Der Hamburger G20-Gipfel liegt mittlerweile ein gutes halbes Jahr zurück und noch immer dominieren die Bilder des nächtlichen brennenden Schulterblatts, schwarz vermummter SteinewerferInnen und überforderter PolizistInnen die mediale Berichterstattung. Konträre Darstellungen gewaltfreien Protests, etwa durch die Kunstaktion »1000 Gestalten«, der alternative Gegengipfel und zahlreiche weitere Demonstrationen sind hingegen aus dem öffentlichen Gedächtnis beinahe vollständig verschwunden. Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten, ja beinahe hysterischen Grundstimmung scheint momentan nur eine Debatte möglich, die durch beiderseitiges Polemisieren gekennzeichnet ist und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den begründbaren Inhalten des Protests unmöglich macht. Daher versucht dieser Text, die Protestmotive insbesondere derjenigen Personen, die dem radikalen Protestspektrum zugeordnet werden können und dadurch in der öffentlichen Debatte oft ungehört bleiben, zu beleuchten, und so eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem G20-Protest voranzutreiben.

Um ebenjene Protestmotive, weltanschaulichen Hintergründe und Engagementformen zu ergründen, hat das Göttinger Institut für Demokratieforschung gemeinsam mit KollegInnen des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und des Forschungszentrums Ungleichheit und Sozialpolitik eine Demonstrationsbefragung auf den beiden größten Demonstrationen[1] im Kontext des Gipfels durchgeführt; insgesamt haben 3.515 Personen den Fragebogen angenommen, von denen letztlich 1.095 Personen an der Umfrage teilnahmen.[2] Unter anderem wurde darin erfragt, über welche Organisationen die ProtestteilnehmerInnen von den Demonstrationen erfahren haben.[3] Diejenigen unter ihnen, die hier »autonome und antifaschistische Gruppen«, die »Interventionistische Linke« oder das Protestbündnis »… ums Ganze!« angegeben haben, sollen im Folgenden gesondert betrachtet werden, um zu überprüfen, ob sie sich hinsichtlich ihrer Einstellungsmuster von den verbliebenen DemonstrationsteilnehmerInnen unterscheiden. Da diese Gruppen aufgrund ihrer Selbstbeschreibungen als kommunistisch[4] und linksradikal[5] zu der Speerspitze eines radikalen, gesellschaftlichen Protests zählen, verspricht eine Analyse ihrer Einstellungsmuster erkenntnisreich auszufallen, weil derartige Positionen im Diskurs oft ungehört verhallen. Wichtig ist zu betonen, dass hier nicht Gruppenzugehörigkeiten, sondern Informationskanäle abgefragt wurden; daher können keine klaren Rückschlüsse dahingehend gezogen werden, ob die Befragten tatsächlich auch diesen Gruppen angehören. Trotzdem kann diese Frage als ein Indikator für eine ideologische Nähe zwischen den ProtestteilnehmerInnen und den entsprechenden Gruppen angesehen werden. Da die individuelle Entscheidung, an einer Demonstration teilzunehmen, das Resultat einer Reihe kommunikativer Prozesse ist,[6] ist die Frage nach der hauptsächlichen Informationsquelle sinnvoll, da damit die zugrundeliegenden Motivationslagen der Protestierenden ergründet werden können.

Die Auswertung des Fragebogens hat gezeigt, dass zu den Problemfeldern, die den TeilnehmerInnen, die sich aus dem Umfeld der genannten Bündnisse rekrutieren, besonders wichtig sind, »Armut und Hunger« sowie »Demokratie und Menschenrechte« zählen. Auffällig ist, dass unter den SympathisantInnen des »… ums Ganze!«-Bündnisses »Globalisierung und fairer Handel« einen verhältnismäßig größeren Stellenwert einnehmen,[7] bei SympathisantInnen der »Interventionistischen Linken« steht das Thema »soziale Gerechtigkeit« im Fokus.[8] Insgesamt unterscheidet sich das Antwortverhalten hinsichtlich der Protestmotive zwischen den für diesen Bericht isoliert betrachteten TeilnehmerInnen und den übrigen DemonstrantInnen jedoch kaum. Es lässt sich beobachten, dass nahezu alle Antwortkategorien, welche die Protestmotive erfragten, von Personen, die sich aus dem Umfeld der genannten Gruppen rekrutieren, häufiger gewählt werden. Dies erweckt letztlich den Anschein, dass ihre Protestmotive vielfältiger gewesen sein könnten. Als Leitmotive des Protests lassen sich somit der Kampf gegen Ausbeutung und globale Ungleichverteilung und gegenteilig der Wunsch nach Demokratie und Frieden ausmachen.

Bild: Julian Schenke

Ein deutlicheres Bild zeichnet sich in der Auswertung des Fragebogens hinsichtlich der Bewertung des Konzepts »G20« durch die Befragten ab; dieses wird von den vermeintlich radikaleren ProtestteilnehmerInnen deutlich kritischer gesehen. Auf die entsprechende Frage, ob die gegenwärtigen, globalen Konflikte und Krisen Folgen der Politik der G20-Staaten seien, antworteten prozentual deutlich mehr Personen aus den hier näher beleuchteten Gruppen mit der Kategorie »voll und ganz« als die übrigen ProtestteilnehmerInnen.[9] Ein ähnliches Antwortverhalten tritt bei der Stellungnahme zu der These auf, dass der Gipfel demokratischen Prinzipien widerspreche und die G20 reformierbar seien.[10] Aus demokratietheoretischer Sicht ist dies durchaus problematisch, da sich hier eine empirisch messbare Entfremdung zwischen den Protestierenden, die einen Ausschnitt der Gesellschaft darstellen, und den PolitikerInnen, die sie vertreten sollen, zeigt. Positiv gewendet ließe sich jedoch konstatieren, dass in der Bevölkerung Emanzipationsprozesse stattfinden und die BürgerInnen zunehmend als selbstbestimmte, politisch aktive Individuen auftreten (wollen).[11] Vor diesem Hintergrund kann der massenhafte Protest gegen den Gipfel als ein Versuch gewertet werden, »das Politische« neu zu verhandeln und die vermeintlich undemokratischen Prinzipien des Gipfels offen zu kritisieren. Die eingangs formulierte These, dass der radikale Protest von den genannten Gruppen getragen werde, scheint sich durch das tendenziell extremere Antwortverhalten der ProtestteilnehmerInnen zunächst zu bestätigen. Die in den Fragebögen artikulierte Kritik am Konzept der G20 steht in Verbindung mit einer Ablehnung des wirtschaftlichen Systems des Kapitalismus. Hier tritt der ideologische Unterschied zwischen den betrachteten Gruppen und den verbliebenen ProtestteilnehmerInnen am deutlichsten zutage: Während aus den radikalen Gruppen im Durchschnitt fast zwei Drittel der Befragten der These, der Kapitalismus müsse überwunden werden, »voll und ganz« zustimmten, war dies bei den restlichen Protestierenden lediglich ein Drittel der Befragten.[12]

Weiterhin zeigt sich, dass die Ablehnung von Autoritäten und der Appell nach mehr Verantwortung für die einzelnen BürgerInnen[13] sowohl unter den radikalen Gruppen als auch unter den restlichen Befragten weitverbreitet sind. Dieser Befund stützt die Vermutung, dass sich, mindestens in Teilen der Bevölkerung, ein demokratisches Bewusstsein ausgebildet hat, das für eine aktive, außerparlamentarische Opposition charakteristisch ist. Gestützt wird diese These davon, dass sich eine relative Zufriedenheit mit dem Konzept der Demokratie im Allgemeinen – auch unter den mit den radikalen Gruppen assoziierten ProtestteilnehmerInnen – beobachten lässt,[14] was zumindest teilweise verwundern muss, wurde doch gleichzeitig eine deutliche Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen System, das den westlichen Demokratien zugrunde liegt, artikuliert. Eine grundsätzliche Demokratiefeindlichkeit lässt sich aus dem Antwortverhalten bei der Umfrage also auch unter den DemonstrationsteilnehmerInnen, die sich über die radikalen Gruppen informiert haben, nicht erkennen.

Auch die Einstellungen zur Akzeptanz von Gewalt als politisch legitimem Mittel des Protests lassen sich nicht eindeutig beantworten. Genießen Blockaden noch ein hohes Ansehen unter den Befragten, die sich über die hier betrachteten Bündnisse informiert haben,[15] werden Sachbeschädigungen »als nebensächliches Übel« sowie Gewalt als legitimes Mittel, »um dem Protest Gehör zu verschaffen«[16], kritischer bewertet. Tatsächlich ist der Anteil derjenigen Personen, die Gewalt grundsätzlich ablehnen, hoch;[17] stattdessen scheint lediglich Konfrontationsgewalt in Situationen, in denen die Polizei »gewalttätig« vorgehe, von den radikalen Protestierenden akzeptiert zu sein, obwohl hier Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen bestehen.[18]

Abschließend lässt sich festhalten, dass die hier vorgenommene Analyse des Antwortverhaltens der nach Informationskanälen strukturierten Fragebögen erste Einblicke in die Motivationslagen und ideologischen Hintergründe der DemonstrationsteilnehmerInnen liefern konnte. Entgegen intuitiven Erwartungen hat sich gezeigt, dass auch diejenigen TeilnehmerInnen, die den radikaleren Gruppen ideologisch nahestehen, keineswegs mehrheitlich demokratiefeindliche Einstellungen vertreten. Tatsächlich wird im Gegenteil klare Kritik am kapitalistischen System formuliert und für allgemein anerkannte und demokratietheoretisch erwünschte Werte gekämpft. Der gewaltsame Kampf spielt für einen Großteil der Befragten maximal eine untergeordnete Rolle.

[1] Der Gipfel fand vom 7. bis zum 8. Juli 2017 in Hamburg statt. Bei den hier befragten Demonstrationen handelt es sich um die sogenannte Protestwelle am 2. Juli 2017, zu der unter dem Motto »Eine andere Politik ist nötig!« u. a. Campact, Greenpeace etc. aufgerufen haben, sowie die Großdemonstration am 8. Juli 2017, zu der unter dem Motto »Grenzenlose Solidarität statt G20« u.a. die globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation »Attac« und die Partei »Die Linke« aufgerufen haben.

[2] Vgl. Haunss, Sebastian et al.: #NoG20. Ergebnisse der Befragung von Demonstrierenden und der Beobachtung des Polizeieinsatzes, ipb working paper, URL: https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2017/11/NoG20_ipb-working-paper.pdf [eingesehen am: 01.03.2017.]

[3] »Über welche Organisation haben Sie von der G-20-Demonstration erfahren? Bitte wählen Sie die für sie wichtigste aus: Antifaschistische/ autonome Gruppen, Attac, Bund für Umwelt und Naturschutz, Campact, DGB/ Gewerkschaften, Die Grünen, Die Linke, Greenpeace, Interventionistische Linke, Kirchliche Gruppen, Bündnis ›Ums Ganze!‹, eine andere Gruppe/Organisation aus Ihrem Heimatland.«

[4] Selbstzuschreibung des »… ums Ganze!«-Bündnisses, URL: https://umsganze.org/ueber-uns/ [eingesehen am: 03.03.2017].

[5] Selbstzuschreibung der Interventionistischen Linken (IL), URL: http://www.interventionistische-linke.org/interventionistische-linke/die-interventionistische-linke-wir-ueber-uns [eingesehen am: 03.03.2017].

[6] Vgl. Scharf, Philipp et al.: Überwiegend friedliche Protestmotive. Die Großdemonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg, in: Forum Wissenschaft, H. 4/2017, S. 51.

[7] Diesen Themenkomplex gaben 69,6 % der Befragten aus dem Umfeld des »… ums Ganze!«-Bündnisses als besonders wichtig für die Teilnahme am G20-Protest an; Mehrfachnennungen waren möglich.

[8] Diesen Themenkomplex gaben 52,5 % der Befragten aus dem Umfeld der IL als besonders wichtig für die Teilnahme am G20-Protest an.

[9] Autonome und antifaschistische Gruppen: 63,6 %, IL: 67,2 %, »… ums Ganze!«: 60,9 %, ProtestteilnehmerInnen, die sich nicht über eine der genannten Gruppen informiert haben: 44,5 %.

[10] Anteil derjenigen Personen, die der These »die G20 sind reformierbar«, »überhaupt nicht« und »eher nicht« zustimmten: Autonome und antifaschistische Gruppen: 62,7 %, IL: 63,9 %, »… ums Ganze!«: 78,3 %, ProtestteilnehmerInnen, die sich nicht über eine der genannten Gruppen informiert haben: 49,2 %.

[11] Vgl. Scharf, Philipp et al.: Überwiegend friedliche Protestmotive. Die Großdemonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg, in: Forum Wissenschaft, H. 4/2017, S. 50.

[12] Autonome und antifaschistische Gruppen: 61,6 %, IL: 63,9 %, »… ums Ganze!«: 73,9 %, ProtestteilnehmerInnen, die sich nicht über eine der genannten Gruppen informiert haben: 33,2 %.

[13] Auf die Frage, ob Kindern beigebracht werden sollte, Autoritäten zu gehorchen, antworteten die Befragten mit »überhaupt nicht« oder »eher nicht«: Autonome und antifaschistische Gruppen: 76,8 %, IL: 77,0 %, »… ums Ganze!«: 73,6 %, ProtestteilnehmerInnen, die sich nicht über eine der genannten Gruppen informiert haben: 68,4 %.

[14] Anteil derjenigen ProtestteilnehmerInnen, die mit der Idee der Demokratie im Allgemeinen sehr oder eher zufrieden sind: Autonome und antifaschistische Gruppen: 81,8 %, IL: 86,9 %, »… ums Ganze!«: 82,6 %, ProtestteilnehmerInnen, die sich nicht über eine der genannten Gruppen informiert haben: 90,3 %.

[15] Anteil derjenigen Personen, welche der These »Blockaden sind ein legitimes Mittel des Protests gegen G20« »voll und ganz« zustimmten: Autonome und antifaschistische Gruppen: 80,8 %, IL: 83,6 %, »… ums Ganze!«: 82,6 %.

[16] Hierbei handelt es sich um direkte Zitate aus dem Fragebogen.

[17] Anteil derjenigen Personen, welche der These »Gewalt lehne ich grundsätzlich ab« »voll und ganz« bzw. »überwiegend« zustimmten: Autonome und antifaschistische Gruppen: 20,2 %/28,3 %, IL: 19,7 %/32,8 %, »… ums Ganze!«: 26,1 %/30,4 %.

[18] Anteil derjenigen Personen, welche der These »bei einem gewalttätigen Vorgehen der Polizei ist Widerstand legitim« »voll und ganz« zustimmten: Autonome und antifaschistische Gruppen: 59,6 %, IL: 49,2 %, »… ums Ganze!«: 39,2 %.