Sehr lange hat Boban S. geschwiegen. Seit mehr als drei Jahren verfolgte er den Strafprozess gegen sich und seine Mitangeklagten stumm. Ebenso wenig wie Ahmad A. (genannt Abu Walaa), dem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angelastet wird, und Hasan Ç., der wie S. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt ist, ist er bereit gewesen, sich zu den Vorwürfen zu äußern, die seit 2017 zweimal wöchentlich vor dem Oberlandesgericht Celle verhandelt werden. Doch seine bereits vier Jahre andauernde Haftzeit und die Aussicht, noch etliche Jahre im Gefängnis zu sitzen, müssen ihn wohl zum Umdenken gebracht haben. Denn im Spätherbst 2020[1] schildert Boban S. dem Senat und den anderen Prozessbeteiligten schließlich seine Sicht der Dinge.

Die Vorwürfe

Boban S., der vor einigen Jahren zum Islam konvertiert war, betrieb bis Anfang 2016 im Dortmunder Stadtteil Lindenhorst – einem wirtschaftlich abgehängten Viertel im Norden der Ruhrgebietsmetropole – eine »Madrasa«. Der arabische Begriff bedeutet wörtlich »Schule«, bezeichnet aber im engeren Sinne eine islamische Bildungseinrichtung. Anil O., Kronzeuge der Bundesanwaltschaft, sagte 2017/18 aus, 2015 vor seiner Ausreise nach Syrien bei S. Unterricht besucht zu haben.[2] Die Lehrinhalte hätten dem Curriculum des Islamischen Staates (IS) entsprochen – die Schwerpunkte habe S. auf die Themen »Dschihad« und »Takfīr« gelegt (Aussagen von Anil O. am 17.01.2018) – also die islamische Praxis der Exkommunikation, bei der Menschen, die sich selbst als muslimisch verstehen, aufgrund ihrer vermeintlich fehlerhaften Vorstellungen und Glaubenspraxis die Zugehörigkeit zum Islam abgesprochen wird. Boban S. habe sich bei seiner Takfīr-Lehre auf zeitgenössische Gelehrte bezogen, die selbst dem IS zu radikal gewesen seien.[3] Wer den gewaltsamen Dschihad abgelehnt habe, hätte am Unterricht gar nicht erst teilnehmen dürfen. Nur wenn Gäste oder neue Schüler aufgetaucht seien, habe sich S. zurückgehalten und seine Loyalität gegenüber dem IS verborgen (Aussagen von Anil O. am 14.11.2017).  Im Ruhrgebiet hat sich den Angaben von O. zufolge damals eine feste Gruppe gebildet, die sich dem IS verpflichtet fühlte und vom Reisebüroleiter und Islamgelehrten Hasan Ç. geleitet wurde, dessen Unterrichtsstunden O. ebenfalls besuchte. O. schrieb auch Boban S. eine wichtige Rolle in der Gruppe zu und erklärte vor Gericht, diese habe ihn als »Delegierten« zu Abu Walaa in die Hildesheimer Moschee des Deutschsprachigen Islamkreises entsandt. Die Gebetsstätte sei das faktische Zentrum des IS in Deutschland gewesen. Dort habe man ihn auf seine Ausreise ins IS-Gebiet vorbereitet (Aussagen von Anil O. am 08.11.2017). Als »Emir« und damit als oberster Repräsentant des IS habe Abu Walaa den beiden Lehrern des Ruhrgebiets Weisungen erteilen können (Aussagen von Anil O. am 05.12.2017).

Auch eine V-Person des LKA Nordrhein-Westfalen, der unter dem Decknamen »Murat Cem« und dem Kürzel »VP-01« bekannt wurde, belastete Boban S. schwer.[4] Durch ihn – der selbst den Unterricht von S. regelmäßig besucht und bald vertraulichen Zugang zu seinem Lehrer erhalten habe – wurde aktenkundig, dass S. in kleiner Runde erklärt habe, direkt Anweisungen vom IS zu erhalten und bei der Ausreise ins Territorium der Terrororganisation behilflich zu sein. Auch Anis Amri, der 2016 den Breitscheitplatzanschlag verübt hatte, habe den Madrasa-Unterricht laut Angaben der VP-01, die freilich vor Gericht selbst nicht aussagen durfte, öfter besucht.

Die Doppelstrategie

War Boban S. also ein Dschihadist, der im kleinen Kreis aus seiner Unterstützung für den IS keinen Hehl machte, Amris Radikalisierung beförderte und andere bei ihren Plänen, ins IS-Gebiet auszuwandern, unterstützte? Bei seinem Vortrag, den der Angeklagte mit ruhiger Stimme und leichtem Akzent abliest, scheint sich S. für eine Doppelstrategie zu entscheiden: Einerseits versucht er, die zentralen Zeugenaussagen, auf die die Bundesanwaltschaft sich stützt, als völlig haltlos darzustellen. Andererseits macht er aus der Radikalität seiner Ansichten keinen Hehl. Er versucht darzulegen, dass es gerade die Extremität seiner Überzeugungen gewesen sei, die ihn daran gehindert habe, in Unterstützer-Netzwerken mitzuarbeiten, da dort kaum jemand seine Sicht geteilt habe und er nicht bereit gewesen sei, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die mit seinen Grundüberzeugungen nicht restlos übereinstimmten.[5]

Die beiden Hauptbelastungszeugen der Bundesanwaltschaft, Anil O. und VP-01, könnten laut Boban S. gar nicht viel über seinen Unterricht wissen und somit auch nicht belegen, dass dieser zum Kampf für den IS motiviert habe. Anil O., der behauptete, der Dschihad sei ein Schwerpunkt des Unterrichts von S. gewesen, habe laut S. angeblich nicht einen seiner Vorträge oder Predigten besucht. Im Gegensatz dazu sei die VP zwar häufig in der Madrasa gewesen, habe jedoch laut einem Mitschüler ständig im Unterricht geschlafen. Zudem habe S. laut eigener Aussage nie gelehrt, dass der Dschihad neben den fünf Säulen des Islam (Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosengabe, Ramadanfasten und Hadsch bzw. Mekka-Pilgerfahrt) die sechste Säule bilde. Boban S. versucht ferner zu belegen, dass sein Unterricht nicht zu Gewalthandlungen motiviert habe, sondern die Religionslehre im Mittelpunkt seiner Lehrtätigkeit gestanden habe. Dies untermauert er vor Gericht mit umfangreichen, teils elaborierten, teils kruden theologischen Ausführungen. Auch zu Ausreisen in das IS-Gebiet habe er niemals aufgefordert. Zudem streitet er ab, versucht zu haben, jemanden auf dem Landweg in die Türkei zu schmuggeln, um ihm die Ausreise zum IS zu ermöglichen.

Der Traum von Anis Amri als Dönerverkäufer

S. streitet nicht ab, dass Anis Amri zeitweise zum Kreis um seine Madrasa gehörte, doch habe er anders als die VP nie über Ausreise- oder Anschlagspläne gesprochen. Es sei die VP gewesen, die Amri zur Madrasa gebracht habe, in der er im Winter 2015 sogar mehrfach übernachtete und zeitweise einen eigenen Schlüssel erhielt, was allerdings laut S. nichts Ungewöhnliches gewesen sei, denn auch viele Aktive hätten frei über die Räume seiner Madrasa verfügen können. Er sei offensichtlich bedürftig gewesen und S. habe nicht gewollt, dass er in einer Flüchtlingsunterkunft nächtigen müsse. Als Boban S. erfahren habe, dass Amri im Februar 2016 nach Berlin gegangen war, sei er zunächst davon ausgegangen, dass die VP ihn begleitet hätte und Amri helfen würde, einen gefälschten Pass zu bekommen. Als Amri ihm aber nach der Ankunft in Berlin geschrieben habe, dass ihm die Polizei bei einer Kontrolle das Handy abgenommen habe, habe er sich entschieden, seinen Bekanntenkreis zu warnen, da er davon ausging, dass die Sicherheitsbehörden nun alle Handys aus Amris Adressbuch orten würden. Dies sei ein Fehler gewesen, räumt S. vor Gericht ein, denn er habe sich in die Sache, mit der er nichts zu tun gehabt habe, eigentlich gar nicht einmischen sollen.

Abb. 1: Oberlandesgericht Celle, (Foto: Lino Klevesath).

Auch wenn er Amri nicht gut gekannt und auch kein ausgesprochenes Vertrauensverhältnis zu ihm gehabt habe, habe er einen guten ersten Eindruck von ihm gehabt. Dass Amri schließlich einen Anschlag begangen habe, sei in S. Augen eher einem Zufall geschuldet. Er sei zwar schon etwas »aufbrausend« gewesen, sodass er nach einem Streit den Kontakt mit ihm in den Monaten vor dem Anschlag abgebrochen habe, aber eigentlich habe Amri kein Interesse an Gewalttaten gehabt, sondern habe nach einer Frau zum Heiraten gesucht. S. erklärt, sich nun Vorwürfe zu machen, den späteren Attentäter nicht mit einer für ihn passenden Frau verheiratet zu haben, doch habe dieser ihn auch nie darum gebeten. Vor einiger Zeit habe er sogar geträumt, Amri arbeite in einem Dortmunder Döner-Laden. Dass dies nur ein Traum gewesen und alles ganz anders gekommen sei, stimme ihn traurig.

Takfīr ohne Grenzen?

Das Verhältnis zu seinen Mitangeklagten Abu Walaa und Hasan Ç. beschreibt S. als sehr distanziert, auch wenn er den Austausch mit beiden nicht leugnet. Seine Madrasa habe er aber völlig autonom betrieben und das Geld für die Miete fast vollständig selbst aufgebracht – er sei somit auch finanziell von keinem Netzwerk abhängig und in keine Hierarchie eingebunden gewesen – keiner von beiden hätte ihm irgendwelche Weisungen erteilen können. Da er aufgrund seiner rigiden Glaubensvorstellungen selbst enge Gefährten nicht als echte Muslime anerkannte und deshalb enge Kontakte scheute, habe er sich gar nicht in wie auch immer gearteten Gruppenstrukturen einfügen können. So ist es für S. von enormer Wichtigkeit, zwischen wahren Gläubigen und denjenigen zu unterscheiden, die den Islam falsch auslegten und über letztere den Takfīr auszusprechen und damit deren Zugehörigkeit zum Islam zu leugnen. Schon bald habe er feststellen müssen, dass unter den Schülern in seiner Madrasa viele waren, die sein Verständnis der ʿAqīda, der islamischen Glaubenslehre, nicht teilten. Deshalb habe er sich entschieden, konkrete Ausschlusskriterien zu formulieren und seine Schüler vor die Wahl zu stellen, diese entweder zu akzeptieren oder der Madrasa künftig fernzubleiben. Da ihm bald klar wurde, dass kaum jemand seinen Kriterien genügte, habe er die Schule schließlich auflösen wollen. Die kompromisslose Befolgung des Prinzips des Tauḥīd, des wahren Monotheismus, sei ihm so wichtig gewesen, dass er beschlossen habe, den Islam notfalls nur noch in Gemeinschaft mit ein oder zwei rechtgläubigen Männern zu praktizieren – oder sogar auch ganz allein. Offensichtlich dehnte er die Praxis des Takfīr fast grenzenlos aus. Auch in Bezug auf Hasan Ç. und Abu Walaa seien ihm bald Zweifel gekommen, ob sie nach seiner Definition überhaupt Muslime seien.

Für Boban S. war das »Sich-richten-Lassen« (arab. Taḥākum) vor einem säkularen Gericht, um seine islamischen Rechte geltend zu machen,[6] unvereinbar mit dem Islam. Wer sich derart einer nicht-islamischen Autorität unterwerfe, könne nicht als islamgläubig gelten. Als S. erfuhr, dass Ç. den Taḥākum gegenüber einem säkularen Gericht nicht ablehne, habe er dafür Sorge getragen, nicht mehr dieselbe Moschee wie Ç. zum Freitagsgebet aufzusuchen – er habe nicht gewollt, dass Ç. merke, dass dieser für ihn ein Kāfir, ein Ungläubiger, sei. S. gibt an, auch in Bezug auf das Glaubensverständnis Abu Walaas bald Zweifel entwickelt zu haben. Er habe ihn schließlich nicht etwa deshalb getroffen, um die Bemühungen für die IS-Rekrutierung zu koordinieren, wie es ihm die Bundesanwaltschaft vorwirft, sondern vor allem, um dessen ʿAqīda zu prüfen. Als er erkannt habe, dass er auch ihn zum Ungläubigen erklären müsse, habe er dies Abu Walaa gegenüber auch angedeutet, ohne jedoch sein Urteil explizit auszusprechen. Dennoch blieb der Austausch mit der Hildesheimer Moschee so eng, dass S. der Gemeinde seine Madrasa-Lehrbücher als Schenkung anbot.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass S. hofft, durch seine Ausführungen die Urteilsfindung eines säkularen Gerichts zu seinen Gunsten beeinflussen zu können, indem er auch erklärt, dass der Vorwurf der Bildung eines terroristischen Netzwerkes mit den Mitangeklagten schon deshalb haltlos sei, weil er diese aufgrund ihrer Akzeptanz säkularer Gerichte als ungläubig verurteile. Der Dortmunder Prediger bemüht sich entsprechend auch zu erklären, warum er nun doch Einlassungen gegenüber einem nicht-islamischen Gericht mache: Seine Aussage, dass man deutsche Gerichte nicht anerkennen dürfe, sei nie eine Aufforderung zum Rechtsbruch gewesen. Wer gegen Gesetze verstoße, müsse mit den Konsequenzen leben. Er habe lediglich vertreten, dass man als Muslim die Gesetze, die den Geboten der islamischen Quellen widersprächen, als letztlich schädlich für die Menschen und die Gesellschaft ansehen müsse, ohne aber das säkulare Recht zu bekämpfen. Die hanafitische Rechtsschule, der er angehöre, lehre, dass das islamische Recht – die Scharia – in einem nicht-islamischen Land gar nicht angewendet werden dürfe. Tatsächlich wirkt seine Behauptung, das säkulare Recht in einem nicht-islamischen Land zu akzeptieren und nur eine innere Ablehnung desselben gemeint zu haben, wie der Versuch einer unglaubwürdigen Rechtfertigung. Es ist schließlich nicht vorstellbar, dass Abu Walaa oder Hasan Ç. je vertreten haben, das nicht-islamische Rechtssystem in Gänze als grundsätzlich legitim zu akzeptieren. Möglicherweise plädierten sie ebenfalls – so wie Boban S. heute – dafür, dieses nötigenfalls aus pragmatischen Gründen hinzunehmen und zu nutzen.

Boban S. und der Islamische Staat

Dem Islamischen Staat habe er stets mit Skepsis gegenübergestanden, gibt Boban S. an. Er habe zunächst die ʿAqīda, die Glaubenslehre der Organisation, für fehlerhaft erachtet. Er habe sogar nachgeforscht, ob deren Unglaube so offensichtlich sei, dass nicht nur Funktionsträger, sondern alle Menschen, die auf dessen Gebiet lebten und deren Abweichung vom Islam nicht kritisierten, als Ungläubige anzusehen seien. Dennoch gibt S. zu, zwischenzeitlich nicht nur negative Gefühle für den IS gehegt zu haben. Dessen Kampfhandlungen habe er auf der Webseite liveuamap.com verfolgt – daher habe sich auch das eine oder andere Foto vom Kampfgeschehen auf seinen digitalen Geräten befunden. Auch könne es durchaus sein, dass er die Luftschläge gegen den IS als »psychologische Kriegsführung« bezeichnet habe, die dazu diene, die Menschen von der Unterstützung der Organisation abzuhalten. Doch schließlich habe er erkannt, dass man den IS aus islamischer Sicht ohne Einschränkungen verurteilen müsse: Denn am 29.05.2016 habe der IS eine Fatwā (ein islamisches Rechtsgutachten) erlassen, der zufolge der sogenannte »Ketten-Takfīr« gegen die islamische Glaubenslehre verstoße. Das Prinzip des Ketten-Takfīr sieht vor, dass nicht nur die Person, die eine falsche Lehre des Islam vertritt, für ungläubig erklärt werden muss, sondern auch alle, die sich weigern, diese Person für ungläubig zu erklären.[7] Doch für S. ist klar, dass ein wahrer Muslim das Prinzip des Ketten-Takfīr akzeptieren und anwenden müsse. Nach einigem Nachdenken habe er sich dann auf die Position besonnen, dass der »Kufr« (Unglaube) des IS so offensichtlich sei, dass alle Menschen, die auf dessen Gebiet lebten und sich nicht erkennbar von dessen Lehren distanzierten, ebenfalls als »Kuffār« (Ungläubige) einzustufen seien.

Der IS, so Boban S. weiter, gehe außerdem davon aus, dass alle »Türken und Araber« Muslime seien und verkenne damit, wie wichtig der Takfīr sei. Menschen, die nur vorgäben, muslimisch zu sein, aber falschen Lehren über den Islam anhingen, müssten seiner Meinung nach klar von den wahrhaft Gläubigen unterschieden werden. Für S. ist das Islam-Verständnis der Terrororganisation gewissermaßen zu liberal und inklusiv. Als Anhänger der hanafitischen Rechtsschule grenzt er sich sehr scharf von zeitgenössischen Salafisten bzw. Wahhabiten ab. Diese akzeptierten nicht das Prinzip, wonach jeder, der nicht alle Herrscher für ungläubig erkläre, die entgegen der Scharia herrschten, gleichfalls als ungläubig einzustufen sei. In einem anderen Punkt hält er die Wahhabiten aber für zu engstirnig: Sie würden vertreten, dass man allen Ungläubigen mit Feindschaft begegnen müsse. S. jedoch hält den Unglauben insbesondere nicht-muslimischer Menschen für tendenziell entschuldbar, da sie weniger von Religion verstünden als Muslime – wenn jedoch letztere falsche Islam-Interpretationen vertreten würden, sei das unentschuldbar. Terroranschläge, wie sie Anis Amri verübt habe, lehne er ab, denn als Muslim sei er gegen Unrecht – sowohl gegenüber Muslimen als auch Nicht-Muslimen. Diese moderate Haltung überrascht und ist möglicherweise eine Schutzbehauptung, um das Gericht milde zu stimmen. Es ist aber auch denkbar, dass S. hier aufrichtig ist und die Verbreitung von vermeintlichen Irrlehren im Namen des Islam sehr viel stärker verurteilt als von Menschen, die weder genauere Kenntnisse vom Islam haben noch Zugehörigkeit zu der Religion für sich beanspruchen.

Seine Abgrenzung vom Salafismus und der Ideologie des IS ist allerdings brüchig: So gibt er an, zeitweise der Takfīr-Lehre von Aḥmad ibn ʿUmar al-Ḥāzimī gefolgt zu sein, dessen rigider Ideologie ein Teil der IS-Anhänger und -Kader angehangen hatten, bis der IS sie als zu extrem verbot, da sie zu einem endlosen Ketten-Takfīr führen könne.[8] Boban S. jedoch erklärt, Ḥāzimīs Lehre deshalb verworfen zu haben, weil er dessen Ablehnung jedweder Abweichung vom Prinzip der islamischen Herrschaft immer noch nicht konsequent genug gefunden habe: Ḥāzimī denke beim Götzendienst zuerst an heidnische Bräuche wie die Verehrung der Gräber verstorbener Heiliger, begreife aber nicht, dass jede Verletzung islamischer Gebote durch die Herrschenden genauso heidnisch sei. Hier zeigt sich S. als jemand, der in seinen politischen Ansichten radikaler ist als der geschasste radikale Flügel des IS.

Vor Gericht wird deutlich, dass Boban S. die Frage, wie islamische Glaubens- und Ordnungsvorstellungen praktisch umzusetzen sind, keine Ruhe lässt. An seinem Beispiel zeigt sich das Dilemma der takfīristischen Szene: Einige sahen im IS den ersehnten wahren islamischen Staat, der endlich konsequent gegen den Unglauben kämpfte. Anderen erschien auch der IS nicht radikal genug, und da aus ihrer Sicht keine wahrhaft islamische Organisation in Sicht war, entscheiden sich einige für dschihadistische Einzeltaten wie Kujtim F., der im November 2020 bei einem Anschlag vier Menschen in Wien tötete. Andere entschieden sich für politische Passivität, weshalb manche Forscher wie Klaus Hummel gar von einem letztlich deradikalisierenden Effekt des Takfīrismus ausgingen.[9] S. jedenfalls suggeriert vor Gericht, die theoretische Reflexion der politischen Betätigung vorzuziehen: Nach Jahren der Isolationshaft sei er zu dem Schluss gekommen, dass das in radikalislamischen Kreisen diskutierte Konzept des »Tauḥīd al-Ḥākimīya« nicht umsetzbar sei. Der Begriff lässt sich in etwa mit »[Anerkennung des] Monotheismus [in Bezug auf die, d. Verf.] Souveränität« übersetzen und besagt, dass die politische Dimension der Anerkennung des Monotheismus bedeuten müsse, Gott allein das souveräne Recht über die Gesetzgebung einzuräumen.[10] Um dem Prinzip des Tauḥīd al-Ḥākimīya Geltung zu verschaffen, sei de facto eine islamische Theokratie vonnöten, die aber nicht existiere. Entweder gehöre dieses Prinzip also gar nicht zum Islam oder alle sunnitischen Muslime der Gegenwart seien in Wirklichkeit Ungläubige. Angesichts dieses Dilemmas sehe er daher die Wiederbelebung der mittelalterlichen Rechtsschule der Ẓāhirīya[11], die nur den offensichtlichen Wortlaut der islamischen Quellen gelten lassen will und ideologisch dem zeitgenössischen Salafismus nicht unähnlich ist, als einzigen Ausweg. Mit seiner radikalen Islam-Interpretation hat sich Boban S. in eine intellektuelle Sackgasse hineinmanövriert. Sein Wunsch, den Islam von allen Irrgläubigen zu befreien, führt dazu, dass er sich nur noch des eigenen Glaubens sicher sein kann – die dauerhafte Bindung an eine Gemeinschaft ist ihm unmöglich. 

Fazit

Mit seinen Einlassungen konnte Boban S. die Anklagepunkte gegen ihn nicht ausräumen. Zwar dürfte der Kontakt mit den Mitangeklagten unter massiven theologischen Differenzen gelitten und der Dschihad nicht im Mittelpunkt seines Unterrichts gestanden haben. Doch gibt Boban S. selbst zu, dass der IS, seine Kämpfe und Ideologie in seinem Umfeld häufig Thema waren und die Organisation, wenn schon nicht mit Wohlwollen, dann zeitweise doch als das geringere Übel im Vergleich mit allen anderen politischen Akteuren angesehen wurde. Auch räumt S. ein, dass er Kenntnis von Ausreiseplänen hatte, und seine Beteuerungen, diese abgelehnt und nie befördert zu haben, überzeugen nicht.

Deutlich wird an den Ausführungen von Boban S. allerdings auch, dass der Dschihad-affine Teil der radikalislamischen Szene ideologisch extrem fragmentiert ist. Seine Behauptung, dass er nicht nur über die Mitangeklagten, sondern auch über nahe Weggefährten den Takfīr aussprach, diesen bisweilen wieder zurücknahm, nur um seine Freunde und Bekannten kurze Zeit später wieder für ungläubig zu erklären, dürfte der Wahrheit zumindest nahekommen. Die auch in Deutschland verbreitete Ideologie des Takfīrismus führt dazu, dass feste Gruppenbildungen im radikalislamischen Bereich zunehmend schwierig werden. Daraus könnte resultieren, dass die politische Mobilisierungsfähigkeit der Szene geschwächt wird, während sich andere auch künftig für gewalttätige Einzelaktionen entscheiden dürften.[12] Der Fall von Boban S. zeigt auch, dass die verbreitete pauschale Verwendung des »Salafismus«-Begriffs für sämtliche neuere individualistische Strömungen des radikalen Islam falsch ist. S. ist kein Salafist, sondern ein erklärter Gegner des Salafismus, auch wenn er sich zeitweise u. a. an salafistischen Gelehrten wie Ḥāzimī orientierte. Deutlich wird, dass auch Anhänger der hanafitischen Rechtsschule einen radikalen Takfīrismus vertreten können, obwohl die Ḥanafīya ursprünglich für die Lehre bekannt ist, dass bei der Bezichtigung des Unglaubens größte Vorsicht und Zurückhaltung geboten ist.[13] Der Radikalismus innerhalb der Ḥanafīya sollte daher ausgiebiger erforscht werden – schließlich ist die Rechtsschule, die traditionell in der Türkei und Teilen des Balkan und Syriens vorherrschend ist, aufgrund der Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte auch in Deutschland die zahlenmäßig größte Strömung des Islam. Dass Boban S. sein langes Schweigen schließlich gebrochen hat, hat ihn nicht vor einer langen Haftstrafe bewahrt – am 24. Februar 2021 wurde er u.a. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt.[14] Doch mit seiner Aussage hat er zumindest dazu beigetragen, das Phänomen des Takfīrismus zu erhellen.[15]

[1]      Dieser Artikel beruht im Wesentlichen auf der Beobachtung des Strafprozesses gegen Ahmad A., Boban S., Hasan Ç. und Mahmoud O. am 17.11.2020 und 18.11.2020, als Boban S. wesentliche Teile seiner Einlassung vortrug. S. hatte zuvor bereits an zwei anderen Prozesstagen seinen Vortrag begonnen – ein Teil seiner Aussagen sind dem Verfasser dieses Artikels daher nicht bekannt. Im weiteren Verlauf werden Verweise auf Aussagen im Strafprozess direkt im Text (in Klammern) angeführt.

[2]      Siehe hierzu Klevesath, Lino: IS vor Gericht: Der Prozess gegen das Netzwerk um ›Abu Walaa‹ am Oberlandesgericht (OLG) Celle, in: Demokratie-Dialog, H.2/2018, S. 64–71.

[3]      Ebd.

[4]      Siehe hierzu Sprengeler, Joris/Klevesath, Lino: Mission in der Grauzone: Der Einsatz von V-Personen am Beispiel »VP-01« in der salafistischen Szene, in: Demokratie-Dialog, H.3/2018, S. 45–53.

[5]      Die folgenden Ausführungen stützen sich in Gänze – sofern nichts anderes angegeben ist – auf die Aussagen, die Boban S. am 17.11. und 18.11.2020 vor dem OLG Celle tätigte.

[6]      Es blieb unklar, was konkret Boban S. mit dem Geltendmachen islamischer Rechte meinte und unter welchen Umständen er die Kooperation mit säkularen Gerichten vor seiner Inhaftierung für akzeptabel hielt und wann nicht. Möglicherweise blieb er bewusst vage, um das Gericht nicht durch seine (frühere) Ablehnung der nicht-islamischen Justiz zu provozieren.

[7]      Boban S. vertritt hier eine besonders exklusivistische Lehre und ist damit radikaler als viele Salafisten, die den Ketten-Takfīr ablehnen wie etwa der deutsche Salafist Hassan Dabbagh. Vgl. hierzu Wiedl, Nina/Becker, Carmen: Populäre Prediger im deutschen Salafismus. Hassan Dabbagh, Pierre Vogel, Sven Lau und Ibrahim Abou Nagie, in: Schneiders, Thorsten Gerald (Hrsg.): Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung. Global, local Islam, Bielefeld 2014, S. 187–215, hier S. 190–192.

[8]      Vgl. Zelin, Aaron: Ultra Extremism Among Tunisian Jihadis Within The Islamic State, in: jihadica.com, 18.02.2020, URL: https://www.jihadica.com/ultra-extremism-among-tunisian-jihadis-within-the-islamic-state/ [eingesehen am 05.02.2021].

[9]      Zit. nach Steinberg, Guido: Die »Takfiristen«. Eine salafistisch-jihadistische Teilströmung gewinnt an Bedeutung, in: SWP-Aktuell, H. 9/2021, URL: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2021A09_Takfiristen.pdf [eingesehen am 13.02.2021].

[10]    Das Konzept geht auf Muḥammad Quṭb (1919–2014) zurück, der eine Synthese zwischen dem Denken des in Saudi-Arabien vorherrschenden Wahhabismus und den Ideen seines Bruders Sayyid (1906–1966, einer der prägenden Köpfe des modernen politischen Islam) vornahm. Vgl. Lacroix, Stéphane: Awakening Islam. The politics of religious dissent in contemporary Saudi Arabia, Cambridge, MA 2011, S. 53 f.

[11]    Turki, Abdel-Magid: al-Ẓāhiriyya”, in: Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Leiden 2012, URL: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_8086 [eingesehen am 04.02.2021].

[12] Steinberg: Die «Takfiristen”.

[13] Lav, Daniel: Radical Islam and the revival of medieval theology, Cambridge 2012, S. 24–29.

[14] Vgl. Ramm, Wiebke: Wie ein V-Mann und ein Ex-Islamist Abu Walaa hinter Gitter brachten, in: Spiegel Online, URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wie-ein-v-mann-und-ein-ex-islamist-abu-walaa-hinter-gitter-brachten-a-76e47333-7e7b-4141-bf1c-f8ec1506b131 [eingesehen am 26.02.2021].

[15] Die Bundesanwaltschaft hatte bei ihrem Plädoyer im Januar neuneinhalb Jahre Haft für Boban S. gefordert (O. V.: IS-Prozess: „Abu Walaa“ drohen elfeinhalb Jahre Haft, in: NDR.de, 27.01.2021, URL: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/IS-Prozess-Abu-Walaa-drohen-elfeinhalb-Jahre-Haft,abuwalaa292.html [eingesehen am 16.02.2021].) Sein Anwalt, Michael M. Sertösz, hatte am 16.02.2021 auf Freispruch, Aufhebung des Haftbefehls und eine Entschädigung für die mehr als vierjährige Haftzeit plädiert.