischer Bewegungen der letzten Jahrzehnte, sondern eine seit dem Mittelalter verankerte Glaubenslehre des sunnitischen Islam, die von der großen Mehrheit von dessen Anhänger*innen geteilt wird. Freilich unterscheidet die islamische Jurisprudenz durchaus zwischen an Zeit und Orte gebundenen Geboten und solchen, die unabhängig vom zeitlichen und lokalen Kontext Gültigkeit beanspruchen können.[12] Koopmans plädiert für die Anerkennung des »Prinzip[s] der Trennung von Religion und Staat«, um eine Distanzierung vom Fundamentalismus zu erreichen. Der Islam dürfe »niemals die Grundlage für ein Rechtssystem bilden, auch nicht in Ländern, in denen Muslime die Mehrheit stellen« (ebd.). Es sei hier festgehalten, dass die Rechtsprechung in der islamischen Welt seit dem Mittelalter an Koran und Sunna, die ursprünglich mündliche Überlieferung vom Propheten Mohammed, rückgebunden war und bis heute zumindest das Familien- und Erbrecht in fast allen mehrheitlich islamischen Ländern (mit Ausnahme vor allem der Türkei) auf diesen Quellen fußt; Gleiches gilt für das staatlich anerkannte Familien- und Erbrecht der muslimischen Minderheiten in Indien und Israel. Wer wie Koopmans die vollständige Säkularisierung des Rechts und der Trennung von Religion und Staat fordert, sollte sich somit im Klaren sein, dass dies einen Bruch mit oder zumindest eine erhebliche Modifikation der orthodoxen Tradition des Islam bedeutet.

An anderen Textstellen wiederum verweist Koopmans mit dem Begriff des Fundamentalismus auf verschiedene Strömungen des politischen Islam, wenn er etwa auf die bis 2013 in Ägypten unter Führung Muḥammad Mursīs amtierende »Regierung der […] fundamentalistischen Muslimbruderschaft« (S. 35) Bezug nimmt oder die islamische Revolution im Iran als eines der entscheidenden Ereignisse benennt, die es rechtfertigen, 1979 als »das Jahr des Durchbruchs des islamischen Fundamentalismus« (S. 23) zu bezeichnen. Diese Strömungen bewegen sich zwar im weiteren Spektrum des orthodoxen Islam, da auch sie die Verbindlichkeit der in Koran und Sunna enthaltenen Normen anerkennen. Sie sind jedoch eindeutig moderne Phänomene, da sie in Auseinandersetzung mit modernen westlichen Ideologien entstanden sind. Sie brachten einerseits neue politische Ideen in Umlauf. Dies gilt etwa für den iranischen Ayatollah Rūḥollāh Ḫomeinī (1902–1989), der das bis dahin im schiitischen Islam unbekannte Konzept der »Welāyat-e Faqih«, der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten, formulierte. Mit diesem sicherte sich der schiitische Klerus unter der Führung von Ḫomeinī, der von 1979 bis 1989 iranisches Staatsoberhaupt war, eine Oberaufsicht über die staatliche Gewalt. Andererseits wurde von anderen Vertretern des politischen Islam wie Sayyid Quṭb, dem Vordenker der Muslimbrüder, der Anspruch erhoben, aus dem Islam ein vollständiges politisches System herauslesen zu können, das eine Alternative zu säkularen Ordnungssystemen wie denen des Liberalismus und des Kommunismus darstelle.

Der orthodoxe Islam und der moderne politische Islam sollten somit unserer Auffassung nach begrifflich klar voneinander getrennt werden. Überhaupt fehlt dem Koopmans’schen Fundamentalismus-Begriff die analytische Schärfe: So versteht Koopmans nicht nur die ehemalige ägyptische Regierung unter Mursī oder die türkische AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan als Vertreter eines sunnitischen Fundamentalismus, sondern ebenso die heute mit den Muslimbrüdern und der Türkei verfeindeten Monarchien Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (S. 167). Ein so breites Begriffsverständnis wirft mehr Fragen auf, als dass es hilft, die Entwicklungen der islamischen Welt in den letzten Jahrzehnten einzuordnen. Zudem suggeriert der Terminus etwas Statisches und lässt dabei außer Acht, dass sowohl Parteien aus dem Spektrum des politischen Islam als auch die Golfmonarchien zu beachtlichen policy changes in der Lage sind: So akzeptierte die tunesische Nahḍa-Partei, die eine ideologische Verwandtschaft zur Muslimbruderschaft aufweist, 2017 in einer Koalitionsregierung eine Änderung des Eherechts, die Musliminnen das Recht zur Eheschließung mit jüdischen und christlichen Männern gab – obwohl der Koran nur muslimischen Männern expressis verbis das Recht zur Eheschließung mit Jüdinnen und Christinnen zuspricht.[13] Und die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain nahmen 2020 im Rahmen der »Abraham Accords« diplomatische Beziehungen mit Israel auf (freilich nach der Drucklegung von Koopmans’ Buch). Dass die Außenpolitik der Golfmonarchien einer rigiden Lektüre islamischer Quellen geschuldet ist, dürften heute wohl weder deren Gegner*innen noch deren Apologet*innen behaupten.

Der Blick auf die Empirie

Liest man Koopmans Buch in erster Linie als einen Zustandsbericht über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse islamisch geprägter Länder, ist sein Werk jedoch zu loben, da er den gegenwärtigen krisenhaften Zustand muslimisch geprägter Länder materialreich – auch anhand eigener Erhebungen – plausibel belegen kann. So referiert Koopmans etwa die Inhalte der »Freedom in the World«-Berichte der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House. Demnach breitete sich die Demokratie in den letzten Jahrzehnten global gesehen aus – die Zahl der Diktaturen sank von 62 auf 47, während die Zahl der Demokratien von 43 auf 87 stieg. Unter mehrheitlich muslimischen Ländern seien zu Beginn der 1970er Jahre noch vier Staaten als demokratisch klassifiziert worden, 2018 aber nur noch zwei, obwohl sich im selben Zeitraum die Gesamtzahl unabhängiger mehrheitlich muslimischer Staaten von 36 auf 47 vergrößert habe (S. 62).
Um die Auswirkungen des islamischen Fundamentalismus auf die Demokratie genauer zu betrachten, wählt der Autor das kontrastive Fallbeispiel zweier Inselstaaten im Indischen Ozean (S. 57–59). Er nimmt auf der einen Seite die Malediven in den Blick, deren Staatsreligion der Islam ist. Auf der anderen Seite betrachtet er Mauritius, dessen Bevölkerung mehrheitlich hinduistischen Glaubens ist, das aber auch große christliche und muslimische Minderheiten hat, die gesellschaftlich akzeptiert sind. So stand mit Ameenah Gurib-Fakim 2015–2018 eine Muslimin als Präsidentin an der Spitze des Staates. Beide Länder bieten sich laut Koopmans für einen Vergleich an, da sie eine ähnliche koloniale Vorgeschichte aufweisen – beide Staaten lösten sich 1965 (Malediven) bzw. 1968 (Mauritius) von britischer Herrschaft –, ein ähnlich hohes Bruttosozialprodukt haben und gleichermaßen stark auf den Tourismus angewiesen sind. Doch die politische Entwicklung verlief sehr unterschiedlich: Während sich auf Mauritius die Demokratie seither gut entwickelte und als stabil gilt, bestand die Demokratie auf den Malediven nur kurz. Stattdessen regierte Maumoon Abdul Gayoom das Inselreich von 1978 bis 2008 autoritär, zudem ist der sunnitische Islam Staatsreligion und die öffentliche Ausübung jeglicher anderer Religionen verboten. Allerdings begründet Koopmans nicht, inwiefern die vollständige Verwehrung der Religionsfreiheit für Nicht-Muslim*innen als Auswirkung des Fundamentalismus verstanden werden kann. Ein Verbot, die jüdische oder christliche Religion zu praktizieren, gehört für gewöhnlich nicht zu den Forderungen von Bewegungen aus dem Spektrum des politischen Islam, und die – begrenzte – Duldung jüdischer und christlicher Minderheiten war trotz einiger Episoden der Verfolgung in vielen Regionen der islamisch geprägten Welt jahrhundertelang bestehende Praxis. Die (vor-)koloniale politische Geschichte, die sich auch auf den heutigen Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auswirken kann, wird von Koopmans kaum in die Analyse einbezogen: So wurde Mauritius erst im Zuge der europäischen Kolonisierung im 17. Jahrhundert besiedelt. Die Malediven hingegen sind bereits seit der Antike bewohnt und wurden im 12. Jahrhundert islamisiert – der Versuch der vormaligen portugiesischen Kolonialmacht im 16. Jahrhundert, das Land zu christianisieren, ist im nationalen Gedächtnis des Inselstaates verankert. Es ist plausibler, die Ursachen für die Restriktionen des Christentums in der maledivischen Geschichte zu suchen als im Fundamentalismus. Auch Koopmans Behauptung, Mali und Indonesien, die von Freedom House in den 2000er Jahren noch als Demokratien geführt wurden, hätten sich »unter dem Einfluss fundamentalistischer Bewegungen […] in eine autoritäre Richtung bewegt« (S. 62 f.), ist zumindest unterkomplex. Zwar spielen radikalislamische Akteure in beiden Ländern eine Rolle, die einer demokratischen Entwicklung abträglich ist. Allerdings wurde die malische Demokratie 2012 durch putschende Soldaten außer Kraft gesetzt, die nicht durch den Fundamentalismus motiviert waren, sondern gegen die vermeintlich mangelhafte Bekämpfung eines Aufstandes im Norden des Landes revoltierten. Indonesien hingegen gilt bis heute als elektorale Demokratie. Deren Rechtsstaatlichkeit ist freilich eingeschränkt, aber nicht nur durch von radikalislamischer Seite vorangetriebene Blasphemie-Gesetze, sondern auch durch die endemische Korruption im Land.

In den Folgekapiteln zeigt Koopmans empirisch fundiert auf, dass die Menschenrechte in islamisch geprägten Ländern durchschnittlich stärker eingeschränkt werden als in anderen Teilen der Welt und die bewaffneten Konflikte und Terroranschläge dort in den letzten Jahrzehnten stark zunahmen. So fand 2015 – anders als in den 1990er Jahren – die Mehrzahl bewaffneter Konflikte weltweit in islamisch geprägten Ländern statt (S. 130). Doch angesichts seines schwammigen Fundamentalismus-Begriffs, der Vielzahl der berücksichtigen Länder und der Untersuchung sehr unterschiedlicher Entwicklungen gelingt es Koopmans nicht, überzeugend zu belegen, dass der Fundamentalismus die primäre Ursache aller von ihm betrachteten Probleme ist. Plausibler ist es, für diese Entwicklungen ein ganzes Bündel von Ursachen anzunehmen. So dürfte die fehlende demokratische Entwicklung zur Verbreitung von Menschenrechtsverletzungen, politischer Gewalt und ökonomischer Stagnation beitragen – auch Koopmans sieht hier einen Zusammenhang. Noch fragwürdiger ist aber der Versuch Koopmans’, seine Analyse auf Aspekte der Migration in Europa und damit auf das Feld seiner eigentlichen Expertise auszuweiten. So will er auch verschiedenste Integrationsdefizite muslimischer Einwanderer*innen im Westen primär auf den Fundamentalismus zurückzuführen. Als ein Beispiel nennt er die mangelnde Inklusion in den Arbeitsmarkt. Die im Mikrozensus 2009 (S. 197) festgestellte sehr niedrige Beschäftigungsquote türkischstämmiger Frauen zwischen 15 und 65 Jahren in Deutschland (38 Prozent), mag tatsächlich zu einem nicht unwesentlichen Teil auf eine konservative Islaminterpretation zurückgehen, die Erwerbsarbeit von Frauen kritisch sieht. Dass diese auch bei türkischstämmigen Männern dieser Altersgruppe niedriger war (sie lag bei 49 Prozent) als bei den Männern anderer Bevölkerungsgruppen (ebd.), dürfte eher mit dem Abbau von Industriearbeitsplätzen zusammenhängen, für die türkischstämmige Männer einst angeworben wurden, als dass deren fundamentalistische Islam-Interpretationen sie von Bildungserfolgen und der Beteiligung am Arbeitsmarkt abhalten würden.

Auch wenn sich der Autor selbst von undifferenzierten Sichtweisen abgrenzt, die eine Essenz des Islam für alle im Buch behandelten Probleme verantwortlich machen, gelingt es ihm nicht immer, die Distanz zu polemischen Positionen zu wahren. Das gilt vor allem für seine Behauptung, »dass Frauen in den meisten islamischen Staaten einen Status als Bürger zweiter Klasse haben, der in der jüngeren Geschichte nur mit dem der Schwarzen unter dem südafrikanischen Apartheidsregime vergleichbar ist« (S. 101). Hier fehlt jede Differenzierung zwischen einem Regime wie dem des Iran, das Frauen dem Zwang zum Tragen des Kopftuchs unterwirft, und den Verhältnissen etwa in der Türkei, in der bis heute trotz aller Rechtsstaatsdefizite säkulares Recht herrscht und viele Frauen das Kopftuch aus religiöser Überzeugung tragen, wenn auch die Erwartungen ihres Umfeldes sicher häufiger eine Rolle spielen. Koopmans’ Gleichsetzung des Status muslimischer Frauen »in den meisten islamischen Staaten« mit der gewaltsamen Unterdrückung schwarzer Menschen in Südafrika vor 1994 und sein kaum verklausulierter Wunsch nach Boykotten gegen eine nicht genau eingegrenzte Zahl islamisch geprägter Staaten – wie einst gegen das frühere Regime der Bur*innen – verlassen den Boden rationaler Kritik des Islam. Sie können sogar geeignet sein, Muslim*innenfeindlichkeit Vorschub zu leisten.

Fazit

Zusammengefasst gelingt es dem Autor trotz der Schwächen des Buches, unter Zuhilfenahme verschiedener Studien ein umfassendes Bild über die multiplen Krisen der islamisch geprägten Welt zu schaffen. Dennoch erweist sich sein Werk in mancher Hinsicht als recht eindimensional, da Koopmans von vornherein davon ausgeht, dass es für alle von ihm untersuchten Defizite eine Hauptursache, den islamischen Fundamentalismus, zu finden gilt, weshalb er multifaktorielle Kausalitäten nicht ernsthaft prüft. Vor allem bleibt sein Fundamentalismusbegriff zu undeutlich, sodass offenbleibt, ob es für Koopmans jenseits eines liberalen Islam überhaupt eine nicht-fundamentalistische Variante der muslimischen Religion geben kann. Wer nicht nur einen Überblick über verschiedene vordringliche Probleme islamisch geprägter Länder erhalten will, sondern deren Ursachen vertieft und differenziert nachgehen möchte, sollte sich mit weiteren Untersuchungen zu der Thematik beschäftigen.[14]

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Literatur:
Altemeyer, Bob/Hunsberger, Bruce: Authoritarianism, religious fundamentalism, quest, and prejudice, in: International Journal for the Psychology of Religion, Jg. 2 (1992), H. 2, S. 113–133.

Bayat, Asef: Making Islam Democratic: Social Movements and the Post-Islamist Turn, Stanford 2007.

Demiralp, Seda: Lovers win, as love loses: Changes to interfaith marriage law in Tunisia, in: Hürriyet Daily News, 07.12.2017, URL: https://www.hurriyetdailynews.com/opinion/seda-demiralp/lovers-win-as-love-loses-changes-to-interfaith-marriage-law-in-tunisia-123698 [eingesehen am 09.02.2022].

Diner, Dan: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005.

El-Wereny, Mahmud: Normenlehre des Zusammenlebens. Religiöse Normenfindung für Muslime des Westens, Berlin 2018.

Global PEO Services (Hrsg.): Top 15 Countries by GDP in 2022, ohne Datum, URL: https://globalpeoservices.com/top-15-countries-by-gdp-in-2022/ [eingesehen am 22.02.2022].

Koopmans, Ruud: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020.

Lewis, Bernard: Der Untergang des Morgenlandes, Bergisch Gladbach 2002.

Lewis, Bernard: The Political Language of Islam, Chicago 1988.

Marty, Martin E./Appleby, R. Scott: The Fundamentalism Project, Chicago 1991–1995.

The Fund for Peace (Hrsg.): Fragile State Index 2021 – Global Data, ohne Datum, URL: https://fragilestatesindex.org/global-data/ [eingesehen am 22.02.2022].

[1] Lewis, Bernhard: Der Untergang des Morgenlandes, Bergisch Gladbach 2002, S. 231.

[2] Ebd., S. 141.

[3] Ebd., S. 168.

[4] Diner, Dan: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005, S. 125.

[5] Ebd., S. 231.

[6] Ebd., S. 241.

[7] Global PEO Services (Hrsg.): Top 15 Countries by GDP in 2022, ohne Datum, URL: https://globalpeoservices.com/top-15-countries-by-gdp-in-2022/ [eingesehen am 22.02.2022]. Unter den 15 größten Volkwirtschaften findet sich mit Indonesien auf Platz 15 nur ein mehrheitlich muslimisches Land.

[8] Koopmans, Ruud: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020, S. 169 f. Die im Fließtext in Klammern stehenden Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden durchgängig auf Koopmans’ Buch.

[9] The Fund for Peace (Hrsg.): Fragile State Index 2021 – Global Data, ohne Datum, URL: https://fragilestatesindex.org/global-data/ [eingesehen am 22.02.2022].

[10] Altemeyer, Bob/Hunsberger, Bruce: Authoritarianism, religious fundamentalism, quest, and prejudice, in: International Journal for the Psychology of Religion, Jg. 2 (1992), H. 2, S. 113–133, hier S. 118. In der deutschen Fassung von Koopmans Buch wird auch das Zitat in deutscher Übersetzung angeführt (S. 34).

[11] Ob der Fundamentalismus-Begriff überhaupt religionsübergreifend analytisch sinnvoll nutzbar gemacht werden kann, um so verschiedene Phänomene wie das evangelikale Christentum und den politischen Islam zu fassen, kann hier nicht angemessen erörtert werden. Allerdings ist festzustellen, dass der Fundamentalismus-Begriff im akademischen Diskurs des letzten Jahrzehnts vergleichsweise selten religionsübergreifend verwendet wird. Dies war anders in den 1990er Jahren, als der Religionswissenschaftler Martin Marty zusammen mit dem Historiker Scott Appleby das von der American Academy of Arts and Sciences finanzierte fünfbändige »Fundamentalism Project« herausgab. Siehe Marty, Martin E./Appleby, R. Scott: The Fundamentalism Project, Chicago 1991–1995. Bernard Lewis kritisierte, dass der Begriff Fundamentalismus sich ursprünglich auf die (global gesehen minoritären) Strömungen des protestantischen Christentums bezog, denen zufolge der Wortlaut der Bibel unmittelbar auf Gott zurückgeht. Damit grenzten sie sich von liberalen Bibelverständnissen ab. Vergleichbare liberale Interpretationen des Korans existierten im Spektrum des Islam nicht, deshalb seien »all Muslims, in their attitude to the text of the Qurʾān, […] in principle at least fundamentalists« (Lewis, Bernard: The Political Language of Islam, Chicago 1988, S. 117 f. [Kap. 1, Fußnote 3], hier S. 118). Lewis’ Auffassung wollen wir uns hier nicht zu eigen machen, doch ist klar, dass das Verständnis des Koran als wortwörtlich von Gott herabgesandter Text keine Minderheitsposition ist, sondern eine von der großen Mehrheit der sunnitischen Muslim*innen akzeptierte Lehre (s. u.).

[12] Vgl. El-Wereny, Mahmud: Normenlehre des Zusammenlebens. Religiöse Normenfindung für Muslime des Westens, Berlin 2018, S. 139–144.

[13] Demiralp, Seda: Lovers win, as love loses: Changes to interfaith marriage law in Tunisia, in: Hürriyet Daily News, 07.12.2017, URL: https://www.hurriyetdailynews.com/opinion/seda-demiralp/lovers-win-as-love-loses-changes-to-interfaith-marriage-law-in-tunisia-123698 [eingesehen am 09.02.2022].

[14] Siehe hierzu etwa Bayat, Asef: Making Islam Democratic: Social Movements and the Post-Islamist Turn, Stanford 2007.