Einleitung

Sowohl in zahlreichen Berichten des Niedersächsischen Verfassungsschutzes als auch im medialen Diskurs werden Begriffe wie »Salafiyya«, »Salafismus«, »Wahhabismus« und »Islamismus« häufig synonym verwendet und im Bewusstsein der westlichen Gesellschaft nicht selten mit einer gewalttätigen, antiwestlichen Gesinnung gleichgesetzt.[1] So kommt es zu einem nicht immer zutreffenden Verständnis dieser islamischen Religionsbewegungen, die als Bedrohung für eine pluralistische, multireligiöse Gesellschaft eingeschätzt werden. Die Bezeichnungen implizieren jedoch komplexe Phänomene, die ganz unterschiedliche Ideologien, Strukturen und Erscheinungsformen aufweisen; die Übergänge zwischen den einzelnen Konzepten sind fließend.

Zwar teilen radikale und gemäßigte Vertreter dieser Gruppen viele ideologische Grundannahmen; zugleich unterscheiden sie sich jedoch im Hinblick auf ihre Einstellungen zu Demokratie und Menschenrechten sowie in der Frage, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele darstellt. Der vorliegende Beitrag stellt diese Begriffe vor und grenzt sie vor dem Hintergrund folgender Fragen voneinander ab: Unterscheidet sich die »Salafiyya« vom »Salafismus« und der »Salafismus« vom »Islamismus«? Wenn ja, inwiefern? Kann man Salafisten ohne Spezifizierung und nähere Prüfung dem islamistischen Milieu zuordnen?

Salafiyya

Die Bezeichnung salafiyya ist ein arabischer Ausdruck, der auf den Wortstamm salaf zurückgeht. Salaf, soviel wie »Altvorderer« oder »Vorfahren«, bezieht sich auf die sogenannten »rechtschaffenen Altvorderen« (as-salaf aṣ-ṣāliḥ) der ersten drei Generationen islamischer Zeitrechnung, etwa zwischen dem sechsten und dem neunten Jahrhundert n. Chr. Da sie entweder in unmittelbarem Kontakt mit dem Propheten Muḥammad (gest. 632) standen, dessen »Gefährten« (ṣaḥāba), Nachfolger (tābiʿūn) oder Nachfolger der Nachfolger (tābiʿū at-tābiʿīn) sie waren, wird ihr Handeln und Islamverständnis von vielen Muslimen als Idealzustand der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit sowie als zentrale Referenz für Fragen des Lebens angesehen.[2]

Die Begegnung mit der Moderne im Zuge der westlichen Kolonialisierung weiter Teile der muslimischen Welt markiert den entscheidenden Wendepunkt in der Entstehung zahlreicher islamischer Reformbewegungen in nahezu allen islamischen Gebieten um die Wende des 20. Jahrhunderts. Trotz der mannigfaltigen und zum Teil gegensätzlichen Strategien dieser Bewegungen hatten sie ein gemeinsames Anliegen, und zwar, den Islam gegen die Übermacht westlicher Zivilisation zu behaupten und mit der Technologie und weiteren Errungenschaften des Westens zu versöhnen. Reformdenker wie etwa Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) und Muḥammad Rašīd Riḍā (gest. 1935) nahmen an, dass sich die islamische Welt in einer Krise befände: Auf der einen Seite moderne christliche Gesellschaften, geprägt von kulturellem, wissenschaftlichem, technologischem und politischem Fortschritt; auf der anderen Seite islamische Gesellschaften, geprägt von soziopolitischer und wirtschaftlicher Dekadenz und Rückständigkeit. Jene Reformdenker machten nicht den Islam selbst für die vermeintliche Misere verantwortlich. Vielmehr führten sie diese auf dessen vorherrschendes tradiertes Verständnis und verkrustetes Normensystem zurück. Sie monierten die akritische Orientierung am überholten Islamverständnis früherer Autoritäten, lehnten die blinde Übernahme herkömmlicher Rechtsansichten ab und wandten sich stattdessen der »selbstständigen Normenfindung« (iğtihād) zu. Durch rationale Neubetrachtung der islamischen Quellentexte (Koran und die Aussprüche und Handlungen des Propheten Muḥammad – sogenannte Sunna) und unter Rückgriff auf die frühislamische Praxis der Salaf strebten sie eine freiere, der Zeit angepasste Auslegung der koranischen und prophetischen Aussagen an, um den Islam mit der Moderne in Einklang zu bringen. Ihre Rückbesinnung auf die Salaf erklärten sie damit, dass der »reine« und »authentische« Islam Antworten auf alle Fragen und Herausforderungen der Moderne gebe.[3]

Neben der Salafiyya sind viele weitere islamische Bewegungen im 20. Jahrhundert entstanden.[4] Trotz in vielerlei Hinsicht gegensätzlicher Positionen stellt Bernard Haykel, Professor für Nahoststudien, folgende Aspekte als ideologische Gemeinsamkeiten zwischen diesen Massenbewegungen heraus: Der Berührungspunkt aller islamischen Reformbemühungen sei die Frage, weshalb sich Muslime im Vergleich zum Westen in einer Krise befänden. Das Abweichen vom »ursprünglichen, reinen« Islam sei für diese Misere verantwortlich, so die Antwort. Daher werde die Rückkehr zu der für authentisch gehaltenen Form und Lehre der ersten drei Generationen von Muslimen als Lösung für diesen Missstand angestrebt. Dadurch würden die Muslime auf den rechten Weg zurückgebracht und die muslimische Gemeinschaft nähme wieder die ihr zugedachte führende Rolle in der Weltgeschichte ein. Dabei werde insbesondere dem Koran und der Sunna als autoritativen rechtleitenden Quellen für alle Zeiten und an allen Orten eine zentrale Rolle zugesprochen. Zudem werde der Einheitsgedanke mit seinen verschiedenen religiösen und politischen Implikationen mit Nachdruck hervorgehoben. Die Zersplitterung der islamischen Welt in verschiedene Königreiche, Republiken, Sultanate usw. werde als einer der entscheidenden Gründe für den angenommenen Niedergang muslimischer Gesellschaften aufgefasst und daher zur Wiedererrichtung einer »islamischen Einheit« (waḥda islāmiyya) aufgerufen.[5]

Salafismus als Teil der Wahhabiyya-Bewegung

Der Terminus »Salafismus« geht auf das arabische Wort »Salafiyya« zurück. Er wird seit einigen Jahren in Medien und Politik sowie im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs verwendet. Eine saubere Trennung zwischen »Salafismus« und »Salafiyya« wird dabei nicht immer vorgenommen. Beim Salafismus handelt es sich um ein Phänomen, das unterschiedliche Kategorien und Ideologiemerkmale, zugleich aber auch Gemeinsamkeiten mit der Salafiyya aufweist. Zur klaren Differenzierung zwischen der oben dargestellten »modernen« Salafiyya und der »zeitgenössischen« Salafiyya schlägt die Islamwissenschaftlerin Justyna Nedza die Verwendung des Begriffs »Salafismus« als Idealtypus für Letztgenannte vor. Dies begründet sie zu Recht wie folgt: »Der Vorteil eines Idealtypus ist, dass er eine Reinform von ›Salafismus‹ schafft, eine Idealform, in der seine wesentlichen Merkmale festgelegt werden. An dieser Messlatte kann dann gemessen werden, wer – unabhängig der Selbstbezeichnung – ein Vertreter des ›Salafismus‹ ist und wer nicht.«[6]

Wenngleich es in der Geschichte des Islam immer wieder Persönlichkeiten und Bewegungen gab, die den gegenwärtigen Salafismus geprägt haben und gewisse Gemeinsamkeiten bezüglich des Islamverständnisses aufweisen,[7] ist er laut dem Islamwissenschaftler und Terrorismusexperten Guido Steinberg maßgeblich von der Wahhabiyya-Bewegung beeinflusst worden. Die im 18. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel aufgetretene Wahhabiyya, die auf das Wirken des saudischen Predigers Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792) zurückgeht, stellt eine puristisch-traditionalistische Richtung des sunnitischen Islam dar. Im Fokus ihrer Lehre stand vor allem die Einheit Gottes (tauḥīd). ʿAbd al-Wahhāb forderte die Reinigung des Islam von allen »unislamischen Neuerungen« (bidʿa) und erachtete den seinerzeit weitverbreiteten Gräberkult, die Heiligenverehrung sowie die Feier des Prophetengeburtstags als »Vielgötterei« bzw. »Beigesellung Gottes« (širk) – das Gegenteil von tauḥīd. Glaubensauffassungen, die mit den Lehren der Wahhabiyya nicht übereinstimmen, werden von deren Anhängern als unislamisch deklariert. So lehnen die Wahhabiyya-Anhänger beispielsweise den Sufismus sowie viele der schiitischen Glaubenslehrsätze ab.[8]

Theologisch richten sich Anhänger der Wahhabiyya in erster Linie, ähnlich wie die Salafiyya, nach den Lehren des Korans, der Sunna und der Lebensweise der »frommen Altvorderen« (as-salaf as-salih). Sie lehnen die blinde Übernahme tradierter Lehrmeinungen früherer Gelehrter ab und wenden sich den Quellentexten zu, um im Wege der selbstständigen Normenfindung ihre Überzeugungen allein auf Grundlage der autoritativen Texte zu begründen. Dabei wird dennoch, im Gegenteil zur Salafiyya, ein buchstabengetreues Abbild aus der Frühzeit vertreten und unerbittlich versucht, die vermeintlich aus dem Wortlaut des Koran folgenden Gebote in die Tat umzusetzen.[9]

Das wahhabitische Islamverständnis wurde von zeitgenössischen salafistischen Gelehrten und Autoritäten Saudi-Arabiens in unterschiedlicher Ausprägung übernommen. Folgerichtig wird die Wahhabiyya-Bewegung als »die wohl größte Antriebsfeder für den gegenwärtigen Salafismus« erachtet.[10] Während die Anhänger von ʿAbd al-Wahhāb ihre Benennung als Wahhabiiten als abwertende Fremdbezeichnung interpretieren und sich selbst ahl at-tauḥīd (»Leute des Einheitsbekenntnisses«) bzw. al-Muwaḥḥidūn (»Bekenner der Einheit Gottes«) oder einfach ahl as-sunna (»Sunniten«) nennen, werden heutige Salafisten als Salafiyya, Ahl al-Ḥadīṯ (»Leute der Prophetenüberlieferung«) oder Ahl al-aṯar (»Leute, die sich auf die überlieferten Berichte aus der Frühzeit des Islam berufen«) bezeichnet oder auch schlicht Muslime genannt. Dies variiert von Land zu Land. Der Osnabrücker Religionssoziologe Rauf Ceylan merkt in diesem Zusammenhang an, dass es im Hinblick auf die Akzeptanz und Ablehnung des Begriffs Salafi als Selbstbezeichnung unterschiedliche Meinungen gibt. Während einige daran festhalten, als Muslime tituliert zu werden, akzeptieren andere, Salafi genannt zu werden.[11]

Trotz unterschiedlicher Bezeichnungen zielen salafistische Gruppierungen allesamt auf die Errichtung bzw. Wiedererrichtung eines auf der Scharia basierenden Ordnungssystems ab, das sämtliche Lebensbereiche abdeckt. Über die Frage, mit welchen Mitteln sie ihr Ziel durchsetzen wollen, sind sie indes geteilter Meinung. In diesem Kontext wird zwischen drei Typen von Salafisten unterschieden, die spezifische Herausforderungen für die Politik und westliche Gesellschaften mit sich bringen: erstens die Puristen, zweitens die politischen Salafisten und drittens die salafistischen Dschihadisten.[12]

(1) Die Strategie der Puristen manifestiert sich darin, die Gesellschaft durch persönliche Frömmigkeit und individuelles frommes Handeln zu verändern, ohne sich politisch zu engagieren oder Gewalt anzuwenden. Es handelt sich also um einen sukzessiven Prozess von unten nach oben. Erst wenn sich die Individuen, Familien und Gruppen ändern, werde sich per se ein islamisches Gemeinwesen etablieren. Um dieses langfristige Ziel zu erreichen, richten sie ihr Augenmerk insbesondere auf Erziehung und religiöse Bildung. Nichtmuslime wollen sie mittels Missionierung (daʿwa) für den Islam gewinnen. Nichtsdestotrotz vertreten sie eine distanzierte Haltung im Umgang mit Andersdenkenden im Generellen. Nur wenn es darum geht, sie zum Islam einzuladen, wird eine Kontaktaufnahme für statthaft erklärt. Saudi-Arabien wird in diesem Kontext als das Mutterland und seit fünfzig Jahren als Hauptexporteur dieser salafistischen Strömung angesehen.[13] In Deutschland sei die puristische Ausprägung des Salafismus, so der Politik- und Islamwissenschaftler Klaus Hummel, noch nicht besonders stark etabliert. In den Nachbarländern Frankreich, England und den Niederlanden, wo viele Menschen mit arabischem Migrationshintergrund leben, existiert indes bereits seit den 1990er Jahren eine salafistische Szene mit puristischen Moscheen und Imamen.[14]

(2) Die politischen Salafisten bringen sich im Unterschied zu den puristischen aktiv in die Politik ein und wollen ihre Vision einer schariakonformen Gesellschaftsordnung, ebenso wie die Puristen, ohne Gewaltanwendung verwirklichen. Die politischen Salafisten sind eine breite heterogene Sammelbewegung und der politischen Ideologie des Islamismus zuzuordnen. Ihre Zielsetzung verfolgen sie auf parlamentarischem oder auch außerparlamentarischem Wege. Durch Partizipation an Wahlen, Demonstrationen, Bildungsarbeit, medienwirksame Auftritte und soziale Initiative bieten sie sich als Interessenvertreter und »Verteidiger« der Muslime gegenüber der Mehrheitsgesellschaft an. Anhänger dieser Gruppe in Deutschland propagieren verfassungsfeindliche Inhalte wie die Ablehnung des politischen Systems und fordern die Einführung der Scharia als holistisches Ordnungssystem. Für sie ist die daʿwa, wie bei den Puristen auch, von zentraler Bedeutung. Durch sie zielen sie darauf ab, neue Anhänger zu gewinnen und Jugendliche den – ihrer Auffassung nach – verderblichen Einflüssen der westlichen Kultur zu entziehen. Aus Sicht der politischen Salafisten soll die Reform von oben nach unten erfolgen. Das heißt, die Etablierung eines islamischen Staatssystems würde eine schariakonforme Lebensführung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene garantieren. Hinsichtlich der politischen Partizipation innerhalb eines Systems sind sich Anhänger dieser Strömung gleichwohl uneinig und werden dementsprechend in zwei Fraktionen aufgeteilt: Während die eine einer politischen Partizipation innerhalb eines säkularen politischen Systems ablehnend gegenübersteht und ausschließlich außerhalb dieser Ordnung politisch agiert, wird jedwede politische Teilnahme für die andere Fraktion als akzeptables Mittel zur Erreichung ihres Zieles angesehen. In Deutschland sind beide Gruppen vertreten, wobei nach Ceylan anzunehmen ist, dass sich die meisten Anhänger eher aus der ersten Kategorie rekrutieren.[15]

(3) Im Gegensatz zu den beiden bereits genannten Typen befürwortet die dritte, zahlenmäßig kleinere Gruppe der sogenannten Dschihadisten die Gewaltanwendung im Namen Gottes. Sie lehnt sowohl Missionsarbeit als auch politische Aktivitäten als Strategie für die Wiedererrichtung eines islamischen Gemeinwesens ab und sieht in der Gewaltanwendung den einzigen Weg zu dem ihnen vorschwebenden Staatswesen. Ihre Ideologie basiert in erster Linie auf dem ewigen Kampf zwischen dem Glauben an den einen Gott, tauḥīd, und sündhafter Götzendienerei, dem širk. Militant orientierte Gelehrte betrachten den Kampf als sechste Säule des Islam[16] und somit als Glaubenspflicht und Gottesdienst. Als zentrales Instrument in der Konstruktion von Feindbildern und der Rechtfertigung des Kampfes gegen sie nimmt das Konzept der »Exkommunikation« (takfīr) derjenigen, die ihre Ideologie nicht teilen, einen zentralen Platz ein.[17]

Islamismus

Die Bezeichnung »Islamismus« ist ein Sammelbegriff, der den politischen Islam bzw. alle politischen Auffassungen und Handlungen von Muslimen umfasst, die direkten Einfluss auf das politische System einer Gesellschaft nehmen wollen, um im Namen des Islam eine auf der Scharia basierende Gesellschafts- und Staatsordnung zu errichten.[18] Diese politische Ideologie beruft sich auf die Quellen des Islam und erhebt einen umfassenden politischen Gestaltungsanspruch. Die noch heute unter Islamisten verbreiteten Slogans al-islām dīn wa-daula (»der Islam ist Religion und Staat«) und al-islām huwa l-ḥall (»der Islam ist die Lösung«) bringen diese Vorstellung auf den Punkt. Während der ideologische Ursprung des Islamismus in erster Linie auf die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zurückgeführt wird, gilt die Muslimbruderschaft Ägyptens (gegr. 1928) als Mutterbewegung und als organisatorische Wurzel des Islamismus. Strategisch und methodisch arbeiten die Islamisten unterschiedlich, weshalb wichtig ist, zwischen moderatem und radikalem, gewaltbereitem Islamismus zu unterscheiden – wenngleich die Übergänge fließend sind: Die von der Ideologie der Salafiyya inspirierte islamistische Bewegung der Muslimbruderschaft beispielsweise zeichnet sich durch eine straff organisierte Struktur aus, nimmt am politischen Leben teil und ist stark auf Sozialarbeit ausgerichtet, um Anhänger durch Präsenz im Alltagsleben zu gewinnen. Von den Muslimbrüdern führt wiederum über Sayyid Quṭb (gest. 1966) ein radikalisierter Strang zum sogenannten dschihadistischen Islamismus, der für den revolutionären Umsturz »unislamischer« Regimes sowie für die Umsetzung weiterer Ziele den Einsatz von Gewalt befürwortet. Gruppen wie Ḥamās partizipieren einerseits seit Jahren und mitunter sehr erfolgreich am politischen Prozess ihres jeweiligen Landes und unterhalten andererseits bewaffnete Milizen.[19] Demnach umfasst der Begriff Islamismus sowohl friedlich-politisch wirkende Gruppen als auch gewaltgeneigte bis terroristische Gruppen. Im Unterschied zu anderen salafistischen Gruppierungen ist der Islamismus in toto politisch ausgerichtet und stellt eine besondere Lesart des Islam als politisches Programm dar. Eine verallgemeinernde Verwendung des Begriffs Islamismus als Oberbegriff sowohl für sunnitische Phänomene wie etwa Salafismus, Wahhabismus, Muslimbruderschaft und Ḥizb at-Taḥrīr als auch für schiitische Phänomene wie etwa Hisbollah, wie sie vom Niedersächsischen Verfassungsschutz vorgenommen wird, ist daher unpräzise und nicht immer zutreffend.[20]

Die wesentliche ideologische Gemeinsamkeit islamistischer Gruppierungen besteht vor allem im Willen zur Umformung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung nach einer strengen Interpretation der islamischen Schriften. Aus diesen Quellen werden politische Forderungen abgeleitet und die Scharia wird als holistisches System angesehen, das immer und überall anwendbar sei und alle Fragen des Lebens abdecke, sowohl was das soziale Miteinander als auch die Rechts- oder Staatsordnung anbelangt. Nach dieser Auffassung sollen Schariaregelungen institutionell verankert und Staat und Religion nicht getrennt sein. In einem solchen System besteht die oberste Legitimation in der Souveränität Gottes, aber nicht in der des Volkes.[21] Nichtsdestoweniger kann nicht pauschal gesagt werden, dass die Ideologie aller Islamisten bzw. islamistischen Bewegungen mit dem demokratischen Verfassungsstaat nur schwer vereinbar sei, weil »der alleinige Geltungsanspruch des ›göttlichen‹ Rechts dem Prinzip der Volkssouveränität« widerspreche, wie der Islamwissenschaftler Martin Riexinger darstellt.[22] Denn es gibt viele Stimmen, wie etwa die namhaften Politiker Rašid al-Ġannūšī (geb. 1941)[23] und Ḥasan at-Turābī (gest. 2016),[24] die zum islamistischen Spektrum gezählt werden und die Auffassung vertreten, dass Demokratie und Islam kompatibel seien. Diese Position wird unter anderem mit Belegen aus dem Koran und der Sunna gerechtfertigt, wobei die Islamquellen zeitgemäß interpretiert werden.[25]

Fazit

Das in Medien und Wissenschaft erzeugte Bild der im Rahmen dieses Beitrags erläuterten Begriffe ist äußerst vielfältig, oft zerrissen und teilweise sogar widersprüchlich. Dass Salafisten undifferenziert als Islamisten bezeichnet werden, soll in Anbetracht obiger Darstellung nicht unwidersprochen bleiben; denn ohne nähere Prüfung kann man Salafisten nicht pauschal dem islamistischen Milieu zuordnen – gibt es doch innerhalb der salafistischen Bewegung bedeutende Teile, welche die Partizipation am politischen Leben ablehnen und fast ausschließlich auf Missionsarbeit fokussiert sind. Ein grundlegender gemeinsamer Berührungspunkt zwischen allen islamischen Ausprägungen ist der Rückgriff auf die Offenbarungsquellen sowie das Nacheifern der Lebensweise der ersten drei Generationen. In Bezug auf die Lesart dieser Traditionen, die Ziele, Strategien und Organisationsformen der einzelnen Bewegung lassen sich indes erhebliche Unterschiede feststellen, etwa bei dem puristischen Salafismus, dem politischen Salafismus und dem militanten Salafismus. Der Begriff Islamismus, der weitgehend synonym mit dem politischen Islam verwendet wird, weist Ähnlichkeiten mit dem politischen Salafismus auf. Mit beiden Begriffen werden Ideologien bezeichnet, deren Kerngedanke darin besteht, den Islam als politisches Ordnungsmodell nach den Regeln der Scharia weltweit zu etablieren.

Die von Nedza vorgeschlagene begriffliche Unterscheidung zwischen der heutigen Salafiyya und der Salafiyya des 19. Jahrhunderts durch die Bezeichnung Salafismus scheint letztlich zweckdienlich zu sein. Der Gebrauch des Terminus »Salafismus« für die heutige Salafiyya entspricht dem terminologischen Konsens der Wissenschaft – das gilt insbesondere für den englischsprachigen wissenschaftlichen Diskurs. Vielessenschaftler bezeichnen besagtes Phänomen auf Englisch als Salafism. Terminologien, wie etwa Neo-Salafismus oder auch Salafiten, waren indes nur von kurzer Dauer und konnten sich nicht etablieren.[26]

Abschließend sei hervorgehoben, dass eine bewusste differenzierte Verwendung der oben dargestellten Begriffe in Medien, Politik und dem wissenschaftlichen Diskurs wünschenswert und notwendig ist – vermag sie doch dazu beizutragen, Vorurteile und Misstrauen gegenüber den muslimischen Mitbürgern abzubauen und einem kooperativen und vertrauensvollen Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen den Weg zu ebnen.

[1] Vgl. z. B. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2016, Vorabfassung. Hannover 2017, S. 83 und dass.: Salafismus – Erscheinungsformen und aktuelle Entwicklungen, Hannover 2017, S. 8.

[2] Vgl. ausführlich dazu Ceylan, Rauf/Kiefer, Michael: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013, S. 77 f. und ders./Jokisch, Benjamin (Hrsg.): Salafismus in Deutschland. Entstehung, Radikalisierung und Prävention, Frankfurt a. M. 2014, insb. S. 37 ff.

[3] Siehe ausführlich z. B. Conermann, Stephan: Reformislam, in: Elger, Ralf/Stolleis, Friederike (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur, München 2008, S. 271–273. Iğtihād ist ein Mittel zur Gewinnung von Normen aus den Rechtsquellen, Koran und Sunna.

[4] Vgl. ausführlich dazu z. B. Krämer, Gudrun: Geschichte des Islam, München 2011, S. 245 ff.; Soage, Ana Belén: Introduction to Political Islam, in: Religion Compass, Jg. 3 (2009), H. 5, S. 887–896.

[5] Siehe weiterführend dazu Haykel, Bernard: Salafī Groups, in: Esposito, John L. (Hrsg.): The Oxford Encyclopaedia of the Islamic World, New York 2009, Bd. 5, S. 26–28, hier S. 27 f.; Heine, Peter: Islamismus – Ein ideologiegeschichtlicher Überblick, in: Islamismus. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), S. 5–20, hier S. 10 ff.

[6] Dazu ausführlich Nedza, Justyna: »Salafismus« – Überlegungen zur Schärfung einer Analysekategorie, in: Said, Behnam T./Hazim, Fouad (Hrsg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam, Freiburg i. Br. 2014, S. 80–106, hier S. 85.

[7] Zu nennen sind hier neben Aḥmad Ibn Ḥanbal (gest. 855) insbesondere die Gelehrten Ibn Ḥazm (gest. 1064) und Ibn Taimiyya (gest. 1328); vgl. u. a. Kozalı, Abdurrahim: Zur Bedeutung von salaf und »Salafismus«, in: Ceylan/Jokisch, S. 37–47, hier S. 41.

[8] Vgl. z. B. Steinberg, Guido: Wer sind die Salafisten? Zum Umgang mit einer schnell wachsenden und sich politisierenden Bewegung, in: SWP-Aktuell 28.05.2012, URL: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2012A28_sbg.pdf [eingesehen am 21.05.2017], S. 5 und ders: Saudi-Arabien: Der Salafismus in seinem Mutterland, in: Said/Hazim, S. 265–297.

[9] Vgl. Steinberg: Wer sind die Salafisten?, S. 5 f. und Conermann, Stephan: Wahhabiten, in: Ralf/Stolleis: Kleines Islam-Lexikon, S. 339–340.

[10] Vgl. Said/Hazim: »Einleitung«, in: dies., S. 30, Anm. 21.

[11] Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 79 und mehr dazu bei Steinberg, Guido: Religion und Staat in Saudi-Arabien – Die wahhabitischen Gelehrten 1902–1953, Würzburg 2002, S. 28.

[12] Vgl. Wiktorowicz, Quintan: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict & Terrorism, Jg. 29 (2006), H. 3, S. 207–239, hier S. 208 und weiterführend dazu Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 82 ff.

[13] Vgl. Steinberg: Saudi-Arabien, S. 265–297; Wagemakers, Joas: Salafistische Strömungen und ihre Sicht auf al-wala‹ wa-l-bara«, in: Said/Fouad, S. 55–80, hier S. 58 ff.

[14] Vgl. Hummel, Klaus: Salafismus in Deutschland – Eine Gefahrenperspektive, in: Totalitarianism and Democracy, Jg. 11 (2014), H. 1, S. 95–122, hier S. 109.

[15] Vgl. Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 86 f. und weiterführend dazu Farschid, Olaf: Salafismus als politische Ideologie, in: Said/Hazim, S. 160–193, hier S. 165. Zum Begriff »Islamismus« siehe den nächsten Abschnitt des vorliegenden Beitrags.

[16] Die Säulen des Islam sind nach der Mehrheitsmeinung muslimischer Gelehrter indes: Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosensteuer, Fasten und Pilgerwallfahrt.

[17] Vgl. Armborst, Andreas/Attia, Ashraf: Die Politisierung des Salafismus«, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Salafismus in Deutschland Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 217–231, hier S. 226; Ceylan/Kiefer: Salafismus, S. 86 f.

[18] Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: »Islamismus – Was ist das überhaupt? Definition – Merkmale – Zuordnungen«, URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36339/islamismus-was-ist-das-ueberhaupt [eingesehen am 25.05.2017]. Für einen Überblick über verschiedene islamistische Gruppierungen vgl. Steinberg, Guido/Hartung Jan-Peter: Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Werner Ende/Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S. 681–695.

[19] Vgl. Riexinger, Martin: Islamismus und Fundamentalismus, URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36341/begriffsbestimmung [eingesehen am 27.05.2017].

[20] Vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport.

[21] Vgl. Riexinger.

[22] Vgl. ebd.

[23] Al-Ġannūšī ist ein tunesischer Politiker und Vorsitzender der islamistischen Nahḍa-Bewegung; vgl. mehr dazu z. B. bei Tamimi, Azzam: Rachid Ghannouchi: A Democrat Within Islamism, New York 2001.

[24] At-Turābī ist ein sudanesischer Politiker, der zur Muslimbruderschaft gezählt wird; vgl. ausführlich dazu z. B. Burr, Millard: Revolutionary Sudan: Hasan al-Turabi and the Islamist State, 1989–2000, Leiden 2003.

[25] Vgl. u.a. al-Ġannūšī: ad-Dīmūqrātiyya wa-huquq al-insān [Demokratie und Menschenrechte im Islam], Beirut 2012 und Tamimi, passim.

[26] Siehe auch Said/Hazim: Einleitung, S. 29.