Moderne demokratische Gesellschaften werden seit einigen Jahren durch ganz unterschiedliche Entwicklungen ungemein herausgefordert: von der Krise der Volksparteien bis zur Repräsentationskrise der Demokratie und der fortschreitenden Etablierung neuerer Parteien wie der AfD. Während sich in den 2000er Jahren bei den europäischen Nachbarn politische Kräfte rechts der Mitte formierten und teilweise auch in Regierungsverantwortung gelangten, schien die Bundesrepublik ein Fels in der Brandung zu sein – denn hier hatten Parteien rechts der Mitte kaum eine Chance. Inzwischen hat sich diese Situation jedoch geändert; teilweise sprechen Sozialwissenschaftler bereits davon, dass sich die Bundesrepublik mit dieser Entwicklung nun auch im europäischen Vergleich »normalisiert« habe.[1]

Spätestens seit 2014 ist die bundesrepublikanische Gesellschaft mit dem Auftauchen von Pegida in Bewegung geraten und wandelt ihr Gesicht. Neben all den politischen Veränderungen erneuern sich auch die Verhandlungs- und Aushandlungsformen demokratischer Verarbeitungsprozesse. Politik kann immer weniger auf tradierte Lagerbildungen bauen und auf gefestigte Loyalitäten setzen. Stattdessen erleben wir derzeit in ganz unterschiedlichen Formen Tendenzen des gesellschaftlichen Tribalismus, des Auseinanderfallens alteingesessener politischer Lager- und Milieugrenzen und damit eine Ausdifferenzierung des politischen »Marktes«.

Seit den 2010er Jahren vollziehen sich quer zu den tradierten gesellschaftlichen Konfliktlagen, die Sozialwissenschaftler auch als Cleavages bezeichnen, soziokulturelle Umbrüche, die irgendwann von Historikern im Nachhinein als völlig neue Ausprägung von »Krisen« und Spaltungslinien beurteilt werden könnten.[2] Denn derzeit greifen ganz unterschiedliche Entwicklungen ineinander, die in ihrer Emergenz insgesamt die gesellschaftlichen Konfliktlinien verschieben. Zu diesen Trends gehört nicht bloß die Veränderung von Mentalitäten; vielmehr befindet sich das Vertrauen, das Bürger in »die« Politiker setzen, auf einem historischen Tiefstand, auch versprechen sich die Bürger einfach immer weniger von der Politik.

Denn: Der heutige Wähler ist aufgrund von Individualitäts- und Flexibilitätsparadigmen vor allem ein »Kunde« auf dem Wählermarkt. »Der Kunden-Bürger schaut sich in den Regalen des politischen Angebots um, wählt aus, was seine Konsumbedürfnisse rasch und preiswert befriedet.«[3] Ist der Bürger mit seinem gewählten Produkt nicht zufrieden, sucht er sich das nächste Mal eben ein anderes – und beschwert sich. Die historisch tradierten Polster, die Latenzzeit für Politik, der Spielraum für politisches Handeln: All das hat sich verschoben. Die selbstbewusst auftretenden Bürger treten mit einer veränderten Erwartungshaltung an die Politik und fordern eine »sofortige Bedürfnisbefriedigung«[4]. Das mag an und für sich in Nuancen vielleicht nichts Neues sein, galt sicherlich auch schon für die Willy-Brandt-Wähler Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Aber – und hier besteht die Schieflage, die das Problem verschärft –: Politik funktioniert heute anders als vor fünfzig Jahren. Sie ist komplexer geworden, der Aushandlungsspielraum für politische Entscheidungen wesentlich kleiner – was es umso schwieriger macht, die gesteigerten Erwartungen der Bürger an die Politik zu erfüllen.

Diese Tendenzen betreffen freilich auch den politischen Rechtsradikalismus. Denn fraglos haben wir in den vergangenen Jahren ganz unterschiedliche Formen »rechten« Aufbegehrens und der Formierung eines neuen Wutbürgertums erlebt.[5] Die parteipolitische Speerspitze dieses gesellschaftlichen Unbehagens ist derzeit die AfD; sie ist jedoch zugleich auch Ausdruck und Symbol tieferliegender gesellschaftlicher Veränderungen. Doch gilt es bei dieser Diagnose auch zu berücksichtigen: Das Phänomen des politischen Rechtsradikalismus gehört in seiner Grundausprägung als politische Bewusstseinsform – unerheblich, ob man dies nun begrüßt oder nicht – zum Bewusstseinshaushalt moderner Gesellschaften.[6] Der Begriff »Rechtsextremismus« ist aufgrund seiner inflationären Verwendung schwammig. Als Ordnungsbegriff von Sicherheitsbehörden benutzt, meint »Rechtsextremismus« streng genommen die Überschreitung einer »demokratisch« legitimen Grenze, die wiederum an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) festgemacht wird. Der Begriff wird aber teilweise auch als politische Einordnung verwendet, die sich – abgrenzend von der »Extremismustheorie« – nicht an einer solchen Grenzziehung mithilfe der fdGO orientieren will. Je nachdem, wie der Begriff verwendet wird, meint er also Unterschiedliches.

In diesem Kontext interessieren uns weniger die »randständigen« oder »außerhalb« des vermeintlich demokratisch-legitimen oder illegitimen Spektrums liegenden Positionen, sondern die politischen Bewusstseinsformen, die gerade nicht derart eingeordnet werden, deren Definition unsererseits als »rechtsradikal« also der angesprochenen Begriffsdebatte gewissermaßen vorgelagert ist. Daher wird in dieser Arbeit von »Rechtsradikalismus« gesprochen, auch um diesen Unterschied bereits semantisch anzuzeigen. Unter »rechtsradikal« verstehen wir Positionen, die für autoritäre Politik- und Gesellschaftsvorstellungen stehen und dabei tendenziell antiliberal, völkisch, rassistisch und geschichtsrevisionistisch sind. Es gab und gibt stets zumindest kleine Gruppen, die solche politischen Ansichten vertreten, weshalb die Auseinandersetzung damit auch als »never ending story« bezeichnet worden ist.[7] Ganz in diesem Sinne sprachen Scheuch und Klingemann bereits in den 1960er Jahren davon, dass es einen gewissen persistierenden Bodensatz an rechtsradikalen Einstellungen in Gesellschaften gebe, weshalb sie den Rechtsradikalismus auch als eine »normale Pathologie«[8] bezeichneten und betonten, dass es – unabhängig davon, ob man das Phänomen quantitativ beziffern könne – vor allem auf die jeweilige soziokulturelle Konstituierung dieses Bodensatzes ankomme.

Denn diese hat sich im historischen Verlauf bis heute gewandelt, der gesellschaftliche Resonanzraum vergrößert sich. Umso wichtiger ist es aus Sicht von Sozialwissenschaftlern, vor allem die gesellschaftspolitischen Konstituierungsbedingungen und Ausprägungsformen in den Blick zu nehmen, die den potenziellen Hang zur Aktivierung und Verschärfung der latenten Bewusstseinsform des Rechtsradikalismus gewissermaßen begünstigen.[9]

Wie also ist dieser »Bodensatz« verfasst, welche strukturellen und kulturellen Mentalitätsbestände sind wie ausgeformt und welche potenziellen Polster haben sich gegen Krisenerscheinungen ausgebildet, um auch gegen rigorose Agitatoren abfedernd wirken zu können? Diesen Fragen haben wir uns in einer vor Kurzem erschienenen Studie gewidmet, deren Ziel und Vorgehensweise wir in diesem Beitrag vorstellen möchten.[10] Denn von den Antworten auf diese Fragen hängt ab, ob ein politisches Phänomen auch eine dauerhafte Erscheinung wird.

Rechtsradikalismus in Niedersachsen

Diese Gemengelage ist in ihrer Überlagerung unterschiedlicher gesellschaftlicher Phänomene, politischer Tendenzen und kultureller Faktoren ungemein komplex und analytisch kaum sortierbar. Ein Blick auf den Forschungsstand, den wir in unserer Studie sondiert haben, zeigt, dass bezüglich der skizzierten Entwicklungen und Fragen bisher keine zufriedenstellenden Antworten geliefert worden und unzählige Einzelaspekte nach wie vor umstritten sind. Die Ambivalenzen zeigen sich augenfällig auch in Niedersachsen, wo die »Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen« (FoDEx) zur Erforschung der historisch-kulturellen Entwicklung und deren Bedeutung für die Gegenwart ebenjenes Bundeslandes initiiert wurde. Und es gibt inhaltlich gute Gründe, sich genau diese Region näher anzuschauen: Denn Niedersachsen hat eine lange Tradition des politisch erfolgreichen Rechtsradikalismus – gelang doch hier über viele Jahre rechtsradikalen Strukturen, Organisationen und Assoziationen, sich zu vernetzen und ein tief in das kulturelle Leben hineinreichendes Wurzelwerk aufzubauen. Nicht ohne Grund bezeichnete die Historikerin Helga Grebing Niedersachsen einst als »Stammland des Nachkriegsrechtsradikalismus«[11]. Und auch der Historiker Bernd Weisbrod betonte diese kulturellen Bedingungen, habe es in Niedersachsen doch wie in kaum einer anderen Region Deutschlands »erstaunlich konstante […] Hochburgen des Rechtsradikalismus vor und nach 1945«[12] gegeben.

Zwar gibt es diese Performanz heute fraglos nicht mehr; doch bedeutet dies freilich nicht, dass die untergründigen Strukturen, Mechanismen und Verstrickungen sozialer Praktiken kein Nährboden für rechtsradikale Formationen sein und bleiben können – schließlich ist der Erfolg der AfD in seiner gesamten Erscheinung ein Phänomen, das bis vor Kurzem kaum denkbar schien. Und auch die gesellschaftlichen Eruptionen, Dissonanzen und Ambiguitäten, die gerade seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 offenbar werden, hätte man 2010 noch kaum für möglich gehalten.

Freilich: Die verdichteten Momente der Aggressivität und des teils leichtfüßigen Umschlagens in Gewalt finden sich derzeit verstärkt in ostdeutschen Regionen. Aber eben nicht nur. Auch in Niedersachsen stoßen wir auf Anzeichen für potenzielle Hochburgenregionen[13] der AfD, für sich verstetigende Strukturen rechtsradikaler Kräfte, für neue Möglichkeits- und Spielräume rechtsradikaler Demonstrationspolitik, aber auch für vereinzelte eruptive Gewaltausbrüche, wie den Anschlag auf eine Asylunterkunft in Salzhemmendorf im August 2015. Allerdings zählt zu diesen Ambivalenzen eben auch, dass bspw. die AfD auf der einen Seite in bestimmten Regionen elektoral teils erheblich schlechter abschnitt, als die eigentlich günstigen Ausgangsbedingungen erwarten ließen; auf der anderen Seite erzielte sie jedoch in anderen Regionen, unter anderen Voraussetzungen dann auch in Niedersachsen teils überraschend hohe  wie etwa in Salzgitter, Delmenhorst oder Wilhelmshaven.[14]

Diese Diagnose verstärkt grundlegend das Bedürfnis nach tiefergehenden Untersuchungen lokalkultureller Bedingungen, weshalb das Forschungsinteresse über die Zusammenhänge von rechtsradikalem Potenzial in regionalen Kontexten in den letzten Jahren auch deutlich zugenommen hat.[15]

Zugang: Rechtsradikalismus in der politischen Kultur

FoDEx widmet sich diesen Dynamiken zunächst einmal im Kleinen; wir wollten in einem ersten Schritt das weite Feld von Themengebieten und potenziellen  fokussiert auf Niedersachsen – sondieren und grundlegende Voraussetzungen, Bedingungen und Mechanismen sowie Ausdrucksformen rechtsradikalen Potenzials extrapolieren. Unsere Studie ist deshalb in erster Linie eine historische Beschreibung, die wir für zielführend halten, um langfristig an die Tiefendimensionen der Entstehungsbedingungen von politischem Rechtsradikalismus heranzukommen und gesellschaftliche Tendenzen in ihrer Emergenz valide auszuloten – unterliegen diese doch vor allem dem Einfluss politischer, lokaler und medialer Konjunkturen. Langfristig zielt FoDEx darauf ab, die Entwicklung von Einstellungsmustern, Konjunkturen politischer Tendenzen sowie Anknüpfungsmöglichkeiten rechtsradikalen Gedankenguts in lokalen Kontexten wie unter einem Brennglas zu analysieren.[16]

Dazu bedienen wir uns der Methoden des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, die vor allem die Bedeutung der Politischen Kultur für die Konstituierung politischer Phänomene und deren historisch-kritische Einordnung hervorheben. Politische Kultur ist für uns nicht einfach nur ein Erklärungsfaktor unter anderen für Rechtsradikalismus, sondern der gesellschaftliche Austragungsort für Politik überhaupt. Und in diesem Ineinandergreifen unterschiedlicher Prozesse, Entwicklungen und Tendenzen in der politischen Kultur insgesamt können gewisse Dynamiken eine Art Folie und einen Resonanzraum für bestimmte politische Vorstellungen und Bewusstseinsformen bilden oder diese begünstigen. Aus diesem Grund schließen wir uns in unserem Verständnis von Politischer Kultur vor allem Karl Rohe an, der mit seinem Zugang und einem spezifischen Einfühlungsvermögen in geschichtlich-gesellschaftliche Prozesse die Bedeutung von Mentalitäten wie kaum ein anderer geprägt hat.[17]

Rohe versucht, in der Politischen Kultur, im Schnittfeld von Politik und Kultur, in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften auftretende Probleme und Phänomene zu kontextualisieren.[18] Er versteht Politische Kultur als »objektiv-geistiger Strukturzusammenhang«[19], also als das gesamtgesellschaftliche Ineinandergreifen von Sozial- und Deutungskultur. Es geht um die Verbindung von Einstellungen (klassische Soziokultur) mit der übergeordneten, die Einstellungen prägenden Metakultur als neuer Form der Deutungskultur.[20] Karl Rohe betont daher gerade für die Analyse dieser je spezifisch ausdifferenzierten Metakultur die Eigenheiten von Regionen: Jede Region, so Rohe, habe ihre eigene verdichtete Erfahrung, eigene Gewohnheiten, Rituale, Traditionen, also: kulturelle Sinnbezüge. Und daher könne sich für einzelne Regionen auch jeweils eine unbewusste Lebensweise ausprägen, die wiederum auf die Soziokultur rückwirken könne, also als »regionales Residuum« verbleibe oder sich eben auch mit der Zeit aufzulösen vermöge. Rohes Perspektive will dem je spezifischen »Geheimnis«[21] einer Region zumindest näher kommen, um die jeweilige Mentalität zu verstehen; darunter versteht er in Anlehnung an Max Weber eine »mentale Auskristallisierung von Kultur«[22], also die Gesamtheit der Sinnbezüge in der Deutungskultur spezifischer Milieus.

Diese Auffassung von Politischer Kultur unterscheidet sich grundlegend von anderen Ansätzen, da Rohe Kultur in mehreren Dimensionen denkt: Politische Kultur ist statisch und dynamisch zugleich, kann sich unter bestimmten Bedingungen leichtfüßig wandeln, aber ebenso ungemeine kulturelle Beharrungskräfte und Resilienzen besitzen, die polsternd gegen politische Verheißungen wirken können.[23] Genau diesen tieferreichenden Vorstellungsmustern, die unter der Oberfläche messbarer Einstellungen liegen und sich zu einem Sinnzusammenhang verbinden,[24] spüren wir in unserer Studie explorativ zumindest ansatzweise nach und liefern damit einen ersten Aufschlag, der zwar nicht alle Mechanismen, Sinnbezüge und tiefenanalytischen Dynamiken zu erfassen vermag, doch für das genauere Verständnis der Politischen Kulturen erste Besonderheiten, Auffälligkeiten, Zusammenhänge und weitere Forschungsfragen eruiert.

Unser Blick auf die Voraussetzungen und Bedingungen rechtsradikaler Bewusstseinsformen ist somit der Debatte, wie sich rechtsradikale Organisationen, Assoziationen oder Einstellungsmuster analysieren lassen,[25] gewissermaßen vorgelagert – richtet er sich doch auf die Verfasstheit der politischen Kultur, der untergründigen Stimmungen und Mentalitätsbestände als gesamtgesellschaftlicher Nährboden. Denn trotz einer sehr zergliederten Debattenlage ist sich die Forschung zumindest darin einig, dass die Konditionen für die Virulenz des Rechtsradikalismus, aufgrund der Komplexität dieses Phänomens, nicht genau zu bestimmen sind. Es lassen sich lediglich gesellschaftliche Rahmenbedingungen in der politischen Kultur für diese Eruptionen herausarbeiten.[26] Und an diesem Punkt setzt die Politische Kulturforschung an; ihre Analyse ist ein Teilaspekt der Bestimmung von Performanz der heutigen Phänomene.

Um diesen Gedankengang fortzuführen, bedurfte es einer Längsschnittbetrachtung der Entwicklung rechtsradikaler Parteien und Organisationen in Niedersachsen: Der Überblick über die Ambivalenzen der politischen Kultur und das Wechselverhältnis zu rechtsradikalen Assoziationen, Mentalitäten und Bewusstseinsformen sowie Milieustrukturen liefert eine Art Einstieg und historisch-ethnografische Folie als Ausgangspunkt für weiterführende Einordnungen. Im Anschluss an Rohe sind die lokalkulturelle Institutionalisierung und die Performanz von Parteien zuvörderst Kristallisationskerne der jeweiligen soziohistorischen Verfasstheit der politischen Kultur. Durch eine Analyse der Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien in einzelnen Regionen ließ sich ein erstes orientierendes Raster erstellen, das etwas über die Beschaffenheit der jeweiligen regional-lokalen Deutungskultur aussagt. Denn Gruppierungen, Organisationen und Netzwerke sind aufgrund ihrer Artikulationsfunktion primäre Seismografen für bestimmte lebensweltliche Milieus und kulturelle Einstellungsmuster. Ihre Präsenz oder aber auch ihr spezifisch-regionaler Zerfall dient in erster Linie als Anhaltspunkt auf dem Weg zur Identifikation rechtsradikaler Teilkulturen – auch wenn sich die Perspektive an dieser Stelle ihrer analytischen Grenzen bewusst ist[27], denn: Es gibt keinen sozialstrukturellen und keinen historisch-kulturellen Determinismus, stattdessen sind historische Traditionen und Sinnbezüge lediglich »Chancen, die einer Partei zugespielt werden. Mehr nicht.«[28]

Diese Ambivalenzen stellen sich in regionalkulturellen Kontexten teilweise viel deutlicher dar als in großen, überbordenden Betrachtungen.[29] Gerade auch im Bundesland Niedersachsen zeigen sich – so die Quintessenz unserer Studie – »landesspezifische Charakteristika«[30], die zeithistorisch immer wieder unterschiedliche Auswirkungen auf das Ausmaß rechtsradikaler Einstellungsmuster wie auch auf die Strukturen des politischen Rechtsradikalismus hatten.

[1] Vgl. bspw. Gassert, Philipp: Deutschlands Parteiensystem wird normal, in: Die Zeit, 02.11.2018.

[2] Vgl. Inglehart, Ronald F./Norris, Pippa: Trump, Brexit and the Rise of Populism: Economic Have-Nots and Cultural Backlash, Faculty Research Working Paper Series, Harvard 2016, S. 8.

[3] Walter, Franz: Zeiten des Umbruchs? Analysen zur Politik, Stuttgart 2018, S. 10.

[4] Ebd.

[5] Vgl. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016, S. 216 ff.

[6] Vgl. Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1995 [1973], S. 14.

[7] Salzborn, Samuel: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze, Baden-Baden 2014, S. 7.

[8] Scheuch, Erwin K./Klingemann, Hans D.: Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Ortlieb, Heinz-Dietrich/Molitor, Bruno (Hg.): Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Tübingen, Bd. 12 (1967), S. 11–29, hier S. 13.

[9] Die Psychoanalyse sucht im prinzipiell brüchigen Charakter des bürgerlichen Individuums den »seelischen Mechanismus« (Fromm, Erich: Zum Gefühl der Ohnmacht, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 6 (1937), S. 95–119, hier S. 96), also wie das Individuum mit dem »Gefühl der Ohnmacht« umgeht und wie es darauf reagiert. Demgegenüber kann sozialwissenschaftliche Forschung lediglich danach fragen, welche Formen der Deformationen soziokulturell zu dieser potenziellen nicht-individuellen Ohnmacht führen können bzw. vor welchem gesellschaftspolitischen Hintergrund die triebstrukturellen Kränkungen des Individuums in Projektionen, Kompensationen und Rationalisierungsbemühungen umschlagen können; vgl. in diesem Sinne bereits Adorno: Studien zum autoritären Charakter, S. 4, S. 12 u. S. 38.

[10] Bei dem vorliegenden Text handelt es sich überwiegend um Auszüge aus der jüngst erschienenen FoDEx-Studie von Florian Finkbeiner und Katharina Trittel: Traditionslinien des Rechtsradikalismus in der politischen Kultur Niedersachsens.

[11] Grebing, Helga: Niedersachsen vor 40 Jahren. Gesellschaftliche Traditionen und politische Neuordnung, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Jg. 60 (1988), S. 213–227, hier S. 224.

[12] Weisbrod, Bernd: Das 20. Jahrhundert in Niedersachsen. Eine Einführung, in: Ucker, Bernd Ulrich u.a. (Hg.): Niedersächsische Geschichte, Göttingen 1997, S. 497–510, hier S. 502.

[13] Der Begriff »Hochburg« ist inhaltlich vage und analytisch umstritten. Wir verwenden ihn, um Gebiete und Regionen zu beschreiben, in denen eine Partei relativ konstant hohe Wahlerfolge erzielt, organisatorisch vernetzt und lokalkulturell verankert ist.

[14] Vgl. Finkbeiner, Florian: Mächtiges Überraschen. Die Crux des AfD-Erfolges am Beispiel der Landtagswahl in Niedersachsen 2017, in: Demokratie-Dialog, H. 2 (2018), S. 80–86.

[15] Beispielsweise die sogenannte Sozialraumanalyse; vgl. Quent, Matthias/Schulz, Peter: Rechtsextremismus in lokalen Kontexten. Vier vergleichende Fallstudien, Wiesbaden 2015; Luzar, Claudia: Rechtsextremismus im sozialräumlichen Kontext. Viktimisierung durch rechtsextreme Gewalt und raumorientierte Opferberatung, Schwalbach/Ts. 2015.

[16] Vgl. Trittel, Katharina/Micus, Matthias/Marg, Stine/Geiges, Lars: Demokratie-Dialog. Die Arbeit des Instituts für Demokratieforschung im Rahmen der »Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen«, in: Demokratie-Dialog, H. 1 (2017), S. 2–9, hier S. 8 f.

[17] Grundlegend Rohe, Karl: Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung Politischer Kultur-Forschung, in: Berg-Schlosser, Dirk/Schissler, Jakob (Hg.): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 39–48.

[18] Vgl. Rohe, Karl: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven in der Politischen Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift, Bd. 250 (1990), S. 321–346.

[19] Rohe, Karl: Politik. Begriffe und Wirklichkeiten: Eine Einführung in das politische Denken, Stuttgart 1994, S. 162.

[20] Vgl. Rohe, Karl: Wahlen und Wählertradition in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1992, S. 17.

[21] Ebd., S. 11.

[22] Ebd., S. 16.

[23] Lösche und Walter zufolge dürfe das »Milieu« aber auch nicht idealisiert oder mythologisiert werden; vgl. Lösche, Peter/Walter, Franz: Katholiken, Konservative und Liberale: Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 26 (2000), S. 471–492, hier S. 472.

[24] Rohe, Karl: Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, S. 39 f.

[25] Zum Überblick vgl. Stöss, Richard: Forschungs- und Erklärungsansätze – ein Überblick, in: Kowalsky, Wolfgang/Schroeder, Wolfgang (Hg.): Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1994, S. 23–66; Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Schubarth, Wilfried/Stöss, Richard (Hg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn 2000, S. 13–37; Salzborn, Samuel: Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze, 2. Aufl., Baden-Baden 2015.

[26] In der Forschung wurde dieser Zugang vor allem von Dudek und Jaschke geprägt; vgl. Dudek, Peter/Jaschke, Hans-Gerd: Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, 2 Bde., Opladen 1984.

[27] Vgl. grundlegend Franz Walter: Analyse von regionalen Teilkulturen im Zerfall – das Beispiel Sachsen, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 34 (1993), H. 4, S. 674 ff.

[28] Rohe: Wahlen und Wählertradition in Deutschland, S. 182.

[29] Vgl. Weisbrod, Bernd: Region und Zeitgeschichte: Das Beispiel Niedersachsen, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Bd. 68 (1996), S. 91–105.

[30] Nentwig, Teresa/Werwath, Christian: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Politik und Regieren in Niedersachsen, Wiesbaden 2016, S. 15–24, hier S. 18.