Der Mann, der »Abu Walaa« und das von ihm mutmaßlich geknüpfte Netzwerk des »Islamischen Staates« mit am stärksten belastet, steht im Februar 2018 im Zentrum des Interesses. Doch selbst ist er an den Verhandlungstagen im Saal 94 des Oberlandesgerichts Celle gar nicht anwesend – ein Auftritt als Zeuge im wohl aufwändigsten und größten deutschen Strafverfahren gegen mutmaßliche Dschihadisten um Abu Walla, der in Hildesheim gezielt Kämpfer für den IS rekrutiert haben soll, ist ihm verboten. Selbst sein echter Name bleibt geheim – bekannt ist er nur als »VP-01« und unter dem Decknamen »Murat«.

Über eine lange Zeit lieferte er der Polizei gegen Geld Informationen über die salafistisch-dschihadistische Szene, denn »Murat« war eine sogenannte »Vertrauensperson« (VP).[1] Zeitweise war er wohl die wichtigste Quelle für die Ermittler. Das Aussageverbot soll ihn vor Enttarnung und Racheakten aus der Szene schützen. An seiner Stelle sagen drei Beamte – sogenannte VP-Führer – aus und berichten, was der Mann den Behörden erzählt haben soll. Doch auch die VP-Führer haben nur eine beschränkte Aussagegenehmigung. Für den heiklen Einsatz seien sie dem LKA NRW zugeordnet gewesen – für welche Behörde sie normalerweise arbeiteten, dürften sie nicht offenlegen.

Sind die Aussagen von VP-01 glaubwürdig oder bauschte er Informationen auf in der Hoffnung, den Einsatz zu verlängern und mehr Geld zu erhalten? Gelang es ihm, seine Tarnung aufrechtzuerhalten, ohne dabei selbst Pläne für terroristische Taten voranzutreiben und sich so gegebenenfalls strafbar zu machen? Die fehlende Aussagegenehmigung und die Zeugenaussagen aus zweiter Hand durch die VP-Führer machen die Wahrheitsfindung für das Celler Gericht jedenfalls äußerst schwierig.

Nicht nur im Strafverfahren gegen Abu Walaa ist der Einsatz von V-Personen umstritten. Sie entstammen in der Regel der beobachteten Szene, bereits daher erscheint ihre Loyalität gegenüber dem Staat fragwürdig. Vor allem wegen des Unvermögens der Sicherheitsbehörden, die Taten des NSU trotz des umfangreichen Einsatzes von V-Personen zu verhindern, wurde die gängige Praxis in der medialen Debatte scharf kritisiert.[2] Doch wie sieht diese Praxis, konkret im Fall von VP-01, aus, welche Probleme bringt sie mit sich und gibt es möglicherweise auch rechtlichen Änderungsbedarf?

Rechtliche Grundlagen für den Einsatz von V-Personen

Der Einsatz einer V-Person ist dadurch charakterisiert, dass eine Privatperson über einen längeren Zeitraum hinweg einer Sicherheitsbehörde (also in der Regel der Polizei oder den Nachrichtendiensten) über eine Einzelperson oder Gruppierung berichtet, ohne dass die Eigenschaft als V-Person nach außen erkennbar ist.[3] Der Einsatz dient also der Informationsbeschaffung, aber nicht der gezielten Intervention in das Geschehen. V-Personen stellen nur eine von mehreren Arten sogenannter »menschlicher Quellen«[4] dar, die von den Sicherheitsbehörden zum Erkenntnisgewinn genutzt werden. Abzugrenzen sind V-Personen insbesondere von »verdeckten Ermittlern« und »Informanten«.[5] Verdeckte Ermittler sind Angehörige einer Sicherheitsbehörde, die »unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (Legende) ermitteln«.[6] Im Gegensatz hierzu handeln V-Personen – ebenso wie Informanten – als Privatpersonen. V-Person und Informant unterscheiden sich allerdings dahingehend, dass Informanten nur im Einzelfall und ohne Auftrag Informationen beschaffen, wohingegen V-Personen sich langfristig in einer Szene bewegen und gezielt beauftragt werden, Informationen zu sammeln.[7]

Während der Fokus der medialen Debatte auf den V-Personen der Verfassungsschutzbehörden liegt, setzen jedoch auch andere Nachrichtendienste[8] und Polizeibehörden der Länder und des Bundes V-Personen ein. Bei VP-Einsätzen auf Landesebene ist zwischen drei Typen zu unterscheiden: Erstens kann ein Einsatz durch den Verfassungsschutz durchgeführt werden.[9] Zweitens kann durch die Polizei ein Einsatz zur Gefahrenabwehr (d.h. präventiv-polizeilich) erfolgen.[10] Drittens können Staatsanwaltschaft und Polizei einen Einsatz mit dem Ziel der Strafverfolgung (d.h. repressiv) durchführen.

Dient die Aktion vor allem der Strafverfolgung, werden üblicherweise die sogenannten »Generalermittlungsklauseln«[11] als Rechtsgrundlage herangezogen – eine besondere Vorschrift für den Einsatz von V-Personen existiert in der Strafprozessordnung nicht. Dies ist unter anderem wegen des angenommenen Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung äußerst umstritten.[12] Kritiker aus der Rechtswissenschaft bemängeln, dass aufgrund des vagen Wortlauts der gesetzlichen Regelung zu unkonkrete Vorgaben für den VP-Einsatz bestünden, wodurch eine »rechtliche Grauzone« entstehe.[13]

Im Bereich der Gefahrenabwehr sind die Voraussetzungen für den Einsatz von V-Personen hingegen präziser als in der Strafprozessordnung geregelt. Das niedersächsische Gefahrenabwehrrecht beinhaltet im Vergleich zu anderen Ländern wie Nordrhein-Westfalen insofern klarere Normen, als dass nicht nur das »Ob«, sondern auch das »Wie« in Grundzügen geregelt ist: Das Gesetz verbietet V-Personen ausdrücklich, andere zu Straftaten anzustiften. Es legt fest, dass V-Personen nicht zur Umgehung des Polizeirechts genutzt werden dürfen: Sie haben keine Befugnisse, die über die der Polizeibehörden hinausgehen.[14]

Generell gilt, dass im Grundsatz nur die jeweilige Behördenleitung den Einsatz anordnen darf und keinesfalls Minderjährige als V-Personen tätig sein dürfen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Einsatz durch den Verfassungsschutz und dem polizeilichen Einsatz zur Gefahrenabwehr liegt darin, dass letzterer unter anderen Voraussetzungen zulässig ist: Der polizeilich-präventive Einsatz darf nur im Fall einer konkreten, gegenwärtigen Gefahr oder einer zu erwartenden Straftat von erheblicher Bedeutung erfolgen. Hingegen kann ein Einsatz durch Verfassungsschutzbehörden beispielsweise bereits dann erfolgen, wenn eine Person in einer vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppe tätig ist.[15] Zudem bestehen weitere, spezifische Regelungen: So sollen durch einen Einsatz durch den Verfassungsschutz potentielle V-Personen nicht durch den Staat von einem Ausstieg aus der betreffenden Gruppierung abgehalten werden.[16]

In der Praxis sind Einsätze zur Strafverfolgung von denen zur Gefahrenabwehr nicht immer klar abzugrenzen – nicht selten dient der Einsatz beiden Zielen zugleich (doppelfunktionale Maßnahme). Dies gilt wohl auch für den Einsatz von VP-01. Jedenfalls diente auch er einerseits der Vereitelung von Anschlägen und Ausreisen in das »IS«-Gebiet und andererseits der Prüfung strafrechtlicher Ermittlungsansätze. Eine Besonderheit liegt zudem darin, dass VP-01 von außen in die Szene eingeschleust wurde und dieser nicht selbst entstammte. Vom rechtlichen Ideal sollte somit nicht ohne Weiteres auf die bestehende Praxis geschlossen werden, wie auch die folgende Schilderung des atypischen Falles des Einsatzes von VP-01 zeigt.

Der Einsatz von »Murat« vor Gericht

Die Aussagen von VP-01 sind neben den Angaben des Kronzeugen Anil O.[17] von zentraler Bedeutung für die Anklage.[18] Die drei Mitarbeiter des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes (LKA NRW), die sogenannten VP-Führer, hatten VP-01 beauftragt und anschließend das Wissen »abgeschöpft«. Die so entstandenen Vernehmungsprotokolle leiteten sie an die Ermittlungskommission »Ventum« weiter.

Dazu, wie und wann genau der Einsatz von VP-01 begann, lag den VP-Führern vor Gericht keine Aussagegenehmigung vor. VP-01 arbeitete nach Angaben der VP-Führer C. und B. schon mehr als zehn Jahre als V-Person für die Sicherheitsbehörden, sei dabei in den Jahren zuvor allerdings bei Ermittlungen zu Tötungsdelikten sowie im Umfeld der Drogenkriminalität eingesetzt worden. Angesichts der fehlenden Aussagegenehmigung kann nur gemutmaßt werden, warum die V-Person ab Frühjahr 2015 im salafistischen Milieu eingesetzt wurde. Möglicherweise gab es Überschneidungen zwischen den Ermittlungsfeldern. Der Einsatz war in jedem Fall atypisch, da V-Personen üblicherweise aus der zu beobachtenden Szene selbst rekrutiert werden. Somit kam die Tätigkeit von VP-01 strukturell eher der eines verdeckten Ermittlers nahe – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass VP-01 eben kein Beamter der Sicherheitsbehörden war.

Auch wenn sie kein tieferes Wissen über den Islam besaß, Türkisch, nicht aber Arabisch sprach, gelang es ihr, in die salafistische Szene einzutauchen. Hierzu erhielt VP-01 immer wieder Aufträge der VP-Führer, Informationen zu beschaffen, die dann bei Treffen mit den Beamten – meist in einem Einsatzwagen – stichwortartig notiert wurden.[19] Erst anschließend im Büro wurde dann die schriftlich ausgearbeitete Form des Vernehmungsprotokolls verfasst, die an die Ermittlungskommission weitergeleitet wurde und die die V-Person, anders als die Notizen zuvor, selbst gar nicht zu Gesicht bekam. Anhand der Rückfragen der Ermittlungskommission erteilten die VP-Führer dann wiederum neue Aufträge an VP-01.

Um in der Szene glaubwürdig zu erscheinen, habe VP-01 nach Auskunft der VP-Führer vor dem Celler Gericht behauptet, selbst auch eigene Pläne für die Ausreise ins »IS«-Gebiet zu verfolgen – das war ihre Legende. VP-01 wurde eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt, in der sie auch Gäste aus der Szene empfangen konnte. Im Vergleich zu anderen Fällen sei der zeitliche Aufwand nach Aussage von VP-Führer C. enorm gewesen. Über die Entlohnung durfte er vor Gericht keine Angaben machen, erläuterte aber, deren Höhe habe nicht einmal dem Mindestlohn entsprochen. Deswegen habe VP-01 seiner Meinung nach auch vor allem eine »intrinsische Motivation« angetrieben, da er die Leute für »gefährlich« gehalten und sich vorgestellt habe, deren Anschlagspläne könnten auch seine Familie treffen. VP-Führer B. allerdings sah vor allem finanzielle Motive für den Einsatz von VP-01.

Ursprüngliches Ziel des Einsatzes war der Gelsenkirchener Anil O., der spätere Kronzeuge im Strafprozess. VP-01 versuchte, dessen genaue Ausreisepläne zu erfahren – doch der misstrauische O. hielt sich bedeckt und konnte schließlich offenbar ungestört von den Behörden ins »IS«-Gebiet ausreisen. Im Zuge der Ermittlungen bemerkten die Beamten schließlich, dass die Teilnehmer von Islamkursen des Angeklagten Hasan C., sowie die Schüler der Dortmunder Koranschule des Angeklagten Boban S. zahlreich ins »IS«-Gebiet ausreisten. Auch Anil O. hatte zuvor Kurse bei beiden besucht. Deshalb begann VP-01, regelmäßig ebenfalls die Veranstaltungen zu besuchen und den VP-Führern über Abläufe und anwesende Personen zu berichten. Offen wurde dort der Anschluss an den »IS« als religiöse Pflicht gelehrt – über Anschlagspläne in Deutschland wurde aber nur im klandestinen Rahmen gesprochen, hieß es vor Gericht. Im November 2015 habe VP-01 in Duisburg auch Anis Amri, den späteren Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, kennengelernt und ihn als potentiell gefährlich eingeschätzt – auch wenn er den Ermittlern damals als Randfigur gegolten habe.

Im Herbst 2015 wurden der V-Person innerhalb weniger Wochen dann auch die Verbindungen der beiden Angeklagten zu Abu Walaa und seiner Hildesheimer Moschee offenbar. Bei einer Reise nach Hildesheim habe VP-01 vom ebenfalls in Celle angeklagten Hildesheimer Mahmoud O. bei einem klandestinen Gespräch im Fitnessraum im Keller der Moschee von verschiedenen Anschlagsplänen erfahren: Mahmoud O. habe über einen »kleinen Bumms« nachgedacht, der sich gegen Polizisten und in Deutschland lebende Iraker richten sollte, die sich gegen den »IS« stellten. Alternativ habe er auf einen »großen Bumms« gehofft – einen Anschlag durch Dritte mit schweren Waffen, wie er im selben Monat in Paris stattfand, den O. dann habe unterstützen wollen. Für die Anschläge hätten 15 Kalaschnikow-Gewehre zum Preis von insgesamt 15.000 Euro erworben werden sollen, und es sei eine Chatgruppe (»Project J«) zur Anschlagsvorbereitung eingerichtet worden, der auch VP-01 angehört habe – O. habe die Terrorpläne jedoch später aufgegeben. VP-01 sei behördlich beauftragt worden, die Waffen unter dem Vorwand eigener Anschlagspläne zu erwerben, doch dazu kam es vor Ende des Einsatzes nicht.

Am 24. Dezember 2015 sei VP-01 gemeinsam in einem Auto mit Anis Amri zum Seminar von Abu Walaa in Hildesheim gefahren. Ursprünglich habe VP-01 sich dem Wunsch Amris, nach Hildesheim gefahren zu werden, zu widersetzen versucht. Doch da in der Szene allgemein bekannt gewesen sei, dass sie über ein Auto und einen Führerschein verfügte, habe sie der Bitte letztlich entsprochen. Die Teilnehmer des Seminars, die aus nahegelegenen Städten wie Göttingen, Kassel, aber auch weiter entfernten Orten wie Bonn angereist seien, seien ihm praktisch durchweg »radikal« erschienen – die meisten von ihnen hätten sogar konkrete Ausreisepläne gehegt.

VP-01 habe ihren Einsatz noch bis zur Festnahme der Angeklagten im November 2016 fortgesetzt und diese schwer belastet. Sowohl Hasan C. als auch Boban S. hätten ihre Bereitschaft signalisiert, Ausreisende finanziell zu unterstützen. Abu Walaa habe Anschläge in Deutschland gutgeheißen, im Sommer 2016 aber dazu geraten, auf einen günstigeren Zeitpunkt zu warten. Erst nach der Festnahme der Beschuldigten wurde VP-01 schließlich abgezogen, nachdem Todesdrohungen aus der salafistischen Szene gegen ihn aufgetaucht waren.

Realistisches Lagebild durch VP-Einsätze?

Der Einsatz von V-Personen wirft zahlreiche Probleme auf.[20] Tragen sie tatsächlich dazu bei, dass die Behörden ein realistisches Bild der Lage erhalten? Und wie wirken sich die Einsätze auf die beobachteten Gruppierungen selbst aus?

Denn nochmal: Eigentlich dient der V-Personen-Einsatz vornehmlich der Beschaffung von Informationen. Diese sind, polizeilich und nachrichtendienstlich ausgewertet, eine wichtige Grundlage nicht nur für die Entscheidungen der Polizei, sondern auch der Regierungen und Parlamente. Zwar ist ein Lagebild wohl stets subjektiv gefärbt – die von V-Personen gelieferten Informationen unterliegen aber besonderen Unwägbarkeiten.

Bereits in der Anwerbungsphase wird die Eignung einer Person im Rahmen eines mehrmonatigen Prozesses daraufhin geprüft, ob diese allgemein als ehrlicher und zuverlässiger Lieferant von Informationen beurteilt werden kann (von den Behörden als Phase der »Forschung« bezeichnet). Dabei stellt sich die Frage, mit welchen Anreizen die konkrete Person gewonnen werden kann: Im Regelfall seien »Geld, Geltungsdrang, […] aber auch enttäuschte Erwartungen hinsichtlich der eigenen Rolle in der Szene« bestimmende Motive.[21] Die Anwerbung einer V-Person setzt grundsätzlich deren Loyalitätsbruch mit dem eigenen Umfeld voraus – insofern kommen freilich vor allem »Enttäuschte, Unzufriedene oder ›Ausgestoßene‹«[22] in Betracht. Positive Anreize wie Geldzahlungen, Lob und Anerkennung mögen zur Lieferung von Informationen motivieren – bergen aber stets auch das Risiko, bewusst irreführende und sensationsheischende Informationen zu erhalten. Das Risiko falscher oder zurückgehaltener Informationen versuchen die Behörden durch die Verwendung ergänzender Quellen einzudämmen.[23] Die Sensibilität des vernehmenden Beamten ist hierbei von außerordentlicher Bedeutung – die Äußerung eines VP-Führers, der VP-01 betreute, mag insofern erstaunen: In den fünfzehn Jahren seiner Tätigkeit habe es keinerlei Fälle gegeben, in denen einer V-Person wegen Unzuverlässigkeit gekündigt worden sei und bezüglich VP-01 habe er zehn Jahre lang nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, dass dieser korrekt und umfassend aussagte. Vor dem Hintergrund, dass V-Personen in der Regel zuallererst durch starke Eigeninteressen zur Zusammenarbeit mit den Behörden motiviert sind, erscheint jedoch ein stetes Hinterfragen der von ihnen gelieferten Informationen als Teil einer analytisch ausgerichteten Behördenkultur sinnvoll – selbst in solchen Fällen, in denen sich die gelieferten Informationen im Einzelnen als wahr herausstellen. Auch eine zeitliche Begrenzung der Betreuung einer V-Person könnte eine kritisch-distanzierte Perspektive des VP-Führers fördern, auch wenn dies sicher den Nachteil hat, dass erst ein neues Vertrauensverhältnis etabliert werden muss. Im Bereich des Verfassungsschutzes besteht in Niedersachsen – etwa im Kontrast zu NRW[24] – inzwischen grundsätzlich eine gesetzliche Begrenzung der Funktion als VP-Führer für eine konkrete V-Person auf fünf Jahre.[25]

Im Fall von VP-01 sind im Gerichtsverfahren, soweit es den Autoren bekannt ist, bisher keine nennenswerten Fehlinformationen aufgedeckt worden. Allerdings erschwerte die fehlende Aussagegenehmigung und das konkrete Vorgehen der nordrhein-westfälischen Behörden beim Einsatz von VP-01 die Aufklärung der Tathergänge für das Gericht und die interessierte Öffentlichkeit. So gibt es ein Nebeneinander verschiedener Akteure: VP-Führer B. schloss vor Gericht nicht aus, dass VP-01 parallel noch für andere Ermittlungen eingesetzt wurde. Außerdem wurden von den Vernehmungsprotokollen häufiger jeweils eine Langfassung und eine gekürzte Version angefertigt, ohne das ersichtlich war, um welche es sich jeweils handelte und welche an »Bedarfsträger« in anderen Behörden weitergegeben wurden. Eine derartige Verfahrenspraxis erschwert jedoch die Aufarbeitung und kritische Evaluierung des Behördenhandelns und das der V-Person erheblich. Viele Details des Einsatzes bleiben im Dunkeln.

Problematischer Einfluss durch V-Personen auf die zu beobachtenden Szenen

Nicht selten führten in der Vergangenheit V-Personen-Einsätze zu einer Förderung der beobachteten Gruppierungen – unter anderem im Rahmen des ersten NPD-Verbotsverfahrens. Der weit ausgedehnte Einsatz von V-Personen in der Parteispitze verursachte letztlich 2003 die Einstellung des Verbotsverfahrens und verhinderte eine Sachentscheidung des Gerichts.[26] Hier führte also der Einsatz von V-Personen, der eigentlich der Aufklärung über eine später vom Bundesverfassungsgericht als »verfassungsfeindlich« eingestufte Partei dienen sollte, dazu, dass der Antrag der Bundesregierung, die Partei zu verbieten, scheiterte. Natürlich ist der V-Personen-Einsatz in politischen Parteien wie der NPD von spezifischen Problemen geprägt. Der allgemeine Gedanke jedoch, dass Passivität nicht Nicht-Intervention bedeutet[27], ist auf die gesamte V-Personen-Praxis übertragbar.

Auch VP-01 leistete eine unterstützende Intervention, indem sie Fahrdienste für die salafistische Szene anbot – nicht zuletzt ermöglichte sie so dem späteren Attentäter Anis Amri die Teilnahme am Seminar bei Abu Walaa. Dies erscheint problematisch, auch wenn es keine Hinweise dafür gibt, dass dieses Seminar mit dem späteren Terroranschlag in einem engeren Zusammenhang stand. Dennoch hatte die Behörde mit »Murat« bewusst einen Führerscheininhaber eingesetzt, weil sie wusste, dass viele Salafisten über keine Fahrerlaubnis verfügten und sich die V-Person mit Fahrdienstleistungen potentiell Sympathien und Informationen verschaffen konnte. Man nahm also eine gewisse Förderung der Vernetzung der Szene in Kauf.

Was Geldzahlungen an V-Personen betrifft, so legen einzelne Fälle nahe, dass jedenfalls in der Vergangenheit erhebliche Zahlungen geflossen sind: So habe die rechtsextreme V-Person Tino Brandt binnen sieben Jahren ihrer Tätigkeit rund 200.000 DM zuzüglich Auslagen erhalten, die auch »der Arbeit der rechten Szene zugute« gekommen seien.[28] Zwar soll zumindest nach den jüngst novellierten Verfassungsschutzgesetzen[29] eine gänzliche finanzielle Abhängigkeit der V-Person vermieden werden – welche Grenzen hier tatsächlich gezogen werden, bleibt mangels öffentlicher Informationen allerdings unklar. Daher ist zu vermuten, dass in der Praxis weiterhin in Einzelfällen hohe Summen an V-Personen gezahlt werden, auch wenn dies bei VP-01 vermutlich nicht der Fall war.

Auch warf ein Zeuge aus der salafistischen Szene VP-01 vor, unverfängliche Gespräche bewusst auf das Thema Waffen gelenkt und somit möglichen Gewalthandlungen Vorschub geleistet zu haben. Im Prozess wurde bekannt, dass es am 8. Oktober 2015 zu einer schriftlichen Präzisierung des Auftrages an die V-Person gekommen sei und er ermahnt wurde, in der Szene nur von eigenen Ausreiseplänen zu berichten, andere aber weder zu Ausreisen zu ermutigen noch ihnen Hilfe für Ausreisen zu vermitteln. Der genaue Hintergrund für diese Anweisung blieb auch vor Gericht unklar.

Ambivalenzen und Kritik

Im Konflikt zu einer strikteren Regelung der Aktivitäten von V-Personen steht der Aspekt, dass einer V-Person ohne Unterstützung der zu beobachtenden Gruppierung ein tiefgehender Einblick in deren Organisationsstrukturen und Entscheidungsprozesse wohl verwehrt würde. Besonders der nachrichtendienstliche Einsatz erscheint insofern ambivalent: Schon der Terminus des »Nachrichtendienstes« impliziert – in Abgrenzung zum Begriff des »Geheimdienstes« – die in der frühen Bundesrepublik begründete Intention einer grundlegenden Abkehr von einer aktiv-intervenierenden Rolle hin zu einem passiv-beobachtenden Aufgabenzuschnitt.[30] V-Personen-Einsätze stehen demnach unausweichlich in einem strukturellen Spannungsverhältnis zum Selbstbild der Nachrichtendienste als »Frühwarnsystem[e]«[31] der wehrhaften Demokratie sowie zu ihrer gesetzlich vorgesehenen Funktion als analysierende Behörden.

Auch Gesetzesänderungen können dieses grundsätzliche Dilemma nicht auflösen. Gleichzeitig lassen sich gute Gründe für rechtspolitische Änderungen anführen. So sollte der Gesetzgeber bei den Einsätzen von V-Personen im Rahmen der Strafverfolgung Klarheit schaffen, insbesondere durch eine präzisere Normierung in der Strafprozessordnung. Zudem erscheint eine gesetzliche Präzisierung und Begrenzung der Zuwendungen an V-Personen der Nachrichtendienste und der Polizei geboten, um zu verhindern, dass der Staat mittelbar zur Finanzierung demokratiefeindlicher Szenen beiträgt.

Des Weiteren lässt sich konstatieren, dass der Fall von VP-01 wohl nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wäre, wenn das Strafverfahren vor Eröffnung des Prozesses eingestellt worden wäre. Daher wäre zusätzlich zu prüfen, ob heikle Einsätze zur Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung – etwa solche mit Terrorismus-Bezug – zumindest im Nachhinein einem kleinen, geheimen parlamentarischen Gremium vorgelegt werden müssen. Eine solche gesetzliche Unterrichtungspflicht könnte dazu führen, dass mögliche Fehlentwicklungen und Probleme nicht nur behördenintern diskutiert werden, sondern frühzeitig parlamentarisch überprüft werden können.

[1] Umgangssprachlich ist auch von »V-Leuten« oder »V-Männern« (seltener »V-Frauen«) die Rede.

[2] Vgl. z.B. Gebauer, Matthias/Röbel, Sven: Geheimakten belegen Chaos beim Berliner LKA, in: Spiegel Online, 19.09.2012, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/nsu-ermittlungen-affaere-um-v-mann-zeigt-chaos-beim-lka-berlin-a-856705.html [eingesehen am 05.09.2018].

[3] Zu den einzelnen Charakteristika vgl. Gazeas, Nikolaos: Übermittlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse an Strafverfolgungsbehörden, Berlin 2014, S. 100–103.

[4] Zum Begriff der menschlichen Quelle vgl. Grumke, Thomas/van Hüllen, Rudolf: Der Verfassungsschutz: Grundlagen. Gegenwart. Perspektiven?, Berlin 2016, S. 154.

[5] Vertiefend zur Abgrenzung, vgl. Dietrich, Jan-Hendrik: Geheime Mitarbeiter der Nachrichtendienste, in: ders./Eiffler, Sven (Hrsg.): Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, Stuttgart 2017, S. 1017–1091, Rn. 13 ff.

[6] Legaldefinition nach § 110a II 1 StPO, im Wesentlichen den Definitionen in § 36a I 1 NSOG sowie § 14 I Nr. 8 NVerfSchG entsprechend.

[7] Vgl. Ellbogen, Klaus: Die verdeckte Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden durch die Zusammenarbeit mit V-Personen und Informanten, Berlin 2004, S. 49.

[8] Unter Nachrichtendiensten sind im Einzelnen zu verstehen: der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfassungsschutzbehörden der Länder.

[9] Exemplarisch seien als Rechtsgrundlagen für Niedersachsen § 14 I 1 Nr. 6 lit. a NVerfSchG und für Nordrhein-Westfalen § 5 II Nr. 1 Alt. 1 VSG NRW genannt.

[10] § 36 I 1 NSOG; § 19 I PolG NRW.

[11] Gemeint sind die §§ 163, 161 StPO. In Niedersachsen ist zudem der Runderlass betreffend der »Richtlinien über die verdeckte Informationsgewinnung im Rahmen der Strafverfolgung« (Nds. MBl. Nr. 18/2008, S. 522–524) zu beachten.

[12] Vgl. Meyer-Goßner, Lutz/Schmitt, Bertram (Bearb.): Strafprozessordnung, München 2018, § 161 Rn. 1; zur Kritik vgl. Roxin, Claus/Schünemann, Bernd: Strafverfahrensrecht, München 2017, § 37 Rn. 16; zur weitergehenden Kritik an der Verfassungsmäßigkeit vgl. Maluga, Gabriele: Ermittlungsbefugnisse durch Rechtsprechung – V-Leute und Lockspitzel, in: Roggan, Fredrik/Kutscha, Martin (Hrsg.): Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, Tübingen 2006, S. 388-402.

[13] Roxin/Schünemann, § 37 Rn. 1.

[14] Vgl. Saipa, Axel: Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Hannover 2013, § 36 Rn. 4 f.

[15] § 15 II Nr. 1 NVerfSchG.

[16] § 16 I 1 Nr. 4 NVerfSchG.

[17] Vgl. Klevesath, Lino: IS vor Gericht: Der Prozess gegen das Netzwerk um ›Abu Walaa‹ am Oberlandesgericht Celle, in: Demokratie-Dialog, H. 2/2018, S. 64–71.

[18] Die folgende Rekonstruktion des Ablaufes des Einsatzes und der Aussagen von VP-01 basiert auf den Mitschriften der Aussagen von zwei der drei zuständigen VP-Führer im Strafprozess am 14.2., 21.2. und 28.2.2018, die Lino Klevesath vor Ort verfolgt hat.

[19] Zwischen den Einsätzen und den Gesprächen lag oft mindestens ein Tag, sodass Erinnerungslücken nicht auszuschließen sind.

[20] Weniger soll an dieser Stelle die allgemeine Grundsatzdebatte im Vordergrund stehen, bei der angesichts der Vielzahl publik gewordener Fehlschläge die Frage aufgeworfen wird, ob die Einsätze angesichts zweifelhafter Nützlichkeit und deren schädlichen Wirkungen nicht ganz unterlassen werden sollten. Als Gegenargument wird stets angeführt, dass der behördliche Zugang zu klandestinen Gruppierungen nicht komplett durch alternative Zugänge wie technische Überwachungsmaßnahmen oder offen zugängliche Quellen ersetzt werden könne. Vgl. Dietrich, Rn. 50 f.

[21] Vgl. ebd., m.w.N.

[22] Ellbogen, S. 47.

[23] Vgl. ebd., S. 48.

[24] Zu der flexiblen gesetzlichen Regelung in NRW vgl. § 7 II 5 NRW VSG.

[25] § 16 III 3 NVerfSchG.

[26] Eine Sperrminorität des Zweiten Senats nahm an, dass der ausufernde V-Personen-Einsatz in der Führungsspitze der Partei ein Verfahrenshindernis darstelle. Die für die Ablehnung des NPD-Antrags auf Verfahrenseinstellung erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat kam nicht zustande, sodass das Verfahren eingestellt werden musste, vgl. BVerfGE 107, 339 <356f.>.

[27] Vgl. BVerfGE 107, 339 <366f.>.

[28] Schäfer, Gerhard et al.: Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des Zwickauer Trios (»Schäfer-I-Gutachten«), Erfurt 2012, Rn. 440. Vgl. auch LT-Drs (Thüringen) 5/8080, Rn. 2044 f.

[29] Vgl. etwa § 9b II Nr. 2 BVerfSchG (Novellierung in 2015) und § 16 I Nr. 3 NVerfSchG (Novellierung in 2016).

[30] Vgl. Dietrich, Rn. 7. Vgl. auch die inzwischen in Niedersachsen bestehende Regelung zur Eindämmung der steuernden Beeinflussung durch V-Personen, § 15 IV NVerfSchG.

[31] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2017, Berlin 2018, S. 16.